Wieviel Sicherheit schafft die Arbeitslosenversicherung
Die Arbeitenden wollen mehr als nur gute Löhne. Die Sicherheit des Lohneinkommens steht ganz oben auf dem Sorgenbarometer. Die Arbeitslosenversicherung schützt die Arbeitenden vor Wohlstandsverlusten bei Arbeitslosigkeit und bietet Sicherheit. Eine grosszügige Absicherung mindert jedoch die Anreize bei der Jobsuche. Zudem stärkt eine grosszügige Absicherung den Rücken bei den Lohnverhandlungen. Höhere Löhne und hohe Sozialbeiträge mindern die Fähigkeit der Unternehmen, viele Jobs zu schaffen. Die Arbeitslosenrate steigt. So wird die Arbeitslosenversicherung teilweise selbst zur Quelle von mehr Risiko für die Arbeitenden. Was bleibt, ist eine schwierige Abwägung zwischen den Vorteilen der Arbeitslosenversicherung und ihren negativen Nebenwirkungen.
Christian Keuschnigg und Michael Kogler, Herausgeber.
Quelle: Fredriksson, Peter & Martin Söderström (2020), The Equilibrium Impact of Unemployment Insurance on Unemployment: Evidence from a Non-linear Policy Rule, Journal of Public Economics 187, 104199.
Die Arbeitslosenversicherung schafft soziale Sicherheit und wirtschaftliche Stabilität. Gerade grosse Krisen wie die aktuelle Corona-Pandemie verdeutlichen ihre Wichtigkeit. Regierungen weltweit haben den Zugang zu Geldern vereinfacht, Auszahlungen erhöht und die Dauer dieser verlängert. Solche Massnahmen können dem Einzelnen durch diese Zeit helfen. Das Ersatzeinkommen sorgt auch dafür, dass die Nachfrage weniger stark einbricht, und stabilisiert damit die Konjunktur. Gleichzeitig sollten aber auch mögliche Nebenwirkungen der Arbeitslosenversicherung nicht ausser Acht gelassen werden.
Eine grosszügigere Arbeitslosenunterstützung bietet den Jobsuchern oft einen schwächeren Anreiz, rasch eine neue Anstellung zu finden. Das verlängert die Arbeitslosigkeit. Zudem haben Arbeitslose eine finanziell ausreichende Alternative und können ein höheres Gehalt fordern. Dadurch werden weniger Stellen ausgeschrieben, weil sie aufgrund der steigenden Lohnkosten weniger rentabel sind. So kann eine grosszügige Arbeitslosenversicherung zu höherer Arbeitslosigkeit führen. Die Wirkung könnte jedoch auch umgekehrt sein. Tatsächlich hängen Höhe und Dauer der Auszahlungen an Arbeitslose oft von der wirtschaftlichen Lage ab. Je höher die Arbeitslosigkeit ist, desto länger oder grosszügiger fällt die Unterstützung aus. Das wirft die Frage nach der Kausalität auf: Führt eine grosszügigere Arbeitslosenunterstützung zu höherer Arbeitslosigkeit oder ist sie eine Folge davon?
Die Wissenschaftler Peter Fredriksson von der Universität Uppsala und Martin Söderström vom Schwedischen Institut für Arbeitsmarkt und Bildungspolitik untersuchen die Auswirkungen der Arbeitslosenversicherung am Beispiel Schwedens. Die spezifischen Regelungen in Schweden ermöglichen es ihnen, das Problem umgekehrter Kausalität zu vermeiden. In Schweden gibt es einen Maximalbetrag ("Deckel") der Arbeitslosenunterstützung.
Dessen Höhe wird auf nationaler Ebene einheitlich bestimmt, hat aber regional unterschiedliche Folgen. Arbeitslose in Regionen mit hohen Löhnen sind häufiger von der Auszahlungsgrenze betroffen und profitieren daher stärker von einer Anhebung des Deckels als jene in Regionen mit niedrigen Löhnen. Man kann also vergleichen, wie sich dieselbe Anpassung des Deckels verschieden auf die lokalen Arbeitsmärkte auswirkt. So gelingt es, die Auswirkungen der Versicherung auf die Arbeitslosigkeit besser zu identifizieren. Die Wissenschaftler nutzen dazu Daten aus dem Personenregister und der öffentlichen Arbeitsverwaltung zwischen 1992 und 2004. Aus diesen Quellen liegen Informationen zu Löhnen und Berufslaufbahn vor. Zusätzlich verwenden sie Aufzeichnungen zu den Arbeitslosenquoten in 227 schwedischen Gemeinden.
Mit diesen Daten schätzen sie, wie sich die Grosszügigkeit der Arbeitslosenunterstützung auf den lokalen Arbeitsmarkt auswirkt. Diese bemisst sich vor allem an der Ersatzrate, das ist der Anteil der Arbeitslosenzahlung am vorherigen Lohn. Die Forscher berechnen die effektiven Ersatzraten für jede der untersuchten Gemeinden. Diese hängen entscheidend vom erwähnten Maximalbetrag und dem lokalen Lohnniveau ab. Bei hohen Löhnen wird nur der Maximalbetrag des Deckels ausbezahlt, was angesichts der hohen Löhne eine niedrige Ersatzrate bedeutet. In den Regionen mit hohen Löhnen sind viele Arbeitslose von der Auszahlungsgrenze betroffen und erhalten den Maximalbetrag. Sie profitieren mehr als andere von einer Anhebung des Deckels. Deshalb wirken sich Änderungen des Deckels - dieser wurde im Beobachtungszeitraum sechs Mal angepasst - besonders stark auf die Ersatzraten in Gemeinden mit hohem Lohnniveau aus.
Die kalkulierten Ersatzraten berücksichtigen die Unterschiede der Lohnverteilung. Die Forscher stellen eine negative Beziehung zwischen Ersatzrate und Durchschnittslöhnen bei den 227 Gemeinden fest: Je reicher eine Gemeinde ist, umso niedriger sind die durchschnittlichen Ersatzraten. Denn dort befinden sich mehr Arbeitnehmer mit Löhnen über dem maximalen Auszahlungsbetrag.
In Schweden sind die absoluten Auszahlungsbeträge der Arbeitslosenversicherung durch eine einheitliche Obergrenze limitiert. Je höher das Lohnniveau einer Gemeinde ist, desto niedriger sind die effektiven Ersatzraten.
Die Ersatzraten nahmen über die Zeit ab: Im Jahr 2014 betrugen im Schnitt 53 Prozent, während sie 1992 noch bei 83 Prozent lagen. In den Gemeinden mit den höchsten Ersatzraten und einem niedrigen Durchschnittseinkommen war der Rückgang schwächer. In Gemeinden mit hohen Einkommen und niedrigen Ersatzraten hingegen schwankten diese stärker. Der Unterschied zwischen den Ersatzraten in diesen beiden Gruppen ist über die Zeit gestiegen.
Konkret betrachten die Forscher zwei Erhöhungen des Auszahlungsdeckels in den Jahren 2001 und 2002. Sie teilen die Gemeinden in zwei Gruppen ein: Solche, die von der Anpassung am stärksten betroffen waren und solche, die am wenigsten betroffen waren. Gemeinden mit einer Ersatzrate über dem nationalen Durchschnitt gehörten der letzteren Kategorie an. Abbildung 1 illustriert, dass in jener Gruppe die Ersatzrate um 1.4 Prozent weniger stark anstieg als bei den Gemeinden mit hohem Einkommen, nachdem der Deckel angehoben wurde. Auch die Arbeitslosenquote folgt einem ähnlichen Muster. Sie nahm in Gemeinden mit hohem Einkommen stärker zu, deren effektive Ersatzraten ebenfalls mehr stiegen.
Die empirischen Schätzungen zeigen einen Anstieg der Arbeitslosenquote um rund 3 Prozent, wenn die Ersatzrate um ein Prozent erhöht wird. Neben diesem "Makro"-Effekt schätzen die Forscher auch, wie sich eine höhere Ersatzrate auf das individuelle Risiko, arbeitslos zu werden, auswirkt. Betrachtet man die Ergebnisse für eine einzelne Person in einem typischen lokalen Arbeitsmarkt, nimmt die Wahrscheinlichkeit einer Arbeitslosigkeit um ca. 1.4 Prozent zu, wenn die Ersatzrate um ein Prozent steigt.
Die Arbeitslosenquote einer Gemeinde steigt um ca. 3 Prozent, wenn die Ersatzrate um ein Prozent höher ausfällt. Für eine einzelne Person steigt das Risiko, arbeitslos zu werden jedoch nur um ca. 1.4 Prozent.
Woher kommt diese Diskrepanz zwischen dem Anstieg der Arbeitslosenquote (Makro-Effekt) und dem individuellen Risiko des Jobverlusts? Eine Erklärung ist, dass Arbeitssuchende in den Lohnverhandlungen eine umso stärkere Position besetzen, je grosszügiger die Unterstützung ausfällt. Das erhöht die Lohnkosten, so dass die Unternehmen weniger Stellen ausschreiben. Peter Fredriksson und Martin Söderström können in der Tat zeigen, dass eine grosszügige Arbeitslosenunterstützung tendenziell zu höheren Löhnen führt.
Eine grosszügige Arbeitslosenunterstützung stärkt die Verhandlungschancen der Arbeitssuchenden. Nach einem Anstieg der Ersatzrate um ein Prozent nehmen die Löhne um 0.2-0.3 Prozent zu. Also Folge steigt die Arbeitslosenrate etwa doppelt so stark an wie das Arbeitslosenrisiko einer Einzelperson.
Die Forscher finden zudem, dass der Anstieg der Arbeitslosenquote zeitlich verzögert eintritt, während sich die Gehälter schneller anpassen. Schliesslich können sie auch zeigen, dass die effektiven Ersatzraten angrenzender Gemeinden einen Einfluss haben. Erhöht sich die Ersatzrate einer benachbarten Gemeinde um ein Prozent, so steigt die Arbeitslosenrate um ca. 1.5 Prozent.
Die Arbeitslosenversicherung schützt die Arbeitenden vor einem Wohlstandsverlust durch Arbeitslosigkeit und gewährt Einkommenssicherheit. Sie hat jedoch auch negative Nebenwirkungen. Arbeitslose suchen weniger intensiv nach neuen Stellen, so dass sie mit höherer Wahrscheinlichkeit arbeitslos bleiben. Mit einer grosszügigeren Absicherung im Rücken können sie auch höhere Gehälter durchsetzen. Mit höheren Löhnen stellen die Unternehmen weniger Personen ein. Peter Fredriksson und Martin Söderström zeigen, dass der Gesamteffekt der Arbeitslosenunterstützung grösser ist als ihr Einfluss auf einen einzelnen Arbeitnehmer.
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