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Mehr zum Thema / Hermann Mörwald / Freitag 29.10.21

Gezeichnete Körper

Die Medizin ist bekanntlich ein weites Feld, genauso verhält es sich mit den künstlerischen Zugängen samt den eingesetzten Medien. Im Folgenden exemplarisch zwei Beispiele: In dem einen wird die „Verletzlichkeit des menschlichen Körpers“ ausgehend von Videos multimedial in ihren zahlreichen Facetten dokumentiert. Das andere will zeigen, welche Möglichkeiten das Comic bietet, über Medizin kritisch zu reflektieren.
Foto: Christina Lammer

Christina Lammer, an der Akademie der bildenden Künste Wien tätige Forscherin, arbeitet seit mehr als 20 Jahren an der Grenze von Medizin und bildender Kunst. Ihr Thema ist der Körper. Bereits in ihrer Dissertation (Studium der Soziologie) ging es um die Disziplinierung des menschlichen Körpers. Die Visualisierung desselben stand dabei von Anfang an im Vordergrund. Ein wichtiges Motiv in Lammers Arbeiten ist, auf „Verletzlichkeit“ hinzuweisen und das Verhältnis zum eigenen Körper zu erörtern. (siehe auch: http://www.corporealities.org/christina-lammer-selected-publications-auswahl-von-publikationen/).

Auf der Suche nach einem Ort, wo Menschen intensiv am und im Körper arbeiten, dockte sie schließlich an der Medizin an. Von Beginn an, seit 1999, hat sie dabei mit und in Abteilungen der Medizinischen Universität Wien (MUW)  zusammengearbeitet. Lammer wollte sich konkret den – kommunikativen – Kontakt Ärztin-Arzt/Patientin-Patient intensiv anschauen. Dabei hat sie sich verstärkt mit künstlerischen Praktiken auseinandergesetzt. Ohne vorherige Erfahrungen ist sie so auf die Kamera gestoßen, die für Lammer das geeignete Medium wurde, um die  komplexen Abläufe und Interaktionen, etwa in Operationsräumen der interventionellen Radiologie, zu verarbeiten.

Lammer greift mittlerweile auf eine ganze Palette an Medien zurück, neben Videos und Filmen auch Fotografien, Zeichnungen, Gemälde, aber auch Performatives. Dabei stimmt sie das Medium auf die jeweilige Fragestellung ab: „Ich entwickle eine eigene Methodologie, die auf soziale Beziehungen Rücksicht nimmt, die nicht ausschließlich auf verbaler Kommunikation basieren.“ Ihrer Meinung nach, ist das auch eine große Chance in der Arbeit im Grenzbereich Kunst und Wissenschaft, das Ausloten von „Grauzonen der Kommunikation“.

In der Beschäftigung mit den verschiedenen medizinischen Disziplinen und Tätigkeiten werden gemeinsam mit den jeweiligen Personen (medizinisches Personal aber auch Patientinnen und Patienten) ganz individuelle Formen der Kooperation vor Ort erarbeitet – so auch der Einsatz  verschiedener Medien. In der Regel waren die Mediziner sehr offen für die Ideen Lammers. „Natürlich musste allen Beteiligten gut erklärt werden, was da gerade passiert. Das geht nur mit dem Einverständnis aller Beteiligten, ganz klar“, erklärt Lammer: „Im Grunde geht es um Arbeitsprozesse und Kommunikationsabläufe, wobei die Ergebnisse, das geschnittene, bearbeitete Material an die Involvierten wieder zurückgespielt werden.“ Schließlich sei das Material in Klinikrunden gezeigt und mit den Ärztinnen und Ärzten besprochen und diskutiert worden.

Brustkrebs und Narben

In einer ihrer Arbeit hat Lammer, deren Projekte vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) gefördert werden, initiiert vom damaligen Leiter der Abteilung der plastischen Chirurgie an der MUW, Manfred Frey, Fragebögen zur Rekonstruktion der weiblichen Brust analysiert, die für Brustkrebspatientinnen entwickelt worden waren. Daraus wurde schließlich eine Studie, in der die Künstlerin mit Brustkrebspatientinnen mit Primär- und Sekundärrekonstruktionen – mit deren Einverständnis – arbeiten konnte. Dabei hat Lammer die Patientinnen durch den ganzen Therapieprozess (abgesehen von der Operation selbst) – von der Bettenstation über die Radiologie, die Onkologie, die Chirurgie bis hin zur Strahlentherapie – begleitet. „Dabei wollte ich wissen, wie die Frauen, vor allem in der Kommunikation, in den unterschiedlichen medizinischen Bereichen behandelt werden und was sie tatsächlich brauchen, um das schließlich den Ärzten und Ärztinnen vermitteln zu können“, erläutert Lammer.

