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Mehr zum Thema / Mario Wasserfaller / Donnerstag 10.06.21

Die fast normale Schule

Nach vielen Monaten Fern- und Schichtbetrieb ist mit dem Präsenzunterricht wieder Leben in die Schulen eingekehrt. “Normal” ist während der Pandemie wenig geblieben. Lernverhalten, -motivation und Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler haben sich mitunter stark verändert. Die bis jetzt gewonnenen Erfahrungen offenbaren für Experten ein Bildungssystem mit Aufholbedarf, sie eröffnen aber auch eine Chance für eine digitale Revolution des Unterrichts.
Foto: APA/dpa

Aus bisher verfügbaren Untersuchungen lässt sich bereits ein recht umfassendes Bild der Konsequenzen von Lockdowns und Homeschooling seit dem Frühjahr 2020 zeichnen. Etwa hat eine von Wiener Forschenden geleitete Befragung von mehr als 25.000 Jugendlichen zum Thema “Lernen unter Covid-19-Bedingungen” in den acht untersuchten Ländern erstaunlich ähnliche Ergebnisse gebracht. Beteiligt haben sich mehr als 19.000 Schüler aus Österreich, dazu kamen noch Teilnehmer aus Zypern, Finnland, Deutschland, Indien, Nordmazedonien, Polen und den USA, allerdings in jeweils deutlich geringerer Zahl.

Kernaussage der ersten Welle der Online-Befragung, die ein Forschungsteam der Fakultät für Psychologie um Barbara Schober, Marko Lüftenegger, Christiane Spiel und Julia Holzer von April bis Juni 2020 durchgeführt hat: Hatten es Jugendliche mit für sie persönlich zum größten Teil schaffbaren Distance Learning-Aufgaben zu tun und fühlten sie sich trotz der Umstände in den Lockdowns mit anderen verbunden, litten Lernmotivation und -engagement nicht zu stark. Die vielfach neu erlebte Autonomie hob das Wohlbefinden in der Covid-19-bedingten Ausnahmesituation allerdings weniger.

Fähigkeit, mit Autonomie umzugehen

Dass sich die positiven Effekte der erlebten Autonomie in Grenzen gehalten haben, illustriere, „dass man damit auch umgehen können muss“, sagte Holzer, Erstautorin der im Fachmagazin „PLOS One“ erschienenen Arbeit, zur APA. Hat man plötzlich neue, sehr ungewohnte Gestaltungsspielräume „ist es wenig verwunderlich, dass das nicht zu höherer Motivation geführt hat“. Insgesamt zeige sich auch in anderen Studien, wie wichtig die Fähigkeit ist, mit Autonomie sinnvoll umzugehen. Die Wissenschafter sprechen hier von der Fähigkeit zum selbstorganisierten Lernen, die in den Lockdowns stark zum Tragen kam.

Die Ergebnisse der aktuellen Untersuchung würden zeigen, dass man im Distance Learning vor allem auf einigermaßen individualisiert schaffbare Aufgaben setzen sollte. Im besten Fall seien dies Arbeitsaufträge, die den jeweiligen Schüler weder krass unterfordern, noch überfordern. Diese „Gratwanderung“ sei natürlich für Lehrer sehr schwer zu schaffen.

Lernen unter Covid-19-Bedingungen – Adaption an Homelearning

Im Zuge der vierten Runde der Studie (Stand 6. Dezember 2020) gaben etwa 80 Prozent der Befragten an, dass ihnen die Aufgaben im Homelearning gleich gut oder besser gelangen als in der ersten Phase im Frühjahr (besser: 20,8 Prozent; etwas besser: 15,8 Prozent; gleich gut: 42,9 Prozent). 18,7 Prozent gelangen sie schlechter (etwas schlechter: 8,7 Prozent; schlechter: 10,0 Prozent). 1,8 Prozent konnten keine Angaben zu dieser Veränderung machen.

Ein weiterer Befund: Je älter die Befragten waren, desto eher berichteten sie von Verschlechterungen. Dies treffe auch auf die Lernmotivation zu, so die Forscher. Oberstufenschüler berichteten fast doppelt so oft von Verschlechterungen ihrer Lernfreude im Vergleich zur ersten Homelearning-Phase wie Pflichtschüler. Konkret wurden häufig gestiegener Leistungsdruck und Belastung durch viele Stunden vor dem PC genannt, vor allem aufgrund des höheren Anteils an Videokonferenzen im Vergleich zum Frühjahr. Für viele war es schwieriger, die Motivation für die Erledigung ihrer Schulaufgaben aufzubringen. Zudem stellte sich die Ungewissheit über die Rückkehr in die Schule als belastend heraus.

