apa.at
Mehr zum Thema / Mario Wasserfaller / Dienstag 23.08.22

23. August – Ein „toter“ Gedenktag an die Opfer des Totalitarismus

Während der 27. Jänner mittlerweile ein international anerkannter Gedenktag für die Opfer des Holocaust ist, fristet der 2009 auf Betreiben ostmitteleuropäischer Länder eingeführte "Europäische Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus" am 23. August ein Schattendasein. Laut der Historikerin Heidemarie Uhl offenbart sich darin die Problematik historischer Vergleiche und unterschiedlicher Gedenkkulturen innerhalb Europas.
Foto: Liljana Radonic

Anlässlich des 60. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Jahr 1945 erklärten die Vereinten Nationen 2005 den 27. Jänner zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“. Ein symbolträchtiges Datum im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg steht auch hinter dem europäischen „Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nazismus“. Am 23. August 1939 unterzeichneten der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrop und sein sowjetischer Amtskollege Wjatscheslaw Molotow den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt. Dieses auch Hitler-Stalin-Pakt genannte Abkommen teilte Ost-Europa zwischen der sowjetischen und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft auf. Damit war der Weg für den nationalsozialistischen Angriffskrieg geebnet. Kurz darauf, am 1. September 1939, startete Hitler den Überfall auf Polen, der Zweite Weltkrieg begann.

Im April 2009 nahm das EU-Parlament mit 553 Ja-, 44 Nein-Stimmen und 33 Enthaltungen die Resolution für die Bestimmung dieses Tages als europäischem Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nazismus an. In der Praxis wird der Tag aber bis heute nur in wenigen osteuropäischen Ländern begangen, im Westen ist er weitgehend unterhalb der Wahrnehmungsgrenze angesiedelt. „Im westlichen Europa ist der 23. August ein toter Gedenktag. Ich weiß nicht, ob ein Prozent der Österreicherinnen und Österreicher eine Antwort darauf geben könnte, was es mit dem Tag auf sich hat“, sagte die Historikerin Heidemarie Uhl zu APA-Science.

Misstöne und Kritik

Der neue Gedenktag war von Beginn an von Misstönen und Kritik begleitet. Der israelische Holocaustforscher Yehuda Bauer sah etwa in der Gleichsetzung der beiden Regime eine Trivialisierung und Relativierung des Holocaust. Für Uhl, die an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und als Lehrbeauftragte an der Universität Wien tätig ist, stellt sich über das Problem der Vergleichbarkeit hinaus die Frage nach den geschichtspolitischen Zielsetzungen dieses Gedenktags: Geht es darum, die ohnehin erst vor kurzem erkämpfte Anerkennung des Holocaust als einzigartigem Zivilisationsbruch in der europäischen Geschichte zu relativieren?

Dessen ungeachtet bekräftigte das Europäische Parlament in seiner Entschließung „zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas“ vom September 2019 die Bedeutung des Gedenktags und forderte alle Mitgliedsstaaten auf, den 23. August als nationalen und unionsweiten Gedenktag zu begehen. Der Aufruf stieß auf scharfe Kritik von Überlebenden- und KZ-Verbänden.

"In der Geschichtspolitik sind der 23. August und der 27. Jänner wirklich Antipoden, was damit verbundene Interessen, Intentionen und Befindlichkeiten betrifft." Heidemarie Uhl, Historikerin

Doch damit nicht genug. Auch die nationalen Interpretationen des Gedenktags im Vergleich mit dem Holocaust-Gedenken würden gravierende Unterschiede zwischen Ost und West offenbaren (siehe dazu auch den Gastbeitrag „Gedenktage – wozu?„). „Der 23. August steht im Zeichen nationaler Opferthesen und der Zurückweisung jeder gesellschaftlichen Verantwortung für die kommunistische Diktatur im eigenen Land, während das Holocaust-Gedenken in der Idee genau das Gegenteil ist“, so die Historikerin. „In der Geschichtspolitik sind der 23. August und der 27. Jänner wirklich Antipoden, was damit verbundene Interessen, Intentionen und Befindlichkeiten betrifft.“ Es würden sich hier unterschiedliche Gedenkkulturen in Europa zeigen, in denen sich die Grenzen des Eisernen Vorhangs reproduzieren: „Hier kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung, dort quasi jedes Negieren von Verantwortung. Alle Motive eines Opfermythos, also das unschuldige Volk einerseits, die bösen Invasoren von außen andererseits, sind verbunden mit dem 23. August.“

Konjunkturen und Befindlichkeiten

Allgemein sei Gedenkkultur immer auch von Konjunkturen, Erinnerungsbedürfnissen und Befindlichkeiten geprägt. Warum etwa das Gedenken an den Holocaust in den 1990er-Jahren so eingeschlagen habe, „nachdem es jahrzehntelang praktisch keine Rolle gespielt hat“, ist für die Wissenschafterin erklärungsbedürftig und eine Frage, die auch zukünftige Historikerinnen und Historiker beschäftigen werde.

