Wie essen und trinken: Der Umgang mit digitalen Medien wird bald kein Thema mehr sein
Im Leben heutiger Teenager verschwimmen "Online"- und "Offline"-Realitäten zunehmend. Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt an der Universität Wien, gefördert durch die Österreichische Akademie der Wissenschaften, will die Allgegenwärtigkeit digitaler Technologien im Alltag von Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren verstehen. Über falsche Romantik, überbewerteten Einfluss sozialer Medien auf das Selbstbild und andere Aha-Effekte berichtet Suzana Jovicic vom Institut für Kultur- und Sozialanthropologie im Interview mit APA-Science.
APA-Science: Das Projekt "Selbstoptimierung im digitalen Zeitalter" läuft seit September 2017. Was ist das Forschungsziel?
Suzana Jovicic: Ich führe das Projekt gemeinsam mit der Kognitionswissenschafterin Dayana Hristova und der Medieninformatikerin Barbara Göbl durch. Einerseits sammeln wir empirische Daten in Form von teilnehmender Beobachtung, Interviews oder Gruppendiskussionen, um die Problematiken der Nutzung digitaler Technologien zu verstehen. Auf der anderen Seite wollen wir einen konstruktiven Umgang mit digitalen Möglichkeiten betonen. Deshalb entwickeln wir in enger Zusammenarbeit mit Jugendlichen ein "Serious Game", das ihnen anschließend zur Verfügung gestellt wird. Das Spiel wird sensibel mit soziokulturellen Aspekten umgehen und psychosoziale Mechaniken hinter dem Design von Apps, Spielen und Sozialen Medien aufzeigen. Somit werden wir einen Beitrag leisten, digitale Technologien als einen politischen und sozialen Raum darzustellen - als einen Raum, der kein Ideologie-freier Spielplatz ist, sondern durchaus ethische Fragen aufwirft, aber auch neue Möglichkeiten des Lernens eröffnet. Das Projekt versucht einer Welt näherzukommen, wo Technologie kein sicherer Weg in die Dystopie ist, sondern ein Ort, den wir selbst besser verstehen und mitgestalten können.
APA-Science: Welche Erkenntnisse konnten Sie bereits sammeln?
Suzana Jovicic: Die Forschung befindet sich noch in einem frühen Stadium. Dennoch haben wir bereits die ersten Aha-Momente erlebt. Wie so oft, wenn es um Spiele oder Soziale Medien geht, war auch unser Blick sehr von den Problematiken gefärbt, die sowohl die öffentliche Debatte als auch wissenschaftliche Perspektiven prägen - Stichwort Depressionen, Essstörungen, Narzissmus, Mangel an Empathie oder auch Fake News und Filterblasen. Sowohl das Literaturstudium als auch die ersten Gespräche mit den Jugendlichen haben allerdings aufgezeigt, dass unsere Perspektive sehr durch den Vorher-Nachher-Vergleich geprägt ist, woraus sich zwangsläufig Bewertungen und Ängste ergeben, was aufgrund der schnellen technologischen Veränderungen, die ja auch wir miterlebt haben, nicht verwunderlich ist.
Für die Generation der "digital natives" aber ist dieser Vergleich zu einer vor-digitalen Welt höchstens ein irrelevantes Gedankenexperiment. Eine Reihe von Praktiken, die schon immer in ihren Alltag integriert waren und mit einer gewissen Leichtigkeit und Kreativität beherrscht werden, bedürfen keinerlei Reflexion. Sie sind vielmehr vergleichbar mit grundlegenden Tätigkeiten wie Essen, Trinken oder Einkaufen. Entsprechend haben wir unsere Forschungsfragen inzwischen angepasst.
Wir betrachten die digitalen Räume als eine überlappende Erweiterung des Sozialen - als Räume, die sowohl von kulturellen Einflüssen als auch von kommerziellen Interessen geprägt sind; und nicht zuletzt zunehmend ein Schlachtfeld der Aufmerksamkeitsökonomie darstellen. Dies ist besonders relevant in einem Zeitalter, in welchem intransparente Verschränkungen zwischen psychologischem Wissen, exzessiver Datensammlung und komplexen Algorithmen Entscheidungen beeinflussen. Dank unserer Interdisziplinarität befinden wir uns in einer guten Startposition, um diese Schnittpunkte zu entwirren, ohne die Perspektive der Jugendlichen aus den Augen zu verlieren.
APA-Science: Inwieweit beeinflussen digitale Medien das Selbstbild Jugendlicher?
Suzana Jovicic: Auf den ersten Blick scheinen insbesondere Smartphone-Apps und soziale Plattformen ein Disneyland für Selbstoptimierung. Inzwischen kommen viele Smartphone-Modelle mit integrierten Foto-Manipulations-Tools, die nicht mehr aktiv heruntergeladen werden müssen. Die populärsten sozialen Plattformen unter den Jugendlichen in Österreich - Snapchat und Instagram - basieren inzwischen auf Filtern, welche die Wirklichkeit, entlang buchstäblich vorprogