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Gastbeitrag / Judith Ascher-Jenull / Freitag 29.10.21

Mikroorganismen: die Architekten von gestern, heute und morgen

Die Mikrobiologie ist faszinierend, universell und visionär. Sie ist nicht nur faszinierend an sich, sondern auch faszinierend vielseitig in ihren Anwendungsmöglichkeiten. Der Mikrobiologie gelingt es zunehmend, wie nur wenigen Wissenschaftsdisziplinen, interdisziplinär und transdisziplinär zu wirken, also abstrakt betrachtet „Mauern einzureißen, Brücken zu schlagen und Mauern zu errichten.“
Foto: J. Ascher-Jenull

Diese Faszination ist den Protagonisten zu verdanken, den Mikroorganismen. Namensgebend und technisch betrachtet sind sie die Kleinsten unter uns, und (meist) nur mit Hilfe eines Mikroskops sichtbar. Um bei der Faszination zu bleiben, wie erstaunlich ist es, dass gerade die Kleinsten „unter uns“ zu den absolut Größten gehören! Das gilt nicht nur in Bezug auf ihre Ubiquität: sie sind nicht an einen Standort gebunden, sie kommen überall vor auf unserem Planeten (und „darüber hinaus“?), und ihre Universalität: sie sind zu (beinah) Allem fähig, sondern auch physisch betrachtet. Tatsächlich ist ein Mikroorganismus das größte Lebewesen auf unserem Erdenrund: ein Pilz, der dunkle Hallimasch (Armillaria ostoyae), mit etwa 9 Quadratkilometer Fläche und einem Gewicht von 900 Tonnen (Oregon, USA). Zum Größenvergleich, das größte und sogar mit freiem Auge erkennbare Bakterium misst 0,75 mm (Thiomargarita namibiensis, „Namibische Schwefelperle“), das größte/schwerste Tier 33 m (Balaenoptera musculus, Blauwal), und der höchste/ voluminöseste lebende Baum 84 m (Sequoiadendron giganteum, „General Sherman Tree“, USA). Der größte Mensch hingegen misst 2,72 m (USA) und „sein“ höchstes Bauwerk 830 m (Burj Khalifa, Dubai).

Wir leben in einer mikrobiellen Welt.

Etwa 78 Prozent aller Lebewesen auf der Erde sind Mikroorganismen. 5 Nonillionen Mikroben leben auf der Welt, etwa 40 Trillionen in unserem Körper. Der Mensch selbst ist als eine symbiontische Lebensgemeinschaft mit Mikroben zu betrachten, eine funktionelle Einheit (Holobiom, 1013 menschliche Zellen plus 1,3 x 1013 Bakterien).

Die Mikroorganismen haben uns den Sauerstoff geliefert, versorgen uns mit alltäglichen „must haves“, (reinem) Wasser und Brot, versüßen uns das Leben mit kulinarischen Highlights und edlen Getränken und helfen uns, all das „zu verdauen“ und daraus „Energie zu schöpfen“. Sie beschützen uns von außen (Hautmikrobiom) und von innen (Mikrobiom des Darmtraktes).

Der belgische Mikrobiologe W. Verstraete formulierte die drei größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts: der Klimawandel, die Energiekrise und das nachhaltige Ressourcenmanagement, und sieht in der angewandten mikrobiellen Ökologie (der Wechselbeziehung zwischen Mikroorganismen und ihrem Umfeld) eine Lösung dieser Super-Challenges.

MIKROORGANISMEN & KUNST/ARCHITEKTUR
„Game-Changer“ & „neue Dimensionen der Formfindung“

Betrachten wir Cyanobakterien, einst Blau-Grün Algen genannt, als Architekten der Vergangenheit (Erdatmosphäre vor 3,7 Billionen Jahren), so können Mikroorganismen als Architekten der Gegenwart (universelle Problemlöser), und speziell Pilze als Architekten der Zukunft angesehen werden, die uns sowohl „optisch“ (Kunst/Architektur) als auch „nachhaltig“ (Architektur) faszinieren und zunehmend faszinieren werden, mit neuen Formen und neuen Materialien (mehr über die gestalterischen Fähigkeiten von Hefepilzen in „Evolutionstreiber Hefe„).

Dieses enorme Potential der Kombination von Mikrobiologie & Kunst/Architektur wird zunehmend erkannt und genutzt, wie z.B. in transdisziplinären universitären Lehrveranstaltungen und Forschungsprojekten zwischen Mikrobiologen und Architekten der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und der Angewandten Wien.

Die Lehrveranstaltung Active Forms of Matter (T. Derme, M. Colletti, Experimentelle Architektur & J. Ascher-Jenull, H. Insam, Mikrobiologie, LFU Innsbruck) widmete sich der neuen Formfindung: Mit Hilfe des Austernseitlings (Pleurotus ostreatus) wurden von Architektur-Studierenden designte Hanfseilprototypen von starren in lebende, lebendige Strukturen verwandelt, mit unvorhersehbarer, faszinierender und dynamischer Formenvielfalt (siehe Slideshow).

Der Austernseitling

Hanfseil-Austernseitling-Prototypen der transdisziplinären Architektur&Mikrobiologie Lehrveranstaltung Active Forms of Matter (T. Derme, J. Ascher-Jenull, LFU Innsbruck)

Vielseitig ...