Ein wichtiger Kritikpunkt am Gedenktag 23. August ist die damit verbundene Absicht, Nationalsozialismus und Kommunismus gleichzusetzen – und die Unterschiede zwischen den beiden totalitären Regimen zu leugnen. „Unzulässige Vergleiche haben immer wieder geschichtspolitische Konflikte ausgelöst“, so Uhl. Der vielfach umstrittene historische Vergleich hat mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine jedoch neue Aktualität gewonnen (Hinweis: Am 6./7. Oktober findet zum Thema die Tagung „Der historische Vergleich. Erkenntnisgewinn und Kampfzone“ an der ÖAW in Wien statt).

Appeasement stoppt Diktatoren nicht

Die Frage, wie die europäischen Staaten in historisch vergleichbaren Situationen gehandelt haben, bewegt derzeit nicht nur Fachleute. Der Krieg in der Ukraine verändert auch den Blick auf historische Ereignisse. Insofern könne Lernen aus der Geschichte auch etwas ganz Neues heißen, sagt Uhl in Anspielung auf die Appeasement-Politik britischer Politiker gegenüber Hitler in den 1930er-Jahren: „Das ist jetzt sozusagen in unseren Köpfen: Wenn man einem Diktator auch nur einen Schritt entgegenkommt, dann wird ihn das nie und nimmer stoppen, ganz im Gegenteil.“Dass Geschichte nicht statisch bleibt, sondern einer ständigen Neuinterpretation unterliegt, zeigt sich auch in aktuellen Diskussionen um – meist antisemitisch – belastete Straßennamen und Denkmäler. Die andauernde Debatte um das Karl-Lueger-Denkmal in Wien findet Uhl „intensiv und sehr interessant“, und man könne viel davon lernen: „Zum Beispiel stellt sich die große Frage: Wer bestimmt über den öffentlichen Raum?“ Spannend sei vor allem der Prozess, aus den Standpunkten unterschiedlicher Gruppen einen Kompromiss zu formen.

Debatte um Lueger-Denkmal

 

Vor einigen Monaten hatte die Stadt Wien entschieden, das umstrittene Lueger-Denkmal an der Ringstraße dauerhaft künstlerisch zu kontextualisieren. 2023 will man mit der Umsetzung eines entsprechenden Konzeptes beginnen.

 

Bis dahin setzt man auf eine temporäre künstlerische Intervention am 1926 für den früheren Bürgermeister und Antisemiten Lueger (1844-1910) errichteten Denkmal.

 

Für die permanente Kontextualisierung soll es im Herbst einen geladenen Wettbewerb mit 15 Künstlerinnen und Künstlern zur permanenten Kontextualisierung geben. Der Wettbewerb wird von KÖR (Kunst im öffentlichen Raum) organisiert, einer von der Stadt Wien eingerichteten Initiative, und mit einem Budget von 500.000 Euro ausgestattet.

 

Hierfür erarbeitet zunächst eine Kommission die inhaltlichen Rahmenbedingungen, wobei Heidemarie Uhl den Vorsitz des Gremiums führt, dem unter anderen auch Zeitgeschichtler Oliver Rathkolb angehört.

Im Allgemeinen erkennt die Historikerin eine Diskrepanz zwischen der zeitgenössischen Erinnerungs- und Gedenkkultur und den Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft. Gedenkkultur wurde in den letzten Jahrzehnten zum Ausdruck kollektiver Identitäten und gesellschaftlicher Werte – vor dem Hintergrund des Zerfalls des Fortschrittsdenkens der Moderne und der großen Ideologien, die seit dem 19. Jahrhundert das Denken über die Gegenwart und Zukunft von Gesellschaften bestimmt haben.

In den 1990er Jahren endete das Zeitalter der großen Erzählungen, zugleich beginnt eine neue Epoche, in der Identität und Gedächtnis zu Leitbegriffen werden. Zugleich sei die Geschichtswissenschaft durch die „konstruktivistische Wende“ revolutioniert worden. Es ging nun darum, vermeintlich festgefügte Identitäten – Nation, Tradition, Ethnizität, Geschlecht – in Frage zu stellen und zu dekonstruieren, nach dem Motto: „Die Geschichte“ gibt es nicht, auch Historiker:innen können nicht die Vergangenheit als solche darstellen.

Gegenwärtig sieht Uhl die Tendenz zu einem neuen Realismus. Und zwar davon ausgehend, „dass man nicht nur Konstruktionen von Geschichte lesen will, sondern auch neue  Formen des Erzählens von Geschichte.“ Geschichte könne aber nur vor dem Hintergrund einer konstruktivistisch fundierten Selbstreflexion neu erzählt werden. Also dass man sich immer explizit oder implizit die Frage stellt: „Von welcher Position aus spreche ich – und diese Position ist natürlich auch immer eine von vielen.“

Stichwörter