Mit Patientinnen, die damit einverstanden waren, hat sie entsprechend Videointerviews gemacht, obwohl sie ursprünglich die Frauen in dieser existenziell kritischen Situation nicht vor die Kamera setzen wollte. „Dabei sind ganz intime Situationen entstanden. So hatte etwa eine Frau eine ganz genaue Idee davon, wie sie aufgenommen werden wollte“, so Lammer. Das war Teil ihrer Methodik, sich das „Wie“ des Videointerviews gemeinsam mit der Gefilmten auszuverhandeln: „Die Frauen sollten sich schließlich aufgehoben fühlen.“ Eine der Frauen äußerte dabei, laut Lammer, den Wunsch, dass „sich alle behandelnden Mediziner aus den verschiedenen Disziplinen an einen runden Tisch setzen und gemeinsam die Therapie entwickeln, ausarbeiten, die ich brauche.“ „Das Filmmaterial dazu wurde noch Jahre später bei Medizinkongressen gezeigt“, erklärt Lammer.

Weitergehend hat Lammer die Thematik für eine Ausstellung bei einem Chirurgenkongress noch stärker auf eine körperliche Ebene gebracht. Für eine Installation hat sie mit Vorher- und Nachher-Fotos einer Brustkrebspatientin gearbeitet, die im Zuge der Therapie in der Klinik für Plastische Chirurgie entstanden sind, und diese Bilder gemeinsam mit der Frauen künstlerisch für die Ausstellung transformiert – etwa durch den Einsatz von Mimosenblüten, die per Hand am Körper und auf den Narben der Frau verteilt wurden. Dabei ging es zentral um die Narben, die die betroffene Frau, die von Lammer über zehn Jahre begleitet wurde, intensiv beschäftigt haben. „Im Grunde wollte ich die Narben, die chirurgische Handlung, sinnlich erfahrbar machen. Das hat dann auch zu Diskussionen in und mit der Ärzteschaft geführt, was aber gewünscht war und die Materie letztlich vertieft hat“, erzählt die Künstlerin.

Blüten und Narben

Christina Lammer sprach mit APA-Science ...

... über die Visualisierung von Verletzlichkeit

In ihrer Arbeit verteilte sie etwa Mimosenblüten ...

... auf den Narben einer Frau

Die Künstlerin begleitete die Frau ...

... über zehn Jahre hinweg

Es ging um die sinnliche Erfahrbarkeit von Narben

Operationen und die Narben dazu ziehen sich durch das ganze Werk Lammers, wie auch eine ihrer jüngeren Publikationen im Fachmagazin „Visual Studies“ darlegt.

Der vereinheitlichte Patient

In den 2000er-Jahren wurden an der MUW interdisziplinäre Tumorboard-Klinikrunden außerdem etabliert, um komplexe Krankengeschichten zu diskutieren. Christina Lammer war von Anfang an dabei, da zur selben Zeit an einer Patientendatenbank, dem vom Radiologen Peter Pokieser ins Leben gerufenen sogenannten „Unified Patient“ gearbeitet wurde, der bis heute, wenngleich in veränderter Form und mit anderem Namen, auch in der Lehre zum Einsatz kommt, wo auch Bilder und Filme von medizinischen Fällen hineingespielt wurden. Lammers Aufgabe war dabei, sich anzuschauen, wie aus kranken Personen Fallbeispiele werden, die in weiterer Folge in den Tumorboards gezeigt und besprochen wurden. Lammer: „Ich wollte wissen, welche Kommunikationsformen und welche Bilder vom Körper sich daraus ergeben?“

Eine essentielle Frage der Wissenschafterin an die Datenbank war auch, „Was ist eigentlich ein Patient?“.  Daher hat sie mit über 40 Medizinerinnen und Medizinern aus verschiedenen Disziplinen genau zu dieser Frage Videointerviews gemacht, für die sie ein eigenes Format konzipiert hat. Ein zentraler Schluss daraus war, dass die Definitionen und Antworten von Disziplin zu Disziplin massiv variieren – je näher am Patienten, desto ausführlicher fielen laut Lammer die Antworten aus.  Außerdem wurden in den Interviews klassische, oftmals hierarchisch determinierte „Beziehungskonfigurationen“ aufgelöst oder gar verkehrt. Das war nicht immer friktionsfrei. „Genau das hat mich aber gereizt, weil dann kommt man erst richtig in die Tiefe, was die menschliche Komponente an den diversen Prozessen der ‚Medizin‘ betrifft“, so Lammer. „Letztendlich geht es doch um das ‚Menschsein‘ in der Medizin – egal, ob Patientin und Patient oder Ärztin und Arzt.“

Medizin gezeichnet – nicht nur funny

Der kritische Zugang zur Medizin lässt wie gesagt viele Optionen zu – auch den des Comics. Diesen Weg nimmt man zum Beispiel an der Medizinischen Universität (MedUni) Wien. Seit dem vergangen Jahr gibt es eine thematische Comic-Austellung. Die Ausstellungen „KÖRPER“ im Vorjahr, „GRENZEN“ heuer und „SCHMERZ“ im nächsten Jahr  – wie es danach weiter geht, ist noch offen – wollen bewusst auf die Möglichkeit des  Perspektivenwechsels hinweisen. Neben der Form des Comics sollen auch Medien wie Filme, Fotografien, Literatur, Musik und Zeichnungen genutzt werden.

Entstanden ist die Idee laut Eva K. Masel, Palliativmedizinerin an der MedUni Wien und eine der Initiatorinnen (gemeinsam mit Andrea Praschinger) der Medical Comic-Ausstellung, aus dem methodischen Ansatz der Medical Humanities (Verknüpfung von Medizin mit Sozial-, Geisteswissenschaften und Kunst) im Rahmen der Narrativen Medizin, wo es grundsätzlich um die Arzt-Patient-Beziehung und die dazugehörenden Erzählungen geht. Medical Comics haben sich mittlerweile zu einer eigenen Sparte entwickelt haben, wie die Seite Graphic Medicine zeigt.

Neue Perspektive

„Eine Reflexion alltäglicher sowie kritischer klinischer Situationen und das Wahrnehmen von Bedürfnissen in sogenannten Medical Comics (… ) als Interaktion zwischen Comics und Gesundheitswesen erlauben einen Blick hinter das Offensichtliche“, schreibt dazu die MedUni Wien. „Comic muss nicht immer lustig sein“, ergänzt Masel. Es gehe vielmehr darum, ernste medizinische Inhalte so zu vermitteln, dass ein Perspektivenwechsel möglich werde. Es könne durchaus sinnvoll sein, die „eigene Rolle“ zu verlassen.

„Comics berühren eben anders. Die Bildsprache vermag sehr viel Subtext auszudrücken, der im Alltag nicht wahrgenommen wird“, erklärt die Ärztin weiter. Comics würden die Finger auf eine ganze eigene Art in die Wunde legen. Sie glaubt auch, dass Medical Comic unterstützen können, zu sehen, „wie werde ich eigentlich von anderen wahrgenommen“.

„Heuer geht es, wie gesagt, um Grenzen, um körperliche und psychische Grenzen, aber ebenso zum Beispiel Krieg als ‚Grenzsetzer‘ oder auch um Ausgrenzung nicht zuletzt wegen des Geschlechts (sexual harassment etc.)“, fasst Masel zusammen. Dabei werde es auch Mitmachstationen geben, die die Möglichkeit bieten, aktiv zu partizipieren und zu reflektieren.

Entgegenkommende Künstler

Die von einer Jury ausgewählten teilnehmenden professionellen Comic-Künstlerinnen und -Künstler kommen aus der ganzen Welt. „Die waren durch die Bank ‚open-minded‘“, schildert Masel die Reaktionen auf die Anfragen der MedUni Wien. Obwohl es kein Geld gibt, hat es laut der Medizinerin rund 90 Prozent positive Rückmeldungen gegeben. „Das  Entgegenkommen seitens der Künstler war groß“, freut sich Masel.

Auch die Studierenden haben die Möglichkeit, mittels Comics kreativ zu werden. So wurden vor der ersten Ausstellung 2020 laut Masel rund 600 Studierende im Rahmen einer großen Vorlesung dazu eingeladen, selbst Comic zu zeichnen oder Reflexionsfragen zum Thema  Arzt-Patient-Verhältnis zu beantworten. „Der Rücklauf von 190 Zeichnungen hat uns dann selbst überrascht“, schildert Masel. Die drei Besten wurden schließlich von einer Jury prämiert.

Comics einer Ausstellung

Bilder der Profis ...

Bilder der Profis ...

... und Bilder der Studierenden

... und Bilder der Studierenden

... und Bilder der Studierenden

Die Initiatorinnen und Organisatorinnen

v.l.: Eva Masel (Palliativmedizinerin) und Andrea Praschinger (Medizinhistorikerin)

Ausstellung ab Mitte November

Die diesjährige Ausstellung soll Mitte November (Hörsaalzentrum des Allgemeinen Krankenhauses (Währinger, Gürtel 18-20, 1090 Wien) starten, ein genauer Termin steht noch nicht fest. Wie es nach 2022 weitergeht, ist noch offen. Das Organisationteam würde gerne weitermachen, wie Masel bestätigt. „Das bisherige Feedback war äußerst positiv, was uns in unserer Entscheidung bestärkt hat.“

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