Das Internet einmal abschalten und nachdenken
Die rasante technologische Entwicklung lässt manchmal grundlegende Fragen vergessen. Etwa: Wollen wir diese alles durchdringende, omnipräsente Digitalisierung überhaupt - und wozu soll das gut sein? Der Informatiker und Philosoph Peter Reichl von der Universität Wien schlägt darum ein Internet vor, das für den Menschen da ist (Internet of People), und nicht nur für Dinge (Internet of Things).
"Momentan ist nicht die Zeit, weiter und weiter Lösungen zu produzieren. Wir müssen erst einmal die Fragen stellen", forderte Reichl im Gespräch mit APA-Science. Konkret bemängelt der Leiter der Forschungsgruppe Cooperative Systems (COSY) an der Fakultät für Informatik der Universität Wien die zu starke technische Perspektive auf viele Themen. Überall lese und höre man von Digitalisierung oder dem Internet of Things, doch niemand frage dabei Durchschnittsbürger, ob sie das auch wollen.
"Das Internet hat seine Unschuld insofern verloren, als dass es als eine Art Spielwiese für Forscher begonnen hat, die inzwischen vollständig der Kommerzialisierung zum Opfer gefallen ist", sieht Reichl "eine gewisse Wendezeit" herangebrochen. Informatiker würden sich andererseits, teilweise auch aus der Logik des Universitäts- und Forschungsbetriebs heraus, viel zu wenig mit übergeordneten Themen befassen. Eigentlich müsse man das Internet wohl einmal zwei Jahre lang abschalten und nachdenken, wie die Entwicklung weiter gehen und wem sie wirklich nützen solle. Denn die bisherige globale Wachstumsideologie, die heute ja überall an ihre natürlichen Ressourcengrenzen stoße, einfach in den virtuellen Raum hinein zu verlagern, wo es solche Grenzen nicht zu geben scheine, könne sich leicht als folgenschwerer Trugschluss erweisen.
Menschen holistisch betrachten
Auf den Pfad der Reflexion führen soll ein Denkansatz, den Reichl unter dem Kunstwort "Digitale Anthropologie" subsumiert: "Damit meine ich eine philosophische Anthropologie im digitalen Zeitalter." Hintergrund dafür sei ein mittlerweile bereits etwas offenerer Diskurs, der eine holistische Betrachtungsweise des Menschen einer rein ökonomisch-rationalen vorzieht. Geistiges Unterfutter für diesen Prozess bietet Reichl unter anderem die Beschäftigung mit dem Werk des Wiener Philosophen Günther Anders (1902-1992), der sich etwa kritisch mit den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki sowie dem Fernsehen und anderen technischen und ethischen Herausforderungen seiner Zeit auseinandergesetzt hat.
"Anders sprach von einem 'prometheischen Gefälle'. Wir Menschen stellen Dinge her, von denen wir uns gar nicht vorstellen können, was sie mit uns machen", so Reichl. Das Musterbeispiel dafür sei die Atombombe, die Anders als etwas "Monströses" bezeichnet hat. Auf die heutige Zeit umgelegt habe das Internet möglicherweise ein noch viel größeres, wenn auch anderes "monströses Potenzial".
Das liege schon daran, dass sich Anwendungen im Internet extrem rasch etablieren können, für deren Entwicklung oft schon vergleichsweise wenig Aufwand ausreicht. Beleg dafür sei zum Beispiel die Kryptowährung Bitcoin oder die Fahrdienstleistungs-App Uber. So könne, vereinfacht gesprochen, ein "unreflektierter Informatiker zu Hause im Keller" eine App programmieren, die ein paar Jahre später "jeden zweiten Taxler in Wien arbeitslos macht".
"Wiener Kreis für Digitale Anthropologie"
Es gelte daher zunächst einmal, die Informatik als Fachdisziplin in den Diskurs verstärkt einzubinden und das Bewusstsein über die Beschäftigung mit Hard- und Software hinaus zu schärfen. Um solchen Überlegungen mehr Raum zu geben, ist Reichl dabei, gemeinsam mit dem Team um Mark Coeckelbergh, Professor für Medien- und Technikphilosophie an der Universität Wien, eine Art "Wiener Kreis für Digitale Anthropologie" aufzuziehen.
Vor diesem Hintergrund wurde bereits 2015 eine "Special Interest Group" innerhalb der IFIP TC6 (International Federation for Information Processing/Technical Committee 6), einer internationalen Informatiker-Vereinigung, gegründet. An Reichls Institut selbst ist man dem Thema im Rahmen des PANDORA-Projekts auf der Spur (Philosophische Anthropologie zwischen Next Generation Internet, Digitaler Revolution und Antikopernikanischer Wende).
Dem Internet einen menschlicheren Anstrich zu geben ist mittlerweile auch Ziel von Forschungsprogrammen, etwa vonseiten der EU-Kommission mit der "Next Generation Internet Initiative". Und auch hierzulande hat die Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) das "Internet für den Menschen" bereits als eigenen Schwerpunkt in die 6. Ausschreibung des Programms "IKT der Zukunft" aufgenommen.
"Das Internet ist nicht kaputt"
Anstrengungen wie diese begrüßt Reichl. Mit der von Vertretern der EU-Kommission in diesem Kontext geäußerten Prämisse, das Internet sei "kaputt" (broken), weshalb man es nun "reparieren" müsse, kann er allerdings wenig anfangen. "Das Internet ist nicht kaputt, es ist wie es ist. Aber wir haben jetzt 25 Jahre Erfahrung damit und haben Zeit zu reflektieren, was es kann und was es nicht kann", so der Informatik-Professor, der aber gleichzeitig Geduld für diesen Prozess des Nachdenkens einfordert: "Wir müssen uns ganz fundamental von dem Paradigma verabschieden, da gibt es ein Problem und wir müssen sofort eine Lösung anbieten."
Von Mario Wasserfaller / APA-Science