Im Maschinenraum der Mitochondrien
Bereits als Jugendlicher in der Sowjetunion der 1970er-Jahre interessierte sich Leonid Sazanov für die Wissenschaft - aber auch für den Weltraum. Was Erwin Schrödinger mit seiner Entscheidung für eine Laufbahn als Biophysiker zu tun hatte und warum sein kleiner Sohn trotzdem glaubt, er arbeite mit Zügen, erzählte der Forscher bei einem Besuch von APA-Science am Institute of Science and Technology (IST) Austria. Dort dringt er quasi als Mikrokosmonaut in die unendlich winzigen Weiten der Zellkraftwerke (Mitochondrien) vor und sieht manchmal Dinge, die noch nie zuvor ein Mensch gesehen hat.
Sazanov und sein Team untersuchen generell das molekulare Design von komplexen biologischen Maschinen, die für grundlegende zelluläre Prozesse verantwortlich sind, etwa für die Energieerzeugung. Im engeren Sinn geht es dabei um Membranproteinkomplexe. Sie sind das Ziel von etwa zwei Drittel aller modernen Medikamente, aber ihre Strukturen sind schwierig zu untersuchen. Das Interesse für die Biophysik im Speziellen und die Wissenschaft im Allgemeinen erwachte in ihm schon während der Schulzeit, so der Forscher.
"Als ich aufgewachsen bin, waren Wissenschaft und Wissenschafter ziemlich populär, unter Kindern aber auch bei Erwachsenen", blickte der 61-Jährige auf seine Kindheit und Jugend in Brest, einer Stadt im heutigen Weißrussland direkt an der Grenze zu Polen, zurück. Diese Neigung, die der Heranwachsende selbst durch die eifrige Lektüre von Science Fiction und populärwissenschaftlichen Magazinen immer weiter schürte, wurde auch von den Eltern unterstützt. "Meine Mutter war Sprachenlehrerin und mein Vater Physiklehrer. Er hat mich immer ermutigt. Ich erinnere mich, wie er mir einmal einen Chemiebaukasten zum Experimentieren geschenkt hat."
Schrödinger beantwortet Entscheidungsfrage
Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch die Berufsvorstellungen gegen Ende der Schulzeit in einer Entscheidung zwischen Kosmonaut oder Biophysiker gipfelten. Als Zünglein an der Waage erwies sich ausgerechnet ein berühmter österreichischer Physiker, wie Sazanov erzählt: "Irgendwann in dieser Zeit las ich ein Buch von Erwin Schrödinger, 'Was ist Leben?', worin das Leben aus der Sicht der Physik erklärt wird. Das hatte einen ziemlichen Einfluss auf mich und vielleicht meine Entscheidung für die Biophysik bewirkt."
Ernst damit wurde es spätestens mit dem Studium der Biophysik an der Universität Minsk. "Die ersten beiden Jahre dort studierte ich wirklich 'hard core' Physik, theoretische Physik - woran ich mich nicht mehr erinnere -, aber vielleicht hat es ja geholfen", erzählt der Wissenschafter lachend. Die letzten drei Jahre an der Uni waren dann der tatsächlichen Biophysik gewidmet, "an einem wirklich guten und fortschrittlichen Institut". Die guten Abschlussnoten ebneten formal den Weg zum PhD in Moskau, zuvor musste aber noch der Militärdienst in den sowjetischen Streitkräften absolviert werden. Sazanov brachte die zwei Jahre von 1982 bis 1984 hinter sich, indem er nicht nur, aber auch, aus Flugzeugen sprang. Trotz dieser "interessanten" Tätigkeit als Fallschirmspringer war zu jener Zeit bereits die aufkommende Krise in Osteuropa spürbar und zum Greifen nahe. "Wir waren an der Grenze zu Polen und in Alarmbereitschaft. Glückerweise hat das nicht mit einer Invasion geendet."
Faszination Bioenergetik
Der Wechsel an die Staatliche Universität Moskau erwies sich als richtungsweisend, waren dort doch die damals besten Biophysiker der Sowjetunion am Werk. Sazanov kam hier erstmals mit seinem späteren Spezialgebiet der Bioenergetik in Berührung, die sich mit Energiegewinnung und -verbrauch bei Organismen, Zellen und subzellulären Strukturen befasst. Der Großteil der bioenergetischen Reaktionen spielt sich in Eukaryoten - das sind Lebewesen mit einem Zellkern in den Zellen, also Pflanzen, Tiere oder Pilze - in den intrazellulären Mitochondrien ab. Mitochondrien sind die Kraftwerke der Zellen. Sie erzeugen über die Enzyme der sogenannten Atmungskette die für das Leben essenzielle Energie in Form von Adenosintriphosphat (ATP).
Diese Atmungskette besteht aus einer Reihe von "Maschinen" (Enzyme) in der Membran der Mitochondrien, die Komplex I, II, III, IV und V genannt werden. Es handelt sich dabei um einen Stoffwechselweg entlang einer Kette von nacheinander stattfindenden biochemischen Redoxreaktionen, die den Lebewesen zur Energiegewinnung dienen, aber auch alle an dem Stoffwechselweg teilnehmenden Proteinkomplexe sind damit gemeint. "Bei der Bioenergetik geht es um Energietransduktionsprozesse, das inkludiert die Photosynthese, die Mitochondrien-Atmung und die Atmung in Bakterien. Hauptsächlich involviert sind Membranproteine mit Redoxreduktionen und Elektronentransfer", präzisiert der Forscher.
Die Energie, die das Leben antreibt
Wie diese Abläufe biochemisch und -physikalisch genau ablaufen, beschreibt im Grunde den Kern der Forschungsarbeit von Sazanov und dessen Team am IST Austria, die er so zusammenfasst: "Wir studieren, wie in der Natur die Energie produziert wird, die das Leben antreibt. Diese Energie wird bei Tieren hauptsächlich in den Mitochondrien produziert, oder allgemein in der Atmungskette in praktisch dem gesamten Leben. Die Atmungskette ist eine Reihe von Enzymen, die die universelle Energiewährung produzieren, ATP. Ohne zumindest vier von diesen fünf Enzymen könnte Leben gar nicht existieren. Mit dieser Atmungskette hat die Natur einen Weg gefunden, aus der Nahrung, die wir essen, und dem Sauerstoff, den wir atmen, ATP zu produzieren, das uns antreibt."
Doch begonnen hat dieser lange Weg vom Anfang bis zum Ende der Atmungskette für Sazanov im Moskau der 1980er-Jahre. Die Forschungsgruppe rund um Professor Alexander Kukushkin setzte sich mit der Modellierung der Photosynthese als Ganzes auseinander, womit sich Sazanov auch im Rahmen seiner Doktorarbeit beschäftigen sollte. Für die Wissenschafter wurde das Arbeitsumfeld und die Voraussetzungen, Experimente durchzuführen in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre jedoch zunehmend schwieriger, "weil zu jener Zeit die Sowjetunion bereits im Untergang begriffen war", wie Sazanov anmerkt. Um die Modellierungen zu kalkulieren verwendete er anfangs das "Große Elektronische Zählmaschine" genannte, damals beste sowjetische Supercomputer-System. "Am Anfang stanzte ich noch Programme in Lochkarten, erst am Ende meiner PhD-Zeit bekamen wir einen IBM-Computer, was eine große Verbesserung bedeutete."
Nach dem PhD blieb Sazanov noch gut eineinhalb Jahre an der Uni in Moskau, genauer in einem Labor des Belozersky Instituts für Physik und Chemie. Parallel mit dem Zusammenbruch des Ostblocks machte sich beim jungen Forscher ein gewisses Fernweh bemerkbar, er blickte insgeheim bereits nach Westen, um sich persönlich und wissenschaftlich weiterzuentwickeln.
Birmingham calling
Ein Ruf an die Universität Birmingham gegen Ende des Jahres 1992 kam da gerade recht. Sazanov und seine bereits hochschwangere Frau ergriffen die Chance und gingen nach Großbritannien. "Im ersten Monat, als wir dort ankamen, hatten wir schon ein Baby. Unsere Tochter ist jetzt 28, lebt in England und spielt professionell Flöte. Sie hat das Trinity College in London abgeschlossen." An der Uni forschte Sazanov gemeinsam mit Professor Baz Jackson unter anderem an der Transhydrogenase, eines der Enzyme der Atmungskette.
Nach zwei arbeitsreichen Jahren in Birmingham und einigen veröffentlichten Papers in wissenschaftlichen Journalen folgte Sazanov einer Einladung von Professor Peter Nixon an das Imperial College in London - was sich als weitere wichtige Weichenstellung für den Biophysiker herausstellen sollte. Denn in London beschäftigte sich Sazanov erstmals genauer mit "Komplex I", dem ersten und bis dahin am wenigsten erforschten Enzym in der Atmungskette. Bis zur Lösung von dessen Struktur und Mechanismus sollten für den Forscher allerdings noch einige Jahre - und Forschungsstationen - vorüberziehen.
Wichtige Studien 2020
2016 gelang es Sazanov als erstem, die Struktur des Komplex I bei Säugetieren zu lösen, nachdem er 2013 die Struktur eines einfacheren bakteriellen Enzyms aufgeklärt hatte. Man weiß, dass drei Enzyme in der Atmungskette einen sogenannten Protonengradienten erzeugen, dadurch werden Protonen über die Membran transportiert. Doch der Mechanismus, mit dem Komplex I dabei als eine Art Pumpe in der Erzeugung von Energie fungiert, war umstritten. Dieses Mysterium hat Sazanov erst vor kurzem mit seinem Team aufgelöst: Zunächst muss sich eine Spirale (Helix) drehen, dadurch wird eine chemische Reaktion ermöglicht, die wiederum eine elektrostatische Welle auslöst, mithilfe der Protonen transportiert werden.
Am Ende der Atmungskette werden die aufgestauten Protonen zur kleinsten Turbine der Welt namens "Komplex V" vulgo "F1F0-ATP-Synthase" geleitet und treiben sie an. Ein ringförmiges Turbinenrad wird auf der einen Seite der Membran, die als Staumauer fungiert, mit einem Proton besetzt, dreht sich, und spuckt es auf der anderen Seite wieder aus, fand Sazanov mit Kollegen heraus. Dieser Ring ist mit einem Schaft verbunden und seine Rotation erzeugt den chemischen Energiespeicher ATP. Diese beiden weiteren wichtigen Schritte zum Verständnis der Atmungskette zeigten Sazanov und seine Forschungsgruppe am IST Austria in zwei Studien auf, die erst vor wenigen Monaten in den Fachzeitschriften "Science" und "Nature Structural and Molecular Biology" erschienen sind.
"Black Box" Komplex I
Im England der 1990er-Jahre konnte erst eine rudimentäre Grundlage für diese späteren Forschungstriumphe gelegt werden. Am Imperial College, wo der Fokus auf der Photosynthese lag, widmete sich Sazanov noch dem Energiestoffwechsel von Pflanzen, genauer "einem speziellen Typus von Komplex I, den wir NDH Komplex I nannten". Nach drei Jahren als Research Fellow (1994 bis 1997) in London erfolgte der Sprung ans MRC Laboratory of Molecular Biology in Cambridge. Die Forschungseinrichtung mit Weltruf, die bereits zahlreiche Nobelpreisträger hervorgebracht hatte, konnte sich schon gut eine Woche nach der Ankunft Sazanovs mit einer weiteren dieser renommierten Auszeichnungen schmücken. Der am MRC tätige Molekularbiologe John E. Walker bekam 1997 gemeinsam mit Paul Delos Boyer und Jens Christian Skou für seine Arbeiten an ATP den Nobelpreis für Chemie zugesprochen.
Sazanov blieb jedoch bei der Arbeit an Komplex I, dem er, wie er sagt, spätestens in Cambridge völlig verfallen ist. "Als ich nach Cambridge kam, waren die Strukturen der fünf großen Komplexe der Atmungskette, schon recht bekannt. Aber Komplex I war ein komplettes Rätsel, eine Black Box, zu der es keinerlei Informationen gab." Und genau diese Tatsache war es auch, die Sazanov sein ganzes Forscherleben immer wieder reizen sollte - eine harte Nuss wie Komplex I zu knacken. "Alles was ich darüber wusste war, dass es L-förmig war. Ich dachte, ich will diese Herausforderung. Meine Idee war immer, an etwas zu arbeiten, das sehr wichtig und herausfordernd ist, und mich nicht mit etwas Kleinem zufriedenzugeben."
Das "L" von Komplex I setzt sich aus einem hydrophilen, peripheren Arm, der in die Mitochondrienmatrix hineinragt und einem hydrophoben Membranarm zusammen. Im winzigen Reich der Mitochondrien ist diese Struktur geradezu riesig: "Die anderen Komplexe der Atmungskette sind höchstens halb so groß oder noch weniger." Komplex I besteht aus 45 verschiedenen Proteinen und wiegt ungefähr 1 Million Daltons. Das sind keine Comic-Charaktere, sondern ist die atomare Masseneinheit, die bei der Angabe von nicht nur von Atom-, sondern auch von Molekülmassen verwendet wird.
Als Post Doc in Walkers Forschungsgruppe forschte Sazanov drei Jahre lang am Komplex 1 von Rindern. Ab dem Jahr 2000 leitete er in der Abteilung für Mitochondrienbiologie bis 2006 eine eigene Gruppe, erhielt anschließend eine Laufbahnstelle und blieb bis 2015 in Cambridge. 2006 konnte er dort die Struktur der hydrophilen Domäne auflösen, 2011 die Membrandomäne und 2013 schließlich den ganzen Komplex I (von Bakterien).
Eine Frage der Auflösung
Die schrittweise Auflösung der Struktur von Komplex I und anderer Moleküle der Atmungskette war immer auch eng an die technologische Entwicklung in Mikroskopie und Informatik gekoppelt. Konventionelle Methoden wie die Röntgenkristallografie können nur starre Strukturen erfassen, und auch bei der Auflösung sind ihr Grenzen gesetzt. Mittels der modernen Kryo-Elektronenmikroskopie (Kryo-EM) dagegen ist es möglich, biologische Proben schockzugefrieren und in ihrem natürlichen Zustand zu beobachten. Am IST Austria steht Sazanov das leistungsstärkste Kryo-Elektronenmikroskop Österreichs zur Verfügung, an dessen Weiterentwicklung er sich auch aktiv beteiligt.
Bevor aber diese Methode in ihrer heutigen Form zur Verfügung stand, musste Sazanov in England den technischen Limitierungen Tribut zollen und ging zunächst einen Schritt zurück. "Ich dachte mir, dann arbeite ich eben am bakteriellen Komplex 1, der ist nur halb so groß und besteht nur aus 14 Untereinheiten anstatt 45 bei jenem von Säugetieren." Der Mechanismus und die Form sind aber im Grunde die gleichen. "Das war also komplett meine Eigeninitiative. Als ich damit begann, hat es gleich ziemlich gut funktioniert und es wurde mir angeboten, eine eigene Gruppe in der Mitochondrien-Biologie aufzubauen", so Sazanov über die Anfänge in Cambridge.
Tapetenwechsel führt nach Österreich
Mit der Klärung der Struktur des bakteriellen Komplex I 2013 hatte Sazanov schon viel erreicht und sah sich erneut an einem Wendepunkt angekommen. "Danach dachte ich, es wäre vielleicht gut, woanders hinzugehen, einen Tapetenwechsel zu machen - weil wir waren da schon gut 20 Jahre in England." Die Vereinigten Staaten oder (Kontinental)-Europa sollten es werden, "irgendwo wo es nett ist, in der Nähe von Bergen vielleicht". Und so bewarb sich der Forscher 2015 am IST Austria und war bei einem Besuch beeindruckt von der Einrichtung und den Umweltbedingungen. Die Entscheidung für die erst vor wenigen Jahren aufgezogene Forschungseinrichtung in Klosterneuburg fiel nicht schwer. "Es schaute nach einem guten Ort zum Leben aus und zu der Zeit ist die Kryo-EM wirklich abgehoben." Während man zuvor zehn Jahre mit der Lösung einer Struktur verbringen konnte, verringerte sich diese Zeit durch Verbesserungen bei der neuen Technologie auf wenige Monate.
Auch am IST vertiefte sich Sazanovs Team weiter in den Komplex I. "Wie wussten wie es aussieht, aber nicht wie es funktioniert. Aber wie es funktioniert war sehr schwer zu begreifen, weil es so riesig ist. (...) Aber heute haben wir eine sehr gute Vorstellung davon wie es funktioniert. Ich glaube, wir haben das Rätsel wirklich gelöst." Die Arbeit an Komplex I ist aber nicht nur dem persönlichen Ehrgeiz des Wissenschafters geschuldet, Rätsel zu lösen, es ist auch klassische Grundlagenforschung für Medizin und Pharmakologie. "Es gibt Hunderte von Mutationen im Komplex I, die Krankheiten verursachen." Eine dieser Krankheiten ist eine Form der Optikusatrophie, die zur Erblindung der Betroffenen führt. Auch Muskeldystrophien und andere, neurodegenerative Erkrankungen seien auf Mutationen in diesem Bereich zurückzuführen. Die Grundlagenforschung an der Struktur und Funktion von Membranproteinen bietet darum wertvolles Hintergrundwissen für die Entwicklung von Medikamenten. "Wenn man nicht weiß, wie es funktioniert, ist es wirklich schwer, Wirkstoffe zu entwickeln und jetzt, da wir das hoffentlich wissen, können wir versuchen, einige Mutationen auf neue Arten zu umgehen."
Gekommen, um zu bleiben?
Am IST Austria fühlt sich Sazanov sichtlich wohl. Die meiste Zeit des Tages verbringt er üblicherweise mit dem Schreiben oder Entwerfen eines wissenschaftlichen Papers, dafür verwendet er geschätzt mehr als ein Drittel seiner Arbeitszeit. Mindestens ebenso viel Zeit nimmt sich der Wissenschafter für das Überprüfen der Daten, die aus den Experimenten seiner Gruppe hervorgehen. Passt etwas mit Theorie und Praxis nicht zusammen, dann stürzt ihn das nicht in Verzweiflung. Eher im Gegenteil: "Ich mag Herausforderungen. Manchmal muss man einfach ums Eck denken, wie bei einem Zauberwürfel (Rubikwürfel). Einmal hatte ich ein Problem, ein Modell von Komplex I zu erstellen, und ich raufte schon zwei Wochen mit der Lösung herum. Dann ging ich Schwimmen und dachte plötzlich, vielleicht müssen wir das komplett anders angehen. Es klappte sofort."
Komplex I wird Sazanov innerhalb und außerhalb des Swimmingpools weiterhin "verfolgen". Nach Jahrzehnten an intensiver Forschung sticht für den Wissenschafter jener Moment besonders hervor, als er die spezielle Anordnung von Atomen und Molekülen im Komplex I zum ersten Mal im Mikroskop beobachten konnte. "Es war wirklich ein starkes Gefühl, dass man der erste Mensch der Welt ist, der weiß, wie das aussieht. Niemand wusste es." Wie das Enzym aussieht und funktioniert, weiß man nun ja ziemlich gut, "aber wir wollen noch ein paar kleinere verbleibende Probleme ausbügeln". Mit Spannung werde auch weiterhin das "sehr heiß diskutierte Thema" der ATP-Synthase betrachtet, so Sazanov. Diese produziere nicht nur Energie, sondern könnte via der sogenannten Mitochondrialen Permeabilitäts-Transitions-Pore auch in den Zelltod involviert sein, vermutet der Biophysiker, der diese Theorie durch weitere Forschungen belegen will.
"Irgendetwas mit Zügen"
Ist der Forscher einmal nicht den Energieprozessen des Lebens auf der Spur, lädt er seine Batterien am liebsten in der Natur auf oder beim Lesen von Büchern am Wochenende. Eine Leidenschaft war vor langer Zeit das Malen, irgendwann ist dieses Hobby aber in Vergessenheit geraten. "Ich ging in die Kunstschule und bis in meine 20er habe ich ziemlich viel gemalt, hauptsächlich Porträts. Ich denke jetzt daran, das wieder aufzunehmen. Bis jetzt hatte ich keine Zeit, aber ich genieße Ausstellungen sehr und versuche, keine zu verpassen."
Nach Österreich ist Sazanov mit seiner zweiten Frau, ebenfalls eine Russin, und dem gemeinsamen Sohn Maxim gekommen. Der mittlerweile Achtjährige spielt gerne Gitarre und ist an wissenschaftlichen Experimenten, auch jenen des Vaters, interessiert - wenn auch für deren Verständnis eine bildhafte Sprache notwendig ist. Als vor einigen Jahren Journalisten der "Zeit" im Kindergarten des Buben vorbeischauten und die Kinder über die Berufe ihrer Eltern befragten, gab Maxim zu Protokoll, sein Vater arbeite an irgendetwas mit Zügen, wie Sazanov lachend erzählt: "Ich hatte ihm Komplex I am Computer gezeigt und gesagt, das funktioniere ein wenig wie ein Zug. An das hat er sich erinnert und sie haben es veröffentlicht."
"Do you speak English?"
Die Familie scheint das Leben in Österreich zu genießen, die Vorzüge des Landes würden sich neben dem angenehmen Klima ("Die Sommer sind großartig, ich liebe heißes Wetter") beispielsweise auch im Gesundheitswesen zeigen: "Man kann zum Arzt gehen, wann immer man will. In England ist das so nicht der Fall, das kann ziemlich schwierig werden." Nahe an einem Wald lebend, genießt man die Natur, geht aber auch gerne in die Oper oder in Museen. "Was in Wien im Vergleich zu London ein bisschen fehlt, ist die Präsenz moderner Kunst. Und ich liebe englisches Theater und die englische Sprache, weil ich halt auch noch kein Deutsch verstehe."
In naher Zukunft dürfte es die Familie Sazanov also nicht von hier wegziehen, obwohl die Einheimischen aufgrund der Sprachbarriere manchmal kurz angebunden sind: "Sogar ohne Deutsch ist es nett hier. Ich dachte, ich würde es bis jetzt lernen, aber ich hatte noch keine Zeit dafür. Aber auch nicht alle hier sprechen Englisch. Manchmal ruft man wo an und fragt 'Do you speak English?', und es wird einfach aufgelegt."
Von Mario Wasserfaller / APA-Science