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Gastbeitrag / Anna Artaker / Freitag 29.10.21

Wirklichkeit gewebt aus Bildern und Worten

Wir machen Bilder von der Welt, um sie zu begreifen: auf einer grundlegenden Ebene liegt hier der gemeinsame Ursprung von Wissenschaft und Kunst. Statt Bildern schaffen Philosophinnen Begriffe und Theorien, um unsere Realität zu beschreiben. Während wir es in der Philosophie also mit gedanklichen, sprachlich formulierten Inhalten zu tun haben, bedienen sich die bildenden Künste verschiedener Techniken, um Bilder zu erschaffen.
Foto: Matteo Vegetti

Anders gesagt findet bildende Kunst ihren Ausdruck meist in Dingen, die wir mit unseren Sinnen räumlich und körperlich wahrnehmen. Was mich als Künstlerin und Vertreterin der künstlerischen Forschung interessiert, sind die Berührungspunkte zwischen beidem: Wie beeinflussen unsere Worte und Gedanken das, was wir als Realität wahrnehmen? Und umgekehrt: Wie formen Bilder und Gegenstände, die wir mit den Sinnen erfahren, die Begriffe, mit denen wir unsere Wirklichkeit beschreiben?

Diesem komplexen Wechselspiel zwischen Worten und Bildern nähere ich mich über die Zuwendung zu Geschichte: Historikerinnen haben den Anspruch, die Vergangenheit so darzustellen, wie sie tatsächlich gewesen ist, also einer vergangenen Realität gerecht zu werden. Dabei stützen sie sich auf Quellen. Nach einer Definition des Historikers Paul Kirn sind das „Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann“. Auch in der Geschichtsschreibung geht es also darum, sich durch die Beschäftigung mit – historischen – Artefakten ein möglichst wahrheitsgetreues Bild der Wirklichkeit zu machen. Der im Rückblick gewonnene zeitliche Abstand zu einer vergangenen Wirklichkeit ermöglicht jedoch eine bessere Übersicht über das Sichtbare und das Sagbare, aus deren Zusammenspiel „Wirklichkeit“ entsteht. Dieser retrospektive Überblick erleichtert eine Untersuchung dieser Faktoren, die sich wie Schuss und Kette im Webstuhl unserer Wahrnehmung zu dem Stoff verweben, aus dem unsere Realität ist.

Ein Beispiel für das Sichtbarmachen der geschichtlichen Dimension eines konkreten Orts ist mein Kunst-am-Bau Projekt PERSPECTIVA PRACTICA für den Zubau der Universitätsbibliothek in Graz. Vorlage für das Sgraffito ist ein Kupferstich aus dem Perspektive-Lehrbuch Perspectiva Practica Oder Vollständige Anleitung zu der Perspectiv-Reiß-Kunst. Anfang des 17. Jahrhunderts herausgegeben, vermittelt das Lehrbuch das Wissen über die Konstruktion von zentralperspektivischen Darstellungen zur Zeit der Gründung der Grazer Universität im Jahr 1585. Dem Ensemble aus Gründerzeit-Architektur, einem wuchtigen Neubau aus den 1990er-Jahren und der 2019 fertiggestellten, über die historische Fassade hinauskragenden Erweiterung fügt PERSPECTIVA PRACTICA durch die perspektivische Darstellung optisch einen weiteren Raum hinzu. Dank der menschlichen Vorstellungskraft öffnet sich guckkastenartig ein Zimmer in der Fläche. Dieses wird von einer Fackel in der Mitte erleuchtet, die Schatten der Figuren, die sich im Raum rund um die Lichtquelle gruppieren, fallen zentrifugal nach außen. Zwischen der Lichtquelle an der Zimmerdecke und dem Schatten unmittelbar darunter verläuft eine gestrichelte Linie, deren Anfangs- und Endpunkte mit „A“ und „B“ gekennzeichnet sind. Die beiden Buchstaben machen das Motiv als Illustration lesbar, die auf einen Text verweist. So spannt das Bild einen Denkraum auf zwischen Sehen und Lesen, Licht und Schatten, Vergangenheit und Gegenwart.

PERSPECTIVA PRACTICA

Ausgangspunkt ist ein Kupferstich aus dem Perspektive-Lehrbuch Perspectiva Practica oder Vollständige Anleitung zu der Perspectiv-Reiß-Kunst

Das Kunst-am-Bau Projekt PERSPECTIVA PRACTICA wurde für den Zubau der Universitätsbibliothek in Graz realisiert

Dank der perspektivischen Darstellung eröffnet sich der Vorstellungskraft ein guckkastenartiges Zimmer

Das Bild spannt einen Denkraum auf zwischen Sehen und Lesen, Licht und Schatten, Vergangenheit und Gegenwart

OUTSIDE | INSIDE im Congress Centrum Alpbach reproduzierte die Namen aus den Programmheften aus 75 Jahren. Vor- und Nachnamen dieser insgesamt mehr als 16.000 Personen waren in chronologischer Reihenfolge auf die Glasfassaden des Congress Centrums geschrieben, wobei die Namen der Frauen anders als die ihrer männlichen Kollegen behandelt wurden. Jahreszahlen und Frauennamen waren fett gedruckt und von außen zu lesen, Männernamen dagegen vom Inneren des Gebäudes aus lesbar. Auf dem Glas waren zwar alle Namen sichtbar aber eben nicht unbedingt lesbar: Textspalten mit Frauennamen und/oder Jahreszahlen mischten zwei Leserichtungen, je nach dem Standpunkt der Betrachterin war also eine der beiden Gruppen spiegelverkehrt. Diese Anordnung machte anschaulich, dass Frauen bis in die 2000er Jahre nur ausnahmsweise als Vortragende nach Alpbach eingeladen wurden: unter den fast 16.500 Namen bezeichneten etwas mehr als 3.300 Frauen, d.h. die überwiegende Mehrheit davon waren Männer – obwohl Frauen nicht nur für den wichtigen Netzwerkcharakter des Europäischen Forums Alpbach eine zentrale Rolle spielten. Die geschlechterspezifisch unterschiedliche Leserichtung betonte zugleich die Position der Lesenden, die sich entweder draußen oder im Inneren des Centrums, sozusagen im inneren Zirkel der Macht, befanden.

OUTSIDE | INSIDE

Die Arbeit nannte Personen, die in den fünfundsiebzig Jahren des Europäischen Forums Alpbach namentlich im Programm vorkommen

Vor- und Nachnamen dieser mehr als 16.000 Personen waren auf die Glasfassaden des Congress Centrums geschrieben

Frauennamen waren fett gesetzt und von außen zu lesen. Männernamen waren dagegen vom Inneren des Gebäudes aus lesbar

Die Präsentation von OUTSIDE | INSIDE und PERSPECTIVA PRACTICA als Beispiele für künstlerische Forschung wirft auch die Frage auf, inwiefern es sich dabei um Forschung handelt? Darauf ließe sich philosophisch mit einer Gegenfrage antworten, nämlich: Was genau ist denn unter „Forschung“ zu verstehen? Davon hängt auch ab, ob die Philosophie im Sinne einer Wissenschaft „forschen“ kann, was historisch gesehen immer wieder in Zweifel gezogen wird. Nicht zuletzt fragt künstlerische Forschung auch: Was ist Kunst? Aus meiner Sicht ist keine dieser Fragen abschließend zu beantworten. Trotzdem lässt sich künstlerische Forschung als eine Tätigkeit beschreiben, die konkrete Antworten auf all diese Fragen formuliert. Diese helfen uns, die Welt, in der wir leben, zu begreifen.

Kurzportrait

Anna Artaker, geb 1976 in Wien, ist Künstlerin und derzeit Elise-Richter-Research-Fellow an der Akademie der bildenden Künste Wien. Ihre Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und werden international ausgestellt. Artaker ist Mitglied der Jungen Akademie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, wo künstlerische Forschung erstmals durch sie vertreten wird.

In ihren Werken untersucht Anna Artaker die Rolle, die Bilder dabei spielen, wie wir unsere Welt wahrnehmen. Zur Erforschung der realitätsstiftenden Funktion von Bildern arbeitet sie unter anderem mit Found Footage sowie mit verschiedenen, oft in anderen Wissenschaftsdisziplinen gängigen (Bild-)Medien und umkreist so den gemeinsamen Ursprung von Kunst und Wissenschaft.

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