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Mehr zum Thema / Anna Riedler / Dienstag 23.08.22

Baustellen des Erinnerns

Seit den 1980ern erlebt die Beschäftigung mit Erinnerung als einem gesellschaftlich relevanten Phänomen eine regelrechte Blütezeit. Dieser sogenannte Memory Boom führt dazu, dass immer mehr Erinnerungen zur Verfügung stehen. Die Shoah werde dennoch auch in Zukunft nicht an Bedeutung verlieren und ein Ereignis bleiben, an das sich Menschen erinnern, ist sich Peter Pirker sicher.
Foto: APA/Neubauer Außenfassade des Heeresgeschichtlichen Museums Wien

Wieso es im Gegenteil nach über achtzig Jahren noch Erinnerungslücken diesbezüglich gibt, hat der Historiker vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck im Gespräch mit APA-Science geklärt.

„Whoever says memory, says Shoah“, beginnt Historiker Jay Winter 2001 seine Arbeit über den „Memory Boom in der Zeitgeschichtswissenschaft“ [Anm.: engl. ‚The memory boom in contemporary historical studies‘] mit dem Zitat eines französischen Historikers. Und tatsächlich, vom Geschichtsunterricht über die Kinoleinwand scheinen die Erinnerung an den zweiten Weltkrieg und die damit verbundenen Gräueltaten an Juden und Jüdinnen fast schon allgegenwärtig. So allgegenwärtig, dass sich 2005 die UniversitätsprofessorInnen Eric Langenbacher und Friederike Eigler die Frage stellten, ob in Deutschland nicht statt eines „Memory Booms“ allmählich eine „Memory Fatigue“, also eine Erinnerungsmüdigkeit zum Vorschein käme.

Spätes Erinnern

Während in anderen Teilen der Welt also die Shoah schon lange Teil der Erinnerungskultur war beziehungsweise diesbezüglich sogar Überdrüssigkeit geortet wurde, kamen die Erinnerung daran sowie ihre Aufarbeitung Anfang des neuen Jahrtausends gerade erst nach Österreich. Der hebräische Begriff Shoah bedeutet „die Katastrophe“ und wird oft synonymisch zu „Holocaust“ verwendet. Bezeichnet wird damit der nationalsozialistische Völkermord an Millionen europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs.

Das „In-den-Vordergrund-Rücken der Erinnerung an die Shoah, also an den Holocaust und die Ermordung europäischer Jüdinnen und Juden durch das NS-Regime, ist in Österreich im Grunde erst in den 2000er Jahren passiert“, erklärt der Historiker. Österreich hinke den USA und Deutschland um zehn bis fünfzehn Jahre hinterher.

Entwicklung von unten

 

Angestoßen wurde diese Entwicklung durch Forschung, in deren Rahmen die Namen der Ermordeten eruiert wurden. „Das war die Grundlage dafür, dass neue Erinnerungsinitiativen aus der Gesellschaft heraus entstanden sind, angetrieben von Angehörigen der Opfer, die auf der ganzen Welt leben. Sie haben einen wesentlichen Impuls dafür gegeben, dass die Erinnerung an die Opfer wieder in die gesellschaftliche Mitte zurückgeholt wird, nämlich dorthin, wo sie gelebt haben, als die Verfolgungen begannen.“ Erinnerungszeichen wie die Stolpersteine des Künstlers Gunther Demnik folgten. „So hat sich von unten eine Erinnerungskultur entwickelt, die die Erinnerung an die Opfer der Shoah in den Vordergrund rückte.“

Was folgte, war ein regelrechter „Memory Boom“, übersetzt ein Aufschwung der Erinnerung. Während der Begriff im amerikanischen Raum bereits Mitte der 80er Jahre verwendet wurde, dauerte es noch bis Anfang der 2000er, bis er sich in Österreich durchsetzte. Grund dafür, so Pirker, war die lange Dominanz der „heroischen Erinnerungskultur der Wehrmachtsveteranen und ihrer Organisationen bis in die 1990er Jahre.“

