Ein gutes Leben für alle
Mit der "Agenda 2030" will die UNO nichts weniger als eine "Transformation der Welt" herbeiführen. Gelingen soll das mit Hilfe von 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) rund um Ökologie, Soziales und Wirtschaft, die von allen 193 Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Großer Wurf oder Utopie? APA-Science hat sich den ambitionierten Aktionsplan näher angesehen.
Es war der "größte Beteiligungsprozess in der Menschheitsgeschichte", der zu den im September 2015 von der UNO-Hauptversammlung verabschiedeten SDGs (Sustainable Development Goals) geführt hat, erklärte die Umwelthistorikerin Verena Winiwarter gegenüber APA-Science. Die UNO selbst sieht in der Resolution A/70/L.1 "Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung" das bisher ehrgeizigste Programm "gegen Armut und für den Planeten", das jemals beschlossen wurde. Im Fokus stehen etwa die Bedrohung durch den Klimawandel, die dramatischen Biodiversitätsverluste oder die zunehmende Ungleichheit innerhalb von Ländern, die Demokratie und sozialen Zusammenhalt gefährden.
Konsultationen und "globale Konversationen"
Parallel zu den formellen Konsultationen auf Ebene der Regierungen wurden für die Agenda 2030 in den Jahren vor 2015 annähernd zwei Millionen Menschen in 88 Ländern in Form von "globalen Konversationen" eingebunden. Das hoch komplexe politische Rahmenwerk folgt direkt den Millenniums-Entwicklungszielen (Millennium Development Goals, MDGs) nach, die im September 2000 beschlossen wurden und bis 2015 Gültigkeit hatten.
Stand bei den MDGs vor allem der Kampf gegen die globale Armut im Mittelpunkt, hat sich der thematische Fächer bei den SDGs vor allem um Umweltthemen erweitert (6. "Sauberes Wasser und Sanitärversorgung", 13. "Maßnahmen zum Klimaschutz", 14. "Leben unter Wasser", 15. "Leben an Land"). Zu den 17 Zielen gehören insgesamt 169 spezifischere Zielvorgaben. Wo beispielsweise das Ziel 4 eine hochwertige Bildung und lebenslanges Lernen für alle vorsieht, präzisiert Punkt 4.6.: "Bis 2030 sicherstellen, dass alle Jugendlichen und ein erheblicher Anteil der männlichen und weiblichen Erwachsenen lesen, schreiben und rechnen lernen."
Die SDGs sind untereinander so verflochten, dass zum einen ein "Rosinenklauben" einzelner Maßnahmen für die Staaten nicht möglich ist, erläutert Winiwarter, sondern dass sich alle Länder allen Themen widmen müssen. Zum anderen sei durch diese Netzwerk-Struktur einer "Versäulung und Vereinzelung" a priori ein Riegel vorgeschoben.
Rolle der Wissenschaft
Rund um die Veröffentlichung der SDGs begann sich bereits die Wissenschaft mit ihnen zu befassen, um ihre Struktur und Wirkungsweise zu beleuchten. Laut dem von Winiwarter herausgegebenen Report "KIOES Opinions 8" (Umwelt und Gesellschaft - Herausforderung für Wissenschaft und Politik) wurden die SDGs 2016 von 650 Publikationen im Titel, der Kurzfassung oder den Schlüsselworten erwähnt (Elsevier-Datenbank Scopus). 2017 waren demnach 915 Publikationen in dieser Datenbank mit diesen Themen registriert.
Einige dieser Arbeiten haben sich explizit damit beschäftigt, wie die Ziele zueinanderstehen. Während es einleuchtend sei, dass sich etwa die Ziele 6 (Sauberes Wasser) und 14 (Leben unter Wasser) synergetisch unterstützen, könnten sich auch Widersprüche auftun, erklärt Winiwarter die Ausgangslage. "Die allermeisten Ziele stehen nicht in einem störenden Verhältnis", fasst die Expertin vom Institut für Soziale Ökologie der Universität für Bodenkultur (Boku) zusammen. Wenn man sich ansehe, welche Paare von Zielen die meisten Synergien zueinander aufweisen und jene die einander am meisten ausschließen, dann werde ersichtlich, dass das Ziel Nummer 1 mit den meisten anderen positiv verknüpft ist: "Wenn man also Armut bekämpfen will, ist das gleichzeitig gut für die Geschlechtergerechtigkeit oder für das Thema Hunger."