... in Form und Anwendung

Nahaufnahme der skulpturalen Fruchtkörper, die selbst der Schwerkraft trotzen

Der Austernseitling ist äußerst vielseitig in Form und Anwendung: seine Fruchtkörper faszinieren mit skulpturaler Schönheit und finden auch kulinarisch Anerkennung, während sein Myzel preziöse organische Abfallprodukte (Kaffeesatz, Holzhackschnitzel, etc.) recycelt und somit mit negativem CO2-Abdruck in einen Biowerkstoff der Zukunft verwandelt, mit Materialeigenschaften eines High-Tech Materials: hohes Isolierungspotential, feuerfest, antibakteriell, federleicht, atmungsaktiv und 100 Prozent biologisch abbaubar. Sein pinkfarbener Verwandter, der Flamingo-Seitling (Pleurotus salmoneo-stramineus), durfte sogar die Installation Magic Queen (D. Mitterberger, T. Derme: Studio MAEID – Office for Architecture and Trans-Medial Art, Wien) auf der heurigen Architektur-Biennale in Venedig explorieren.

Ein laufendes künstlerisches Forschungsprojekt Co-Corporeality, geleitet von B. Imhof, D. Mitterberger und T. Derme (Institut für Architektur, Universität für Angewandte Kunst, Wien), in Kollaboration mit dem Institut für Mikrobiologie Innsbruck (J. Ascher-Jenull, C. Garmsiri, H. Insam) und vielen weiteren InterNationalen Partnern, erforscht Schnittstellen – Interfaces – zwischen Bakterien und Mensch. Das FWF-Projekt beschäftigt sich mit Kommunikation zwischen Mensch und lebenden Materialien, mit dem Ziel, eine interaktive Proto-Architektur zu schaffen. Interaktion angeregt durch menschliche Emotionen und Wahrnehmung findet somit über verschiedene Raum- und Zeitskalen hinweg statt. Diese asynchronen Aktionen zwischen Menschen und Bakterien werden durch eine Künstliche-Intelligenz-Schnittstelle vermittelt. Veränderungen in Farbe, Geruch, Bewegung und Wachstum der Bakterien können so wahrgenommen werden.

KUNST als Universalsprache, um auf unsere Super-Challenges aufmerksam zu machen

Die Kunst fasziniert auch durch ihre – ihr eingeräumten – Freiheit. Diese künstlerische Freiheit – auch zur (positiven) Provokation – sollte genutzt werden, um auf gravierende, unser aller Zukunft bestimmende Probleme aufmerksam zu machen. Der Kunst gelingt es auch, mit spektakulären Werken die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Faszination der Mikroorganismen zu lenken, um unsere mikrobielle Welt – in der wir leben – besser zu verstehen und zu respektieren und von ihr für unsere gemeinsame Zukunft zu lernen und zu profitieren.

„Nichts ist möglich ohne sie.  Alles wäre möglich ohne uns“ Zitat H. Insam

MIKROORGANISMEN als GAME-CHANGER

Die Universalgenies Mikroorganismen können nicht nur anthropogene „Wunden heilen“ (z.B. Abfallbeseitigung, Abwasserreinigung), sondern auch „Material für die Zukunft“ liefern: Lebensmittel, Medikamente, Grüne Energie, Biowerkstoffe wie z.B. Pilzmyzel-basierte Werkstoffe und Bioplastik.

Der Advent der molekularen Mikrobiologie (1990ern) hat das Studium der Mikroorganismen der Ökosysteme revolutioniert. Mit den neuen Techniken ist es möglich, auch die nicht kultivierbaren Mikroorganismen – bis zu 90 Prozent – zu studieren und das daraus gewonnene Wissen für die Bewältigung der Drei Super-Challenges einzusetzen.

Wir haben also viele Tools und Trümpfe in der Hand, um uns die Mikroorganismen als Game-Changer zu Nutze zu machen. Es liegt an uns. „Nichts ist möglich ohne sie.  Alles wäre möglich ohne uns“ (Zitat H. Insam).

Dieses Konzept war generell der Fokus der heurigen Architektur-Biennale: How will we live together?

Mikroorganismen haben uns das Leben auf unserem Planeten ermöglicht und haben das Potential, auch als Architekten unserer gemeinsamen Zukunft zu agieren, im Einklang und mit Respekt.

Kurzportrait

Judith Ascher-Jenull ist Univ. Ass., Senior Scientist, am Institut für Mikrobiologie der Universität Innsbruck und wissenschaftliche Projektmitarbeiterin am Institut für Architektur an der Universität für Angewandte Kunst Wien.

Sie absolvierte ihren Master in Mikrobiologie an der Universität Innsbruck, promovierte in Agrarchemie an der Universität Mailand, und arbeitete 15 Jahre als PostDoc-Researcher am Institut für Bodenkunde und Pflanzenernährung an der Universität Florenz. Seit 2014 ist sie Chefredakteurin der Fachzeitschrift Applied Soil Ecology.

Heute liegt ihr Forschungsschwerpunkt in der molekularen Mikrobiologie, um Boden und Totholz – auch im Kontext des Klimawandels – zu untersuchen. Neben Grundlagenforschung mit Fokus auf extrazelluläre Umwelt-DNA und mikrobiellem Ressourcenmanagement gilt ihre Passion der Kombination von Wissenschaft & Kunst, der sie auch in aktuellen Projekten, sowohl an der LFU Innsbruck als auch an der Angewandten Wien, mit InterNationalen Kollaborationspartnern nachgehen darf.

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