Spät aber doch kam der „Memory Boom“ schließlich aber auch nach Österreich. Mit dem Begriff wird ein Anstieg der Bedeutung des sichtbaren Erinnerns bezeichnet. Eines der Projekte, die im Rahmen dieser Hochkonjunktur entstanden, war 2018 eine „digitale Karte der Erinnerung“, an deren Entwicklung Peter Pirker beteiligt war.  Auf ihr sind alle seit 1945 errichteten Denkmäler, Gedenkräume, Gedenktafeln, Ausstellungen, etc. verzeichnet, zu allen Erinnerungsteilen können kurze Texte, Fotos sowie Quellen aufgerufen werden. Außerdem gibt es mittlerweile auch eine englischsprachige Version der Karte, deren Zugang stärker analytisch ist, so Pirker.  Die Erinnerungszeichen lassen sich nach zeitlichen, sozialen und topographischen Kriterien abfragen und auszählen.

„Es gibt viele digitale Erinnerungsprojekte in den letzten Jahren, aber die POREM-Karte war die erste, die versucht hat, eine urbane Metropole als Erinnerungsraum zu erfassen und alle Erinnerungsquellen zum Nationalsozialismus anzuführen, das gab es bis dahin noch nicht.“ Mittlerweile wurde der Gedanke aufgegriffen, unter anderem von der Universität Graz. Im Rahmen des Projekts DERLA  ist eine österreichweite Karte der Erinnerung in Arbeit, die eine Darstellung aller Erinnerungszeichen mit einer tiefergehenden Darstellung sowie Lernmaterialien kombinieren soll.

Das Gedächtnis hat Hochsaison, immer mehr kommt zu Tage, weitere Gräueltaten und Katastrophenereignisse rücken nach. Dennoch, so Pirker, war „die Vernichtung der europäischen Juden ein Ereignis, das ein Zivilisationsbruch gewesen ist und wird auch in Zukunft ein Ereignis bleiben, an das sich Menschen erinnern werden.“ Die Shoah werde diese Aufmerksamkeit auch nicht an nachkommende Ereignisse verlieren, „und das soll auch nicht sein. Die Aufmerksamkeit darf nicht verloren gehen, egal welche anderen historischen Gewalttaten zu betrachten sind, mit denen man sich natürlich auseinandersetzen muss – ich denke nicht, dass sie in Konkurrenz zueinander gesehen werden sollen.“

Noch nicht alles aufgearbeitet

 

Außerdem sei noch längst nicht alles im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg aufgearbeitet. „Das entscheidende sind die Erinnerungsbedürfnisse der Menschen. Wenn versucht wird, diese Erinnerungsbedürfnisse umzusetzen, dann hängt das stark davon ab, ob diese Initiativen politische und gesellschaftliche Unterstützung finden. Das führt aber auch dazu, dass andere Aspekte der Erinnerungskultur weniger unterstützt werden, beziehungsweise, dass es Lücken in der Erinnerungskultur gibt, die weniger intensiv bearbeitet werden – obwohl es notwendig wäre, das zu tun.“

 

Denn obschon es viele Orte des „repräsentativen Gedenkens“ gebe, wo die Politik zeigen könne, dass sie historische Verantwortung übernimmt, verweist Pirker etwa auf die Namensmauer im Ostarrichi Park im neunten Wiener Gemeindebezirk, gebe es nach wie vor „keinen Ort der reflexiven Tätergesellschaft. Das ist ein Manko, das nach wie vor im Vergleich zu anderen Städten in Europa besteht.“ Welche Form dieser Ort annehmen soll, ob Museum, Denkmal oder Dauerausstellung, sei eine andere Frage.

 

Baustelle Heeresgeschichtliches Museum

Und eine weitere „Baustelle der Erinnerungskultur“ ortet Pirker in Wien: das vielkritisierte Heeresgeschichtliche Museum. Der zweite Weltkrieg werde hier in einer „antiquierten Dauerausstellung“ dargestellt, die Shoah aber völlig ausgeblendet. Das Museum müsse neu aufgestellt werden, weg von einer „antiquierten Traditionspflege hin zu einer reflexiven Auseinandersetzung mit der Kriegsgeschichte Österreichs. Da gibt es wirklich viel zu tun.“

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