Corona-Mutationen: Der "Wildtyp" und ein Buchstaben-Ziffern-Salat
Beim SARS-CoV-2-Virus handelt es sich um einen Erreger, dessen Erbgut in RNA-Form codiert ist und aus rund 30.000 Basen besteht. Wie bei allen Viren kommt es auch bei dem Coronavirus zu spontanen Veränderungen des Genoms - zu Mutationen. Die vor einiger Zeit in Großbritannien ("B.1.1.7"), Südafrika ("B.1.351") oder zuletzt in Brasilien und Japan ("P.1") aufgetauchten Varianten weisen jeweils mehrere Mutationen gemeinsam auf, durch die sie sich vom "Wildtyp" unterscheiden.
Im Gegensatz etwa zum HI-Virus verändert sich das SARS-CoV-2-Virus mit einer vergleichsweise geringen Geschwindigkeit von wenigen neuen Mutationen pro Monat. Schon seit Beginn der Pandemie beobachten Wissenschafter weltweit die Änderungen im Erbgut, indem sie das Viren-Genom stichprobenartig in seiner Gesamtheit analysieren. In Österreich bemüht sich das Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Kooperation mit zahlreichen Partnerinstitutionen um diese Analysen. Weltweit wurden bereits hundertausende einzelne Genome derart aufgeschlüsselt und zugänglich gemacht, wie es auf der Website der "Global Initiative on Sharing All Influenza Data" (GISAID) heißt.
Erstmals beobachtet wurde der sogenannte "B.1.1.7.-Cluster" - vulgo "britische Variante" - im September in Großbritannien, wo auch bisher international die meisten Genomsequenzierungen durchgeführt wurden. Bei dem Mutations-Ensemble handelt es sich um zumindest 17 gemeinsam auftretende Veränderungen des Erbguts des SARS-CoV-2-Virus. Einige betreffen das charakteristische Spike-Protein, mit dem der Erreger an menschlichen Zellen andockt und die er zum Eindringen benützt. Eine davon ist die Mutation mit der Bezeichnung "N501y".
Parallelen trotz unabhängiger Entstehung
Obwohl die britische, die südafrikanische und die brasilianisch-japanische Variante laut Experten unabhängig voneinander entstanden sind, gibt es Parallelen: So weisen alle drei Mutationsanhäufungen "N501y" auf. Diese Veränderung dürfte die Fähigkeit des Erregers erhöhen, an menschliche Zellen zu binden, was mit einer erhöhten Übertragbarkeit der neuen Varianten zusammenhängen könnte.
Erste Schätzungen gingen bei B.1.1.7 von einer Erhöhung der Infektiösität von bis zu 70 Prozent aus. Laut neueren Erkenntnissen scheint die Steigerung der Übertragungswahrscheinlichkeit eher um die 35 Prozent zu liegen. Viele Länder intensivieren daher gerade ihre Anstrengungen zum Nachweis der Ausbreitung der neuen Varianten - so auch Österreich. Eine erhöhte Sterberate oder ein erheblich veränderter Erkrankungsverlauf durch die britische Variante scheint laut Experten aber eher unwahrscheinlich.
Der brasilianisch-japanische Stamm hat - wie auch die Südafrika-Variante - zusätzlich u.a. noch die sogenannte "E484K"-Mutation, die auch eine Änderung in der Spike-Domäne bewirkt. Dies beeinflusst die Bindung zwischen Erreger und Ziel laut ersten Erkenntnissen noch stärker. Das könnte auch bewirken, dass diese Viren-Varianten von Antikörpern, die das Immunsystem nach Konfrontation mit dem "Wildtyp" gebildet hat, möglicherweise nicht mehr so gut erkannt werden. Gesicherte Daten dazu gibt es laut Wissenschaftern aber noch nicht.
Viele Fragezeichen
Insgesamt ist vieles um die Viren-Varianten noch spekulativ - so auch deren Entstehung. In der Natur der Sache liegt, dass sich vor allem Veränderungen durchsetzen, die dem Erreger in der jeweiligen Situation einen Überlebensvorteil bringen. Dass teilweise dieselben Erbgutentwicklungen in unabhängig voneinander entstandenen Varianten zu finden sind, ist ein Hinweis darauf, dass sie einen solchen Vorteil für den Erreger darstellen.
Wie es dazu kommt, dass mehr oder weniger gleichzeitig an relativ vielen Stellen des sich im Grunde für Viren-Verhältnisse langsam entwickelnden SARS-CoV-2-Genoms Veränderungen entstehen, hängt mit der Zeit zusammen, über die der Erreger in größerer Zahl kursiert. Außerdem steigt der Veränderungsdruck, wenn es in einer Population bereits mehr Menschen gibt, die entweder durch eine überstandene Erkrankung oder Immunisierung durch Impfung als Virenträger mehr oder weniger ausfallen.
Ein anderer denkbarer Motor für umfassendere Veränderungen ist auch, dass das Virus vor allem bei Menschen mit schwächerem Immunsystem mitunter mehrere Wochen oder Monate präsent sein kann. Während dieser Zeit wird durch das körpereigene Immunsystem oder Behandlungen Druck auf den Erreger ausgeübt. Demnach hätten neue Varianten, die Teilen der Abwehr entgehen können, wiederum bessere Karten und mitunter relativ lange Zeit, sich zu entwickeln.
Einig sind sich Wissenschafter vor allem darin, dass die nun breiter diskutierten Mutationsanhäufungen nicht die letzten sind, die der Erreger hervorbringen wird. Entscheidend werde sein, ob sich eine echte sogenannte "Escape"-Mutation einstellt - also eine Variante, die der Immunabwehr sehr effizient entkommen kann. Eine solche stellen nach Expertenmeinungen die bisherigen Veränderungen eher noch nicht dar. Ob und in welchem Ausmaß diese die Schutzwirkung von Impfstoffen beeinträchtigen könnten, müsse noch geklärt werden. Wenn dem so wäre, könne man aber einige Vakzine durchaus flexibel anpassen, so die Hoffnung.