Quelle und weitere Informationen: http://go.apa.at/INVl3xu6

Soziale Dimension

Wie gut Distance Learning in der Praxis funktioniert, hat für Jakob Calice, Geschäftsführer der Innovationsstiftung für Bildung (ISB) und des OeAD (Österreichs Agentur für Bildung und Internationalisierung), vor allem eine soziale Dimension. Benachteiligt seien Schüler mit sozial schwächerem Hintergrund, “die in kleineren Wohnungen wohnen, die nicht die nötige technische Ausstattung haben und deren Eltern sich nicht genügend kümmern können“. Eine besondere Herausforderung beim Lernen auf Distanz sei die Betreuung von noch sehr jungen Kindern, während es bei älteren die größten Potenziale gebe.

Wobei interessant sei, dass laut jüngsten Studien wie jener des Bildungsforschers Christoph Helm von der Universität Linz die Lerneinbußen offenbar weit weniger dramatisch waren als häufig befürchtet. Helm hat erste großangelegte Studien aus den deutschen Bundesländern Hamburg, Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen sowie der deutschsprachigen Schweiz mit insgesamt 142.000 Schülern analysiert, in denen die Leistungen in Deutsch, Lesen und/oder Mathematik untersucht wurden.

Dabei hätten sich entweder keine oder nur schwache Unterschiede etwa von vier Wochen Lernzuwachs zwischen den Leistungen der Schüler vor und während bzw. nach den Corona-Beschränkungen gezeigt. „Es konnten jedenfalls keine dramatischen Einbußen in den untersuchten Kompetenzen durch coronabedingte Veränderungen im Unterrichtsgeschehen festgemacht werden”, sagte Helm über seine Analyse, die einen Vergleich der Lernentwicklung der Schülerkohorte von 2020 mit jener früherer Jahrgänge aufzeigt.

Homeschooling mit Zukunft

Überraschungen hielt laut Calice auch eine von der Innovationsstiftung in Auftrag gegebene OGM-Umfrage parat, deren Ergebnisse im Februar präsentiert wurden: “Zwei Drittel der Befragten sagten, Homeschooling wird auch in Zukunft eine Rolle spielen.” Man könne sich zwar fragen, welche Relevanz Homeschooling nach der Öffnung der Schulen noch spielen werde, aber unabhängig davon erkennt Calice vor allem im ortsunabhängigen Unterricht Potenzial für die Zukunft: “Lernen auf Distanz ist nicht unbedingt nur als Homeschooling, also Lernen von zu Hause aus, zu sehen, sondern Distanzen ganz generell zu überwinden.“

 

Als Beispiel führt er die Wirtschaftsakademie Waldviertel an, eine auf die vier Standorte Gmünd, Horn, Waidhofen/Thaya und Zwettl verteilte Bundes-HAK. Im Zuge der Coronakrise habe man die bisher Standort-spezifischen Schwerpunkte kurzerhand über die Standorte hinweg organisiert. Ein Modell, das nun über die Pandemie hinaus beibehalten werde.

Beispiele wie dieses – oder etwa das Avatar-Projekt – würden zeigen, dass sich durch die Krise allen Nachteilen zum Trotz nun die Chance zu echter digitaler Innovation im Unterricht ergebe. Nach dem Corona-bedingten, erzwungenen Notprogramm an den Schulen seien Lernplattformen wie “SchoolFox” nach anfänglichen Schwierigkeiten mittlerweile ganz normal geworden. “Mein Eindruck ist aber, dass es noch an der Systematisierung hapert, mehr als an irgendetwas anderem”, so der Fachmann.

Plattformen und Ausschreibungen

Seitens der Innovationsstiftung reagierte man auf die Pandemie von deren Beginn an im Frühjahr 2020. Als erster Schritt wurde laut Calice die Plattform weiterlernen.at aufgebaut und finanziert. Partner der Initiative ist das Bildungsministerium, Förderungen wurden von der ISB bereitgestellt, die operative Abwicklung übernahm das Sozialunternehmen talentify. Gemeinsam mit weiteren Partnern werden dabei zum Beispiel die Aufbereitung und Verteilung von gespendeten Computern organisiert und Buddy-Programme installiert, bei denen etwa Schüler, (Lehramts-)Studenten, oder pensionierte Lehrer Schüler beim Lernen zu Hause unterstützen und sozialen Austausch bieten sollen.

Zudem rief die ISB die Ausschreibung „Schule lernt aus Krisenzeiten“ ins Leben, mit niederschwellig abzuholenden Förderbudgets von bis zu 2.000 Euro. „Wir werden auch eine zweite Runde ausschreiben, wo es im Speziellen um die Digitalisierung gehen wird und man sich entsprechend Unterstützung holen kann“, so Calice.

