Gesund altern - digital umsorgt?
Gastbeitrag --- In den letzten Jahren hat sich unser Verständnis von Gesundheit und Wohlbefinden im Alter grundlegend gewandelt. Altern galt lange als ein schicksalhafter Prozess - geprägt von körperlichem Abbau, Krankheit und zunehmender Abhängigkeit. Heute wird diese Lebensphase zunehmend als aktiv gestaltbar und durch präventive Maßnahmen beeinflussbar verstanden: als etwas, das sich mit dem richtigen Wissen, Verhalten und der passenden Technologie bewusst managen lässt.
Was wir beobachten, ist ein tiefgreifender Paradigmenwechsel: Altern wird nicht länger als passives Geschehen gedeutet, sondern als aktives Projekt. Getreu dem Sprichwort "Was wir säen, ernten wir" gilt gesundes Altern zunehmend als Belohnung für ein Leben in Vorsorge. Die Medizinanthropologin Annette Leibing spricht in diesem Zusammenhang von einer zunehmenden individuellen Verantwortungszuschreibung. Gesundes Altern wird zur persönlichen Leistung, die rechtzeitig geplant und aktiv herbeigeführt werden soll.
Diese Verschiebung fällt nicht zufällig mit einem schrittweisen Rückgang traditioneller Wohlfahrtssysteme zusammen: Ältere Menschen gelten zunehmend als aktivierbare Ressource und Technologien sollen helfen, diese Selbstverantwortung im Alltag umzusetzen. Vor diesem Hintergrund rücken Technologien, die individuelle Gesundheitsverantwortung unterstützen sollen, zunehmend in den Fokus - darunter auch Künstliche Intelligenz-Systeme, die Kommunikation zum Ziel haben. Beispiele umfassen Sprachassistenten wie Alexa und Siri oder Chatbots wie ChatGPT.
KI als vielversprechendes Werkzeug
Große Sprachmodelle (Large Language Models) ermöglichen es diesen Systemen, komplexe Gespräche zu führen, Gesundheitsinformationen zu verarbeiten und auf individuelle und situationsbezogene Bedürfnisse einzugehen. Sie gelten daher als vielversprechende Werkzeuge, um ältere Menschen im Alltag zu unterstützen. Ihr Anspruch ist hoch: Sie wollen nicht nur Gesprächspartner sein, sondern auch therapeutische Impulse geben, Gesundheitsinformationen strukturieren, Risiken vorausschauend einschätzen, Versorgung koordinieren oder interkulturelle Kommunikation unterstützen. Sie sollen nicht einfach begleiten, sondern helfen, verstehen, einordnen, warnen und vermitteln - eine digitale Sorgearbeit, die viele Rollen gleichzeitig übernimmt.
Ein Blick auf aktuelle Entwicklungen zeigt: Die technologische Realität holt die gesellschaftliche Vision ein. So etwa das System ElliQ der Firma Intuition Robotics. Was einst als sprachgesteuerte Assistentin begann, hat sich zu einem proaktiven kommunikativen KI-Begleitsystem gewandelt. ElliQ soll ältere Menschen aktiv ansprechen, Stimmungslagen erkennen, Verhaltensveränderungen registrieren und Angehörige informieren, wenn etwa der Schlaf gestört ist oder sich depressive Tendenzen zeigen. Sorgearbeit wird damit nicht ersetzt, sondern verlagert: weg von der unmittelbaren menschlichen Beziehung, hin zu einer permanenten digitalen Sorgearbeit.
Slogans wie "Der KI-Begleiter, der immer zuhört" oder "24/7 Unterstützung für mehr Selbstständigkeit im Alter" klingen vielversprechend - und zugleich ambivalent. Denn sie markieren einen Übergang: Pflege, Gesundheit, Prävention werden in eine durchdigitalisierte, datenbasierte Logik überführt. Es entsteht eine neue Form von Sorgearbeit - eine, die nie schläft.
Doch was bedeutet das konkret für ältere Menschen und für uns als Gesellschaft? Wie wird die Zukunft der Pflege durch kommunikative KI antizipiert? Welche Vorstellungen von gesundem Altern und Pflege sind in diese Technologien eingeschrieben? Und wie lassen sich solche Systeme partizipativ mitgestalten? Diesen Fragen widmet sich die vom FWF geförderte Forschungsgruppe "Gesundheit: Sorgearbeit durch kommunikative KI" an der Universität Graz, die Teil einer größeren internationalen Forschungsgruppe "Kommunikative Künstliche Intelligenz: Die Automatisierung der gesellschaftlichen Kommunikation" ist. FWF Grant-DOI 10.55776/I6947.
Mehr Informationen: www.comai.space
Zu den Personen:
Juliane Jarke ist Professorin für Digitale Gesellschaft an der Universität Graz. Zuvor hat sie an der Universität Bremen in der Angewandten Informatik geforscht und an der Lancaster University in Großbritannien im Feld der sozialorientierten und kritischen Technikforschung promoviert. Im Fokus ihrer Arbeit stehen daten-intensive Technologien und deren Einsatz in den Bereichen Bildung, öffentlicher Sektor und demographischer Wandel. Sie leitet das Projekt "Gesundheit: Sorgearbeit durch kommunikative KI".
Sara Skardelly ist seit Jänner 2025 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin im Projekt "Gesundheit: Sorgearbeit durch kommunikative KI" an der Universität Graz und erforscht die Zukunftsantizipationen zu kommunikativer KI im Gesundheitsbereich durch einen multi-methodischen Ansatz. Zuvor schloss sie ihren Master in Computational Social Systems an der Technischen Universität Graz ab.
Service: Dieser Gastbeitrag ist Teil der Rubrik "Nachgefragt" auf APA-Science. Die inhaltliche Verantwortung liegt beim Autor/der Autorin.