Buch zu verheimlichten Biografien in NS-Täter- und Opferfamilien
Während in den vergangenen Jahrzehnten die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in den Archiven und Forschungseinrichtungen viel Raum eingenommen hat, so wird in vielen Familien nach wie vor über manche Geschehnisse nicht gesprochen. Das kann soweit gehen, dass Verwandte komplett verschwiegen werden. Der ORF-Journalist Johannes Reitter versucht in seinem Buch "Ein Mantel des Schweigens" diesen in konkreten Fällen zu lüften.
Das Phänomen der verschwiegenen Geschehnisse und Personen gibt es in Familien von Tätern ebenso wie in jenen von Opfern. Reitter hat zehn Fallbeispiele von Opfer- und zehn von Täternachkommen sowie als Exkurs eines aus seiner eigenen Familiengeschichte aufgearbeitet und rekonstruiert die Biografien von Vorfahren, über deren Involvierung in die Geschehnisse jener Zeit jahrzehntelang ein Mantel des Schweigens gebreitet war.
70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte der Journalist erfahren, dass sein Großvater noch einen Bruder gehabt hatte, der ein Mörder gewesen und 1940 in Wien hingerichtet worden sein soll. Recherchen zeigten, dass dieser verschwiegene Verwandte ein Nazi-Gegner war, der sich weigerte nach Polen abkommandiert zu werden. Es entwickelte sich ein Kampf mit seinem Vorgesetzten, bei dem dieser ums Leben kam. Der Schutzbündler wurde zwar von der Republik als NS-Opfer eingestuft, aber sein Bruder, einst SA-Mitglied, distanzierte sich von dem in seinen Augen abtrünnigen Wehrdienstverweigerer, seine Existenz wurde einfach verschwiegen.
Konkrete Fallbeispiele im Blick
Die Recherchen zu diesem Schlüsselerlebnis gaben den Anstoß für Reitters Dissertation, die wiederum die Basis des nun erschienenen Buches bildet. Er ging konkreten Fallbeispielen nach - etwa jenem von Ernst Stimmer: "Mein Vater ist 85 Jahre alt geworden und hat mir mit 81 Jahren erzählt, dass er in Theresienstadt war", berichtet Stimmer von einer denkwürdigen Unterhaltung mit seinem Vater in den späten 1980er-Jahren. Von den Todesumständen seiner Eltern, die die Shoah nicht überlebt hatten, habe der Vater überhaupt nie gesprochen. Auf der anderen Seite berichtet beispielsweise Mireille Horsinga-Renno, wie sie in den 1990er-Jahren zufällig entdeckt hat, dass ihr Großvater Euthanasiearzt in der Tötungsanstalt Hartheim gewesen ist. Als sie begann an der Fassade zu kratzen, wurde ihr klar, dass ihr "geliebter Onkel in Wahrheit immer ein überzeugter Nazi gewesen war".
Service: Johannes Reitter, "Ein Mantel des Schweigens", Böhlau-Verlag, 416 Seiten, 45 Euro, ISBN 978-3-205-21504-2