Hoffnung auf Acht-Punkte-Plan

Den Rahmen für die fortschreitende Digitalisierung gibt der Acht-Punkte-Plan vor, den das Bildungsministerium im Herbst 2020 präsentiert hat. Der Plan sieht unter anderem vor, digitale Lehrmaterialien bereitzustellen, Schülerinnen und Schüler mir digitalen Endgeräten zu versorgen und Lehrkräfte mittels Videoschulung besser vorzubereiten. Dafür werden bis 2024 250 Millionen Euro investiert.

Für Fares Kayali, Professor für Digitalisierung im Bildungsbereich an der Uni Wien, hat der Acht-Punkte-Plan durchaus das Potenzial, den Unterricht in Österreichs Klassenzimmern besser zu machen. Dafür müssten die Schulen allerdings auch ausreichend Unterstützung beim Einsatz der neuen Technologien bekommen, erklärte der Experte vor kurzem im Gespräch mit der APA. Außerdem warnt er wie Calice davor, dass durch die Digitalisierung sozial benachteiligte Schüler weiter abgehängt werden könnten.

Calice sieht im Acht-Punkte-Plan eine “ganz zentrale Innovationsmaßnahme” im Bildungsbereich, wie er sagt: “Ich halte ihn für extrem innovativ und gut von der Orientierung her und ich glaube, dass wir damit auch die Basis für diesen Quantensprung im Großen legen, den wir dann vor uns haben.” Schließlich stehe man vor einer großen systemischen Umstellung, der größten nach dem Buchdruck vor 500 Jahren.

Bei allem Lob seien nebenher allerdings noch erhebliche Investitionen in Didaktik und Unterrichtsmaterialien nötig. “Wir brauchen aus meiner Sicht eine Offensive für innovative, digitale Lehrmaterialien”, so der Experte. Man arbeite immer noch weitgehend mit einem curricular aufgebauten Schulbuch, während die Reise immer mehr in Richtung thematischer, kompetenzbezogener Wissenseinheiten gehe. “Der Schüler, der in Mathe etwas nicht verstanden hat, geht halt ins Internet und holt sich ein zweiminütiges Erklärvideo, das wahrscheinlich noch besser aufbereitet ist als das, was er in der Schule kriegt.”

"Frontalunterricht ist sowieso kein zeitgemäßer Unterricht. Im Distance Learning wird er dann noch mehr ad absurdum geführt." Fares Kayali, Universität Wien

Schulentwicklung gepaart mit Leadership

Generell gesprochen müsse daher Schulentwicklung gepaart mit Leadership in den Schulen massiv gestärkt werden. “Das ist wirklich der Schlüssel für gelingenden Unterricht, gelingende Schulkultur und Qualitätsmanagement. Wir haben gemeinsam mit dem Bildungsministerium den ‘Staatspreis Innovative Schulen’ ausgeschrieben und da sieht man das auch sehr schön. Genau die Schulen, die sich da aktiv und sehr strukturiert darum kümmern, die gehören zu den Frontrunnern.”

Wie sehr man in der Lehre hinterhergehinkt sei, habe sich gerade durch die Umstellung auf Fernunterricht offenbart, erklärte auch Kayali. „Frontalunterricht ist sowieso kein zeitgemäßer Unterricht. Im Distance Learning wird er dann noch mehr ad absurdum geführt.“ Er hofft, dass diese Erfahrungen ein Anstoß dafür sein können, generell die Art des Lehrens und Lernens zu überdenken.

Der digitale Motor

Die Ungewissheit, wohin die digitale Reise geht, vergleicht Calice mit der Entwicklung des Verbrennungsmotors. Diesen Motor habe man zunächst einfach in eine Kutsche eingebaut und dann als Auto bezeichnet – doch die Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten der Menschen waren enorm. “Plötzlich kann man weiter und schneller fahren – und mit diesem Acht-Punkte-Plan und dem Ausrollen der Endgeräte stellen wir sozusagen einen neuen Motor hinein, mit dem praktischerweise schon alle experimentiert haben”, gibt sich Calice optimistisch: “Wohin das genau führt und was das für die Schule bedeutet, werden wir erst mittelfristig sehen. Die Chance, dass das angenommen wird, ist riesig groß, eben wegen Corona.”

Bei allen mittel- oder langfristigen Überlegungen zum Lernen und Lehren müsse man immer auch den generellen digitalen Wandel mitdenken, der so gut wie alle Bereiche des täglichen Lebens betrifft. “Meine Hoffnung ist, dass die digitale Schule und Distance Learning in ein paar Jahren ganz normal sein werden. Ich glaube, dass wir heute noch viel zu sehr in Gegensätzen denken. Distance Learning ist anders als das physische, analoge Lernen. Diese Dinge werden total ineinander greifen. Aber wir brauchen ein größeres Augenmerk auf Didaktik und Materialien, damit die Frage der Sinnhaftigkeit gar nicht mehr erst gestellt wird.”

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