Dagegen treten naturgemäß Zielkonflikte rund um das Ziel 12 (Nachhaltige Produktion) auf (siehe dazu auch "Die Suche nach dem Geschäftsmodell für Nachhaltigkeit") auf - wenig überraschend etwa im Kontext mit der Armutsbekämpfung (siehe auch "Kampf gegen Armut und Ungleichheit: 'Ohne Bewusstsein ist es aus'"). Als wesentlicher Kritikpunkt der Agenda kristallisierte sich auch das Ziel 8 heraus, das ein "dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum" forciert. Laut KIOES-Report wurde darauf hingewiesen, dass es durch Marktmechanismen bisher noch nicht gelungen sei, den Ausstoß von Treibhausgasen wirksam zu reduzieren und Biodiversitätsverluste zu stoppen.
Eine Schlüsselrolle in diesem komplexen Geflecht kommt, so oder so, dem Ziel 12 zu, hat eine Netzwerkanalyse ergeben. Winiwarter: "'Nachhaltiger Konsum und Produktion' steht im Zentrum und hat am meisten Verbindungen zu anderen SDGs. Am zweitwichtigsten ist das Ziel 10, weniger Ungleichheit. 10 und 12 sind miteinander ganz dramatisch verbunden, ohne die geht gar nichts."
Obwohl sich diese beiden Ziele für eine Priorisierung eignen würden, ändert sich die Perspektive, wenn man etwa das "Wedding Cake"-Diagramm des Stockholm Resilience Centre betrachtet (siehe nebenstehende Grafik). Bei dieser Drei-Schichten-Logik sei die Absicht dahinter, so Winiwarter, dass der größte Boden der Torte die Umwelt- bzw. Biosphärenziele sind. Dann kommen die sozialen Ziele und ganz oben die wirtschaftlichen: "Das ist aber nicht eine Priorisierung, sondern die Message ist, ohne diesen großen unteren Tortenboden können die kleineren oberen Tortenböden nicht existieren."
Bericht über Fortschritte noch heuer
Während es bis dato recht unterschiedliche Einschätzungen darüber gibt, wie gut oder schlecht die einzelnen Staaten die Nachhaltigkeitsziele bereits umsetzen (siehe "Die Kraft der Agenda 2030 auf den Boden bringen"), wurde eine offizielle Einschätzung über den Fortschritt der Agenda 2030 im Gegensatz zu anderen UN-Berichten erstmals einer Gruppe von 15 unabhängigen Wissenschaftern anvertraut. Derzeit sind die Experten intensiv mit der Erstellung des "Global Sustainable Development Report 2019" beschäftigt, der erstmals im Juli und in weiterer Folge im September bei der Generalversammlung der UNO vorgestellt werden soll.
Einer der daran beteiligten Wissenschafter ist der österreichische Demograf Wolfgang Lutz, der den Diskussionsprozess unter "extrem heterogenen Persönlichkeiten" und Hintergründen so beschreibt: "Wir müssen uns erst zusammenraufen und finden jetzt erst langsam Konsens. Nach langen Diskussionen haben wir uns darauf geeinigt, dass das übergeordnete Ziel die nachhaltige Lebensqualität für die Menschen ist: Das 'Sustainable Human Wellbeing' ist das Wording, das wir gefunden haben. Letztlich geht es darum, die lebenserhaltenden Systeme und eine funktionierende Umwelt in jeder Hinsicht zu erhalten, um sozusagen menschliche Lebensqualität auf diesem Planeten weiterhin zu ermöglichen."
Bei einem so diffizilen, globalen Projekt wie der Agenda 2030 ist es keine triviale Frage, wo man am ehesten ansetzen soll und wie eine möglichst große Hebelwirkung erzielt werden kann. Der Hauptfokus sollte für Lutz auf "Bildung und Gesundheit" liegen, worauf er unter Bezugnahme auf Martin Luther in einem mit "Sola schola et sanitate" betitelten PNAS-Artikel verwiesen hat. "Es gibt Evidenz die zeigt, wie das allgemeine Bildungsniveau in der Bevölkerung eine Voraussetzung dafür ist, zu verstehen, wie ernst die Lage ist", betont Lutz.
"Years of Good Life"
Bildung und Gesundheit sind auch wesentliche Elemente in einem neuen, vom Europäischen Forschungsrat (ERC) geförderten Forschungsprojekt, bei dem Lutz und sein Team an einem Indikator namens "Years of Good Life" arbeiten, der als Kriterium für nachhaltige Entwicklung dienen könnte. "Die Voraussetzung jeglicher Lebensqualität und gute Lebensjahre genießen zu können, ist zunächst einmal, am Leben zu sein", so der Direktor des Vienna Institute of Demography der ÖAW und Gründungsdirektor des Wittgenstein-Zentrums für Demografie und Globales Humankapital.
Ebenso gehe es auch darum, einen Indikator zu finden, der quer über alle Kulturen als etwas Erstrebenswertes angesehen wird: "Etwas, was sowohl ein Wall Street Broker als auch ein buddhistischer Mönch oder Jäger und Sammler in Afrika wirklich gemeinsam unterschreiben können: Das ist die Vermeidung eines frühzeitigen Todes von mir selbst oder meinen Kindern. Es geht nicht nur ums Überleben, sondern auch um das Überleben in einem guten Status, das ist das 'Good Life'."
Dabei sollen die subjektive Lebenszufriedenheit erhoben werden, aber auch objektive Kriterien wie die Freiheit von Armut und physische und psychische Gesundheit. Ziel des fünfjährigen Projektes ist ein Indikator, der Vergleiche zwischen Ländern aber auch Sup-Populationen darüber erlaubt, wie sich positive (etwa medizinischer Fortschritt, sozialer Zusammenhalt) und negative Faktoren (Klimawandel, Konflikte) auf die "guten Lebensjahre" auswirken.
Eine Frage der Kommunikation
Allgemein gibt es für Lutz im Bezug auf die SDGs noch Nachholbedarf bei der "öffentlichen Identifikation und der Identifikation der Regierung und der Politik mit diesen Zielen". Daneben liege eine der Schwachstellen "in der Frage der öffentlichen Wahrnehmung der nachhaltigen Entwicklungsziele" und in dem Umstand, "dass fast niemand davon weiß." Ähnlich erkennt Winiwarter darin ein Problem, dass die SDGs noch nicht in der österreichischen Öffentlichkeit "angekommen" sind. Vor diesem Hintergrund hat die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) die Konferenz "Global Sustainable Development Goals in a Mediatized World" organisiert, bei der die Rolle der Medien im Kontext mit Nachhaltigkeit im Mittelpunkt steht.
Eine Schlüsselrolle für das Transportieren der SDGs sieht Winiwarter in den Medien: "Eines der wichtigsten Dinge, die jedes Land für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen tun kann, sind unabhängige, öffentlich geförderte Medien zu sichern - und die kritische Gegenöffentlichkeit entsprechend auch sichtbar, hörbar und für die Gesellschaft verfügbar zu machen." Die Öffentlichkeit sei auf Medien angewiesen, deshalb sei es bedauerlich, dass es kein Ziel "unabhängige Medien" in den SDGs gebe, sagt Winiwarter: "Ich hätte mir wahnsinnig gewünscht, dass Demokratie und unabhängige Medien, die für mich Hand in Hand gehen, als ein eigenes Ziel vorhanden sind."
Kommunikationswissenschafter Matthias Karmasin erwartet sich von der Konferenz neben der Vernetzung von Wissenschaftern und Medien, "dass man in der Scientific Community ein Bewusstsein für das Thema nachhaltige Entwicklung weckt. Wissenschaftlich solide Ergebnisse alleine zu produzieren reicht nicht mehr aus. Wir leben in einer mediatisierten Welt. Ich muss mir überlegen, wie kann ich das über die Rampe bringen."
Handbuch für Nachhaltigkeits-Kommunikation
Innerhalb der Kommunikationswissenschaften sei Nachhaltigkeit ein relativ neues Forschungsgebiet, erklärte der Experte vom Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Klagenfurt, der die Konferenz u.a. gemeinsam mit Lutz und Winiwarter initiiert hat, gegenüber APA-Science. Gerade im Entstehen ist das erste "Handbuch für Nachhaltigkeits-Kommunikation", das im Herbst erscheinen soll und an dem Karmasin beteiligt ist. Inhaltlich will der Kommunikationswissenschafter noch nicht vorgreifen, nur soviel: "Eine Beobachtung die ich auch empirisch mache ist, dass man wirklich versuchen muss, sich in diesem Thema von üblichen Verwertungsroutinen zu lösen und andere Formen zu finden."
Darunter könne man dialogische, partizipative Formen des Erzählens und Berichtens verstehen, etwa, dass "die Geschichte, die ich im Print oder auf der Webseite veröffentliche, der Beginn der Geschichte ist, nicht das Ende". Sein Appell an Medienhäuser wäre, "Nachhaltigkeitsberichterstattung als Querschnittsmaterie zu sehen", also eine thematische Aufteilung auf verschiedene redaktionelle Ressorts - von Chronik über Wirtschaft bis Wissenschaft.
In der medialen Verwertung müsse man zunächst einen Unterschied zwischen Nachhaltigkeit und den SDGs machen. "Nachhaltigkeit wird in verschiedensten Dimensionen verhandelt - sozialen, ökonomischen, ökologischen, kommunikativen-. während die SDGs relativ konkrete Handlungsanweisungen sind und auch einen Konsens über das, was zur Rettung des Planeten sinnvoll zu tun wäre, abbilden."
Unbequeme Wahrheiten erzählen
Die Rolle von Medien im Allgemeinen, aber auch von Journalismus im Speziellen im Zusammenhang mit den Nachhaltigkeitszielen lasse sich sehr schön mit dem Titel von Al Gores Oscar-prämierten Dokumentarfilm "An Inconvenient Truth" (Eine unbequeme Wahrheit) umschreiben, der die Gefahren des Klimawandel thematisierte. "Es ist unangenehm, den Leuten zu erzählen, sie dürfen weniger Autofahren oder weniger Fleisch essen. Vielleicht gibt es sogar Wachstums- und Umverteilungsnachteile, gerade in einem sehr reichen Land wie Österreich", so Karmasin. Dabei gehe es auch um die Grundfrage, wie sich empirische Evidenz in politische und ökonomische Entscheidungen überführen lasse, also eben konsequenterweise weniger Fleisch zu essen oder vermehrt öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen.
Über unangenehme Themen zu berichten sei, medial gesehen, die Kehrseite der Medaille. "Storytelling ist immer dann einfach, wenn es 'Quick Wins' gibt. Wenn ich von Green Jobs, Green Energy, Ersparnis erzählen kann. Seien wir uns ganz ehrlich: In den SDGs stehen viele Dinge drin, die unangenehm sind, die Umverteilung, Verzicht, Einschränkung bedeuten, und in heutigen Zeiten - horribile dictu - Standortnachteil."
Sich in der Kommunikation auf die SDGs zu fokussieren, statt allgemein nur von Nachhaltigkeit zu sprechen, hält Karmasin für "sehr sinnvoll". Im Grunde gehe es trotz aller Komplexität wieder um simple Erkenntnisse: "Ich halte die Frage, ob wir die SDGs gesellschaftlich verhandeln müssen, eigentlich für eine ganz einfache. Wollen wir diesen Planeten unseren Kindern in einem schlechteren oder in einem besseren Zustand übergeben, als wir ihn übernommen haben? Das ist nur eine scheinbar triviale Frage. Aber das ist die Frage, um die es hier geht: Leben wir auf Kosten zukünftiger Generationen?"
Von Mario Wasserfaller / APA-Science