"Anatomie eines Genozids": Rassismus und Nationalismus durch die Lupe
Buczacz ist ein idyllisch in einer Hügellandschaft gelegenes ukrainisches Städtchen mit 13.000 Einwohnern. Betrachtet man Fotos, kann man sich durchaus vorstellen, gerne dorthin zu reisen. "Buczacz ist heute ein heruntergekommenes postsowjetisches Provinznest - arm, verfallen und depressiv", schreibt Omer Bartov. Der 1954 in Israel geborene Historiker hat sich intensiv mit der Geschichte der Stadt beschäftigt. Sie ist erschütternd. Sein Buch heißt "Anatomie eines Genozids".
In der südöstlich von Lviv (Lemberg) gelegenen Stadt ist Simon Wiesenthal geboren und Omer Bartovs 1935 nach Palästina ausgewanderte Mutter aufgewachsen. 1995, drei Jahre vor ihrem Tod, begann ihr Sohn sie in Tel Aviv erstmals detaillierter nach ihrer Jugend im damaligen Ostpolen zu befragen. Daraus wurde ein Thema, das ihn nicht mehr losließ. Spuren der Vorfahren fand er kaum mehr, doch seine Suche in neun Ländern und unzähligen Archiven wurde ein gewaltiges Projekt, das erst nach über 20 Jahren abgeschlossen wurde und nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Bartov erzählt in seinem Buch auf fast 500 Seiten "Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz". Seine Mikrogeschichte der ostgalizischen Stadt wird als Meilenstein der Holocaust-Forschung gefeiert.
Grausame Nachbarn
Es ist eine schier endlose Abfolge von Gewalt. Plünderungen, Vertreibungen, Vergewaltigungen, Mord und Totschlag werden akribisch in Akten und Augenzeugenberichten aufgelistet, und sie bedrücken in zweifacher Weise: durch die oft besondere Grausamkeit der Taten und durch die Tatsache, dass sie immer wieder von Nachbarn an Nachbarn verübt wurden. Denn die im Mittelalter gegründete, multiethnische und vielsprachige Stadt in Osteuropa war immer vom Zusammenleben unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet. "Das Leben in Städten wie Buczacz beruhte auf der ständigen Wechselbeziehung zwischen verschiedenen religiösen und ethnischen Gemeinschaften", schreibt Bartov. "Die Juden lebten nicht getrennt von der christlichen Bevölkerung."
Auch in der österreichisch-ungarischen Provinz Galizien gab es ethnische Konflikte, die letztlich zum Untergang der k.u.k. Monarchie beitrugen, doch erst durch die polnischen und ukrainischen Nationalbewegungen bekamen die Zentrifugalkräfte überhand. Die Juden in Buczacz, die keine Minderheit, sondern die Mehrheitsbevölkerung darstellten, gerieten dabei zwischen die Fronten, denn der Hass auf sie war stets der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich erbitterte Streitparteien einigen konnten. Neben den ethnischen Säuberungen gab es Verheerungen durch unterschiedliche Besatzungen, da Buczacz immer wieder in die Kampflinie geriet und noch 1944 zuerst von Sowjettruppen befreit, danach jedoch kurzfristig von der Wehrmacht zurückerobert wurde - was einem Großteil der aus ihren Verstecken gekommenen Juden, die in den umliegenden Wäldern in Erdlöchern den Holocaust bis dato überlebt hatten, das Leben kostete.
Am grausamsten sind jedoch jene, von zahlreichen Augenzeugenberichten gestützte Kapitel, die vom gemütlichen Schreckensregime erzählen, das die nationalsozialistische deutsche Besatzungsmacht 1942/1943 in der Stadt einrichtete: Wenige Angehörige von Zivilverwaltung und Sondereinheiten bezogen in der Stadt Quartier, lebten mit der jüdischen Bevölkerung, während sie diese sukzessive durch Massenerschießungen und täglichen Terror dezimierte. Über 10.000 Juden wurden damals in Buczacz - oft mithilfe von Ukrainern, die sich in den Dienst der Besatzung stellten - umgebracht oder deportiert.
Täter mit Allmachtsfantasien
Bartov verschweigt nicht die umstrittene Rolle, die der örtliche Judenrat dabei spielte, fassungslos zeigt er sich jedoch, wie leicht die Täter nach dem Krieg quasi mit einem Schulterzucken in ihre früheren bürgerlichen Existenzen zurückkehren konnten: "Gerade weil die meisten deutschen Angeklagten und Zeugen aus der Region Czortkow-Buczacz nach dem Krieg jahrzehntelang schwiegen, leugneten und keinerlei Schuldbewusstsein zeigten, kann nicht oft genug darauf hingewiesen werden, wie öffentlich und unbekümmert gemordet wurde. Die Täter hatten das Gefühl, allmächtig zu sein und straffrei agieren zu können, und sie übten absolute Macht über Leben und Tod aus."
Die Ausrottung war eine vollständige. Die Juden, die über lange Zeit die größte Bevölkerungsgruppe der Stadt bildeten, wurden auch aus dem Gedächtnis getilgt. In einem 1985 erschienenen Stadtführer von Buczacz wurde "die reiche Geschichte und schöne Gegenwart" des Städtchens gepriesen. Von Massakern und Massengräbern, ja überhaupt nur von der Tatsache, dass hier Juden lebten und starben, war darin keine Rede.
Service: Omer Bartov: "Anatomie eines Genozids - Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz", Aus dem amerikanischen Englisch von Anselm Bühling. Suhrkamp Verlag, 486 Seiten, 28,80 Euro