Martin Karplus: Flüchtling zu sein, spielte für mich "zentrale Rolle"
Vom Flüchtling zum Nobelpreisträger und "einem der führenden Wissenschafter weltweit": wie Martin Karplus das geschafft hat, schildert er in seiner nun in deutscher Übersetzung vorliegenden Autobiographie "Facetten meines Lebens". Geholfen habe ihm dabei "meine optimistische Einstellung und mein Selbstvertrauen, manchmal hatte ich aber auch einfach Glück", wie er schreibt. Aber auch seine Flucht vor den Nazis aus seiner Heimatstadt Wien hat eine wichtige Rolle dabei gespielt.
Bereits 2006 und damit Jahre vor Verleihung des Chemie-Nobelpreises 2013 hatte Karplus unter dem Titel "Spinach on the Ceiling" einen 50-seitigen Rückblick auf sein Leben und Werk in einem Fachjournal veröffentlicht, damals noch mit dem Untertitel "A Theoretical Chemist's Return to Biology". 2020 hat er in seiner im Wissenschaftsverlag "World Scientific" auf Englisch erschienen Autobiographie "Spinach on the Ceiling" seine Erinnerungen um viele Facetten und Fotos erweitert und dem Buch konsequenterweise den Untertitel "The Multifaceted Life of a Theoretical Chemist" gegeben.
Nun ist im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) die deutsche Übersetzung erschienen. Der Spinat - eine Erinnerung an Karplus Kindheit in Wien, als der seinem Widerwillen gegenüber Spinat entstammende Fleck an der Decke des Grinzinger Hauses der jüdischen Familie blieb, bis diese wenige Tage nach dem "Anschluss" 1938 über die Schweiz und Frankreich in die USA flüchten musste - ist aus dem Titel verschwunden. Dafür fanden Karplus' Eigenschaften Eingang, mit denen er nach eigenem Bekunden Schwierigkeiten auf seinem Lebensweg überwinden konnte: "Facetten meines Lebens. Optimismus, Selbstvertrauen und manchmal Glück".
Ausgetretene Pfade verlassen
Er habe sich manchmal gefragt, "wie mein Leben wohl ausgesehen hätte, wenn ich in Wien geblieben wäre". Vielleicht hätte er auch Forschung betrieben, "aber vermutlich hätte ich nicht den gleichen Antrieb gehabt, etwas Besonderes zu erreichen, wie ich ihn als Ausländer in den Vereinigten Staaten verspürte. Dass ich ein Flüchtling war und nicht ganz dazugehörte, spielte für meinen Blick auf die Welt und meine Herangehensweise an die Wissenschaft eine zentrale Rolle. Es trug zu der Erkenntnis bei, dass ich die Arbeit in Fachgebieten, die ich nach meinem eigenen Gefühl verstand, getrost einstellen konnte, um mich stattdessen auf andere Forschungsgebiete zu konzentrieren und Fragen zu stellen, durch die ich und andere etwas Neues lernen konnten."
Diese Fähigkeit und dieser Mut, ausgetretene Pfade zu verlassen, haben Karplus nicht nur zu "einem der führenden Wissenschafter weltweit" (ÖAW-Präsident Anton Zeilinger) gemacht. Seine Neugier, Offenheit, vielseitigen Interessen und sein kluger Geist hat ihm auch ermöglicht, in völlig anderen Gebieten zu reüssieren. Sei es als Fotograf, dessen Bilder von seinen zahlreichen Reisen bereits in vielen Ausstellungen zu sehen waren, oder sein lebenslanges Interesse am Kochen, das ihn in einigen der besten Restaurants in Spanien und Frankreich wie El Bulli, Arzak, Les Freres Troisgros, Taillevent oder Robuchon arbeiten ließ.
Mehr Facetten seines Lebens
In Karplus' Autobiographie schillern seine Erinnerungen aber in noch viel mehr Facetten seines Lebens: etwa über seine Kindheit in Wien, das neue Leben in den USA, seine Studienjahre in Harvard und am California Institute of Technology, seine wissenschaftliche Karriere, die ihn u.a. nach Oxford, an die Columbia University, die Université de Strasbourg und schließlich wieder an die Harvard University führte, seine Erfahrungen mit Antisemitismus bei seinen Besuchen in Österreich, die Nobelpreis-Bekanntgabe und -Verleihung, seine "gemischten Gefühle" über die Reaktion Österreichs auf diese Ehrung, vor allem aber auch seine Begegnungen mit so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Charlie Chaplin, Max Delbrück, Linus Pauling, Richard Feynman und Barack Obama oder seine Erfahrungen mit dem FBI.
All dies mache das Buch "besonders auch für die junge Generation absolut lesenswert", so Zeilinger. Angesichts dessen, "was seine Familie, seine Freunde und viele andere Menschen jüdischer Abstammung in Österreich vor und nach dem Anschluss erleben mussten", sei es keineswegs selbstverständlich, dass er die Verbindung mit Österreich weiter gepflegt habe - dafür könne man "Martin Karplus nur sehr herzlich danken". Zeilinger wird zur Präsentation des Buchs am Mittwoch (29. Juni) per Videokonferenz mit Karplus sprechen, die Veranstaltung wird per Livestream übertragen.
Service: Martin Karplus: "Facetten meines Lebens. Optimismus, Selbstvertrauen und manchmal Glück", Verlag der ÖAW, 316 S., broschürte Ausgaben: 29 Euro, ISBN: 978-3-7001-9210-7; Buchpräsentation und Gespräch Anton Zeilinger mit Martin Karplus: 29. Juni, 17.00 Uhr: Livestream unter: https://www.oeaw.ac.at/veranstaltungen/live