Von Blöcken und Ketten
Für die einen bedeutet sie eine bahnbrechende Technologie, die eine neue Generation des Internet einläutet und mit der Kryptoökonomie ein völlig neues Wirtschaftsmodell erschafft, das dabei ist, die Gesellschaft zu revolutionieren. Für die anderen ist der Hype um Blockchain und ihre bekannteste Anwendung Bitcoin eine Blase, die schon bald wieder platzen könnte. Wohin die Reise geht ist ungewiss, langweilig wird sie keinesfalls.
"Kommt die Blockchain-Revolution?" (Wiener Zeitung); "Wollen wir keine Regierungen mehr?" (Kleine Zeitung); "Land der Berge, Land der Blockchain" (Die Presse): Dass die Blockchain im Trend liegt, lässt sich schon an den Schlagzeilen und der rasant wachsenden Zahl der Medienberichte ablesen: Gab es im Vorjahr in den größten österreichischen Tageszeitungen noch 46 Erwähnungen von "Blockchain" und 253 Erwähnungen von "Bitcoin", so wurden die Begriffe heuer bisher (bis 25. Oktober) bereits jeweils 211 Mal bzw. 628 Mal genannt. Die Aufregung ist groß, aber was steckt dahinter?
Im Prinzip kann man sich die Blockchain wie ein digitales Kassenbuch ("Ledger") vorstellen, das Transaktionen mit kryptographischen Verfahren in einer Kette von Datensätzen (Blöcken) gleichzeitig auf viele Rechner verteilt, also dezentral abspeichert. Manipulationen werden so zwar nicht gänzlich unmöglich, aber extrem unwahrscheinlich, weil die Daten auf allen beteiligten Rechnern verändert werden müssten. Worüber Buch geführt wird, spielt keine Rolle: ob Werte einer Währung (Bitcoin); Grundbucheintragungen oder die Verrechnung einer Taxifahrt. Entscheidend ist, dass jede Transaktion auf der jeweils vorherigen aufbaut und Teil einer unveränderbaren Kette aus eindeutig identifizierbaren Datenblöcken wird (siehe "Blockchain - Die Technologie hinter Bitcoin & Co"). Wichtig: Die Kryptowährung Bitcoin baut auf der Blockchain-Technologie auf, ist aber nicht mit ihr gleichzusetzen (siehe "Bitcoin - Das digitale Geld aus der Blockchain").
Beginn im Jahr der Finanzkrise
Begonnen hat alles im Jahr der Bankenkrise 2008, als in einem unter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto veröffentlichten Dokument erstmals die Bitcoin-Technologie beschrieben wurde - als bewusste Alternative zum herkömmlichen Finanzsystem. 2013 hat dann Vitalik Buterin die Blockchain-basierte Plattform Ethereum mitgegründet. "Da ging es nicht mehr nur um Geld, sondern um sogenannte Smart Contracts - Programme in der Blockchain, die eine umfangreiche Automatisierung verschiedener Prozesse erlauben", sagte Thomas Zeinzinger, Gründer des BlockchainHub Graz, vor kurzem bei einer Podiumsdiskussion in Linz.
Diese "Smart Contracts" könnten das noch stotternde Internet der Dinge (IoT) beschleunigen und die Abrechnung zwischen Maschinen ermöglichen. Im Energiebereich lasse sich das komplexe System aus Produzenten, Konsumenten und Versorgern mit der Blockchain automatisiert und sicher abbilden (siehe auch "Blockchain im Energiesystem"). Autonome E-Fahrzeuge, die in der Stadt zirkulieren, könnten über die eigene digitale Brieftasche unterwegs Strom kaufen.
Vom Blog zum Blockchainhub
Diese im Grunde grenzenlosen Möglichkeiten haben auch Shermin Voshmgir vor gut drei Jahren bewogen, sich näher mit der Blockchain zu befassen: "Die Faszination hat sich aus dem Thema ergeben", beschrieb sie im Gespräch mit APA-Science ihre ersten Berührungspunkte mit der Technologie: "Als ich verstanden habe, worum es geht, war für mich klar: Das ist eine Technologie, die sehr disruptiv ist und potenziell viele Probleme, die wir in der Gesellschaft haben, lösen könnte - wenn wir es richtig machen."
Die studierte Wirtschaftsinformatikerin las sich in die Thematik ein, startete einen Blog und fand sich in der Situation wieder, immer mehr Menschen zu erklären, worum es geht. Dieses sukzessiv gestiegene Interesse mündete in der Gründung des Blockchainhub in Berlin, einer "angewandten, selbst finanzierten, altruistischen Forschungseinrichtung".
Ziel war es dabei von Anfang an, Blockchain der Allgemeinheit verständlich zu machen, "weil es eine Basistechnologie unserer zukünftigen Gesellschaft ist, auf die man alles aufbauen kann". Nach der Erfindung von E-Mail und World Wide Web Ende der 1980er-Jahre und dem interaktiveren "Web 2.0" mit Social Media und dem Entstehen von E-Commerce-Plattformen zehn Jahre später, spricht man nun vom Web 3 - mit Blockchain als einer, aber nicht alleiniger Zukunftstechnologie, wie Voshmgir betont. "Aber Blockchain ist schon ein massiver Game Changer, genauso wie es Künstliche Intelligenz ist oder das Internet der Dinge." Spannend werde die Verschränkung dieser Technologien werden, die letztlich alle aufeinander aufbauen sollen.
Kombination mehrerer Technologien
Die Innovation liegt nicht in den einzelnen Technologien, aus der die Blockchain besteht, sondern in deren einzigartiger Kombination. Peer-to-Peer (P2P)-Netzwerke gibt es schon seit Jahren, ebenso kryptographische und spieltheoretische Verfahren. "Was wir nicht hatten, sind P2P-gesteuerte kryptographische Netzwerke, die sich selber in der Finalität über einen Token steuern", sagt Voshmgir. Unter Finalität versteht man die Unveränderbarkeit einer Transaktion, sobald ein neuer Block in die Blockchain eingefügt worden ist.
Das ist zugleich ein Grundprinzip von offenen bzw. öffentlichen Blockchains: Jemand stellt zur Verifizierung von neuen Blöcken Rechnerleistung zur Verfügung und wird dafür mit zu definierenden Anreizen, zum Beispiel Bitcoins oder Transaktionsgebühren, entlohnt. Auf diese Art lässt sich ein Netzwerk von Akteuren, die sich nicht kennen und vertrauen, steuern. Anders bei privaten bzw. geschlossenen Blockchains, etwa innerhalb eines Unternehmens: Kennen sich die Akteure, bedarf es auch keiner Anreizsysteme für die Verifizierung der Blöcke.
It's cryptoeconomics, stupid!
Diese Vorgänge stellen im Kern den Anfangspunkt der Kryptoökonomie dar, an deren Zukunft wird jetzt aber erst intensiv geforscht, sagt Voshmgir: "Kryptoökonomie ist die Zukunft, nicht die Blockchain. Blockchain ist die erste Generation einer neuen Schule der Ökonomie, die wir Cryptoeconomics nennen." Potenziell sei die Technologie wie ein Betriebssystem, das Menschen erlaube, sich neu zu organisieren - rund um einen Token, der mit sozioökonomischen Anreizmechanismen ein Netzwerk von dezentralen Akteuren steuert.
Eine Frage stelle sich nicht, nämlich ob sich dieses vollkommen digitale und dezentralisierte Wirtschaftsmodell durchsetzen wird. "Es ist nur eine Frage der Zeit - und wie genau das passiert." Bis dahin ist man auf Schätzungen angewiesen: Laut World Economic Forum betrug der Wert von Bitcoin 2015 ungefähr 20 Mrd. Dollar, was in etwa 0,025 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von ca. 80 Billionen Dollar entspricht. Bis 2027, so die Schätzung, könnte dieser Wert auf zehn Prozent steigen.
Internet of Research Things
Sich aktiv mit der Technologie zu beschäftigen, scheint angesichts dessen nicht die schlechteste Idee zu sein. Im Bereich Forschung und Lehre hat sich in Österreich bereits eine durchaus aktive Blockchain-Community etabliert. Neben mehreren Lehrveranstaltungen an Hochschulen mit Blockchain- oder Kryptowährungs-Bezug widmet sich in Wien das Forschungsinstitut RIAT (Research Institute for Arts & Technology) dem Thema. In der Steiermark ist der Blockchainhub Graz aktiv, und in Salzburg forscht daran SBA Research, um nur einige zu nennen. Das Wissenschaftsministerium hat heuer die Initiative "Blockchain Austria" mit einem "9-Punkte-Plan für Österreich" ins Leben gerufen. Weitere Initiativen und Vereine sind dem Vernehmen nach soeben im Entstehen begriffen. Konkret ist bereits die Absicht, an der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien einen eigenen Forschungs-Schwerpunkt für Cryptoeconomics zu gründen.
Die Überlegungen, wie Blockchain in der Wissenschaft eingesetzt werden könnte, sind großteils noch theoretischer Natur. Sönke Bartling, Gründer des Blockchainhub for Science ist sich sicher, dass die Wissenschaft in vielfältiger Weise profitieren könnte. "Warum speichern wir nicht Forschungsdaten in einer Blockchain-Datenbank?", schlug Bartling bei einem Vortrag im Rahmen der Konferenz "Software and Services for Science (S3)" ein "Internet of Research Things" vor. Via Blockchain wären die Daten mit einem Zeitstempel versehen und man hätte einen unveränderbaren Beweis der Datengewinnung zur Hand. Nicht "passende" Daten im Nachhinein verschwinden zu lassen oder für das gewünschte Resultat "passend zu machen" wäre so unmöglich, verweist der Experte auf das schwer in den Griff zu kriegende Problem des "p-Hacking", dem nachträglichen Verändern von wissenschaftlichen Studien.
Indem man auch die Forschungsbedingungen im Voraus veröffentlicht, könnten Hypothesen bei deren Erfüllung von einer zu definierenden Community akzeptiert oder abgelehnt werden ("Smart evidence"). Die Blockchain könne man so als Erweiterung von Open Science verstehen, meint Bartling. Dabei würde man nicht mehr nur ein wissenschaftliches Paper veröffentlichen, sondern eine Beschreibung aller zum Einsatz kommenden Daten. In medizinischen oder pharmazeutischen Studien könnte man mit Smart Contracts offenlegen, welche Patientendaten herangezogen werden bzw. es könnten nur jene Daten freigegeben werden, die man auch wirklich benötigt.
Darüber hinaus wäre es denkbar, Daten in einer Blockchain-basierten Cloud zu speichern, man müsste also keinem Cloud-Provider mehr vertrauen. Reputationssysteme wie der Impact Faktor könnten dezentral organisiert werden. Vorstellbar sei ebenso, Forschungsgelder anhand von "Likes" in der Blockchain zu vergeben. All das brächte reproduzierbarere und bessere Forschungsergebnisse hervor, ist Bartling überzeugt. Und gewährte man Forschern Anonymität für unorthodoxe Ideen und Standpunkte, die sie sonst aus Angst vor Reputationsverlust nicht zu äußern wagten, könnte das letztlich zu mehr Entdeckungen und Innovationen führen.
Befreiung vs. Kontrolle
Bevor sich Blockchain aber in der Wissenschaft oder überhaupt als Basistechnologie durchsetzt, müssen viele Herausforderungen bewältigt werden. Für das dezentrale Web der Zukunft ist Blockchain nur eine von vielen Technologien, aber eine sehr mächtige. "Wir müssen sehr aufpassen, wie wir die Datenstrukturen drum herum bauen: Haben wir Privacy by Design oder nicht?", warnt Voshmgir vor durchaus möglichen Fehlentwicklungen. Statt einer "universellen Befreiungsmaschine", die mehr Demokratie bringt, könnte man sich auch rasch mit einer "universellen Kontrollmaschine" konfrontiert sehen, die nicht nur alles über jeden weiß, sondern auch Gesetze automatisch ausführen könne.
Den Entwicklungsstand der derzeitigen Blockchain-Technologie vergleicht Voshmgir mit den frühen 1990er-Jahren des Internet. E-Mails waren damals die erste Anwendung des World Wide Web, Bitcoin ist nun die erste Anwendung des dezentralisierten Internet oder Web 3. In die Zukunft gerichtet, scheint vieles möglich. In einem kürzlich publizierten Artikel einer Spezialausgabe des Journals "Strategic Change: Briefings in Entrepreneurial Finance" schlägt Voshmgir unter dem Titel "Disrupting governance with blockchains and smart contracts" die Kryptoökonomie als eine Art Betriebssystem für eine neue Welt vor.
Nationalstaaten und Unis obsolet?
In einem derzeit in Arbeit befindlichen Buch zum Thema ruft die Blockchain-Aktivistin zudem "Das Ende des Nationalstaates" aus. Dass der Nationalstaat in einer globalisierten, Internet-gesteuerten Welt noch immer die Hoheit über die Gesetzgebung hat, mute anachronistisch an. Die Probleme der modernen Welt seien vielfach nationalstaatlich nicht mehr zu lösen, was diese Konstrukte zunehmend obsolet mache. "Blockchain-Protokolle sind die Verfassung unser neuen Gesellschaft", so Voshmgir. Nach Opt-in- und Opt-out-Prinzip könnten Bürger Teilnehmer von unterschiedlichen Blockchains oder dezentralen autonomen Organisationen auf der Blockchain sein. Einen derartigen Ansatz verfolgt etwa bereits das Unternehmen Bitnation: Verwaltungsakte, Notariatsleistungen, Weltbürger-Ausweise, Urkunden, Versicherungen und Verträge - all das wird über eine dezentrale Plattform abgewickelt. Wer braucht da noch einen Staat? - so die Idee.
Bis es aber zu einer neuen Weltordnung kommt oder auch nicht, gilt es laut Voshmgir, die digitale Bildung zu forcieren: "Erstens einmal: Programmieren muss im Kindergarten und in der Schule allen Kindern beigebracht werden. Und dann müssen wir an den Universitäten anfangen, das noch mehr in die Lehrpläne einzubauen." Heutige Bildungssysteme mit dem Fokus auf Präsenz an Schulen und Unis, seien in ihrer jetzigen Form aber ohnehin "völlig obsolet", so die Gastdozentin an der WU Wien: "Wir brauchen ein adäquateres System, wo Lehrer Coaches werden und es selbst organisiertes Lernen gibt und nicht Schulen, die auf einem Denkkonzept des 17. Jahrhunderts aufbauen, wo man den Buchdruck gerade erfunden hat und sich die wenigsten Bücher leisten konnten. Wir haben mittlerweile das Internet, wir brauchen nicht mehr einen Ort, wo man hingeht."
Nicht alle sind von der Abschaffung von Bildungsinstitutionen überzeugt. Rainer Böhme vom Institut für Informatik der Universität Innsbruck hält das für höchst unwahrscheinlich: "Es ist nicht die Blockchain-Technik, sondern das Internet, das den Bildungsmarkt globalisiert. Eine Blockchain hilft nur, gewisse Eigenschaften bei der Verwaltung von Zeugnissen technisch umzusetzen. Und sie ist nur eine von verschiedenen denkbaren Lösungen." Universitäten würden zudem Forschung und Lehre vereinen, das sei unersetzbar.
Eine klare Prognose, ob Blockchain Hype, Revolution oder beides ist, ist aus heutiger Sicht also ein wenig wie bei der Frage, ob es wärmer oder kälter wird: Das hängt vom Wetter ab. Für Ernst Piller, Leiter des Instituts für IT-Sicherheitsforschung an der Fachhochschule (FH) St. Pölten, ist die Blockchain vor allem "zeitgeistig": "Es geht in Richtung teilen und verteilen, weg vom Zentralen. Das ist ja auch eine gute Sache. Es muss aber auch die Gesellschaft mitziehen."
Von Mario Wasserfaller / APA-Science