Klima-Glossar: Klima-Kipppunkte
Vom Abschmelzen der Arktis bis zum Korallensterben: Die 2008 publizierten "Tipping Points" (Kipp-Punkte) des deutschen Klimaexperte Hans Joachim Schellnhuber wurden bereits im 3. Sachstandsbericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPPC) 2001 angesprochen und sind Teil der Klimaforschung geworden. Sie stehen im Gegensatz zum Konzept des langsamen, stetigen Klimawandels und gehen von einem abrupten, unumkehrbaren Wechsel ab einer bestimmten Temperatur aus.
Neben dem Abschmelzen des Meereises in der Arktis gehört auch jenes des Grönländischen Eisschildes und das Auftauen von Permafrostböden dazu. Des Weiteren zählen die zunehmenden Waldbrände in den gemäßigten Klimazonen, die steigende Trockenheit im tropischen Regenwald sowie die sich verlangsamende Atlantische Umwälzströmung zu den Kipp-Punkten, die sich wiederum auf den Monsunregen negativ auswirkt, denn eine den Kippelementen zugeschriebene Eigenschaft ist ihre meist voneinander bestehende Abhängigkeit.
Risiko möglicherweise unterschätzt
2019 wiesen Schellnhuber und weitere Klimaforschende darauf hin, dass die Kipppunkte wohlmöglich noch schneller erreicht werden und die globale Erwärmung so noch drastischer ausfallen könnte. Das Risiko solcher unumkehrbaren Veränderungen sei bisher womöglich unterschätzt worden, hieß es in einem Kommentar der Experten im Fachblatt "Nature": "Es mehren sich jedoch die Anzeichen dafür, dass diese Ereignisse wahrscheinlicher sind als angenommen sind und große Auswirkungen haben, die über verschiedene biophysikalische Systeme hinweg miteinander verbunden sind, wodurch die Welt möglicherweise langfristigen, unumkehrbaren Veränderungen ausgesetzt ist", lauteten die warnenden Worte.
Obwohl aus Sicht der Wissenschaft mehrere Kipppunkte in der Kryosphäre als gefährlich nahe eingestuft wurden, könnte eine Verringerung der Treibhausgasemissionen die unvermeidliche Häufung der Auswirkungen immer noch verlangsamen und so bei der Anpassung an die Klimaveränderungen helfen, hieß es Ende 2019. Während die Existenz der Kipppunkte als nahezu als gesichert gilt, ist es der Zeitpunkt des Eintretens nicht. Ausnahme ist der westantarktische Eisschild - er sei das erste Kippelement im Klimasystem, das die Menschheit gerade kippen sehe, berichtete das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung ebenfalls vor drei Jahren.
2020 warnte Schellnhuber anlässlich eines Interviews zu seinem 70 Geburtstag, dass der Zeitraum für geeignete Maßnahmen auf etwa zehn Jahre begrenzt sei. "Dann ist der Zug wahrscheinlich abgefahren", die Erderwärmung würde bis Ende dieses Jahrhunderts vier bis fünf Grad betragen, "erdgeschichtlich gesehen wäre das eine Zeitreise von 30 Millionen Jahren zurück, mit verheerenden Wetter-Extremen und Meeresspiegel-Anstieg."
15 bedeutende Kipppunkte
Inzwischen werden in der Wissenschaft an die 15 bedeutende Kipppunkte im Klimasystem der Erde genannt. Zu den klimarelevanten Systemen, die am anfälligsten für die Erderwärmung sind und einem "Point of no return" am nächsten sind, zählen neben dem bereits genannten Eisschild der Westantarktis jenes von Grönland, die Alpengletscher, das arktische Meereseis im Sommer, der Regenwald im Amazonas sowie die tropische Korallenriffe.
Zuletzt gab es wenig Positives aus der Wissenschaft, so hieß es im März 2022, dass die Permafrostgebiete ihren Kipp-Punkt früher als gedacht erreichen könnten. Nachdem bisher die Berechnungen davon ausgingen, dass diese Gebiete bis in die 2070er Jahre stabil bleiben könnten, deutet eine neue Analyse im britischen Fachmagazin "New Scientist" etwa darauf hin, dass bereits in den 2040er-Jahren das große Auftauen beginnen könnte. Ein weitere Studie zum Regenwald im Amazonasgebiet besagt, dass dieser seit Anfang der 2000er-Jahre kontinuierlich an Widerstandsfähigkeit eingebüßt habe. Bei mehr als drei Vierteln des Waldes habe die Fähigkeit nachgelassen, sich von Störungen wie Dürren oder Bränden zu erholen, stand in der Studie eines britisch-deutschen Forscherteams in der Fachzeitschrift "Nature Climate Change" zu lesen.
Service: Artikel zu "Tipping elements in the Earth's climate system" in "PNAS" (2008): https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.0705414105, "Climate tipping points - too risky to bet against" in "Nature" (2019): https://www.nature.com/articles/d41586-019-03595-0, Auflistung der Kipp-Elmente, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung: https://www.pik-potsdam.de/de/produkte/infothek/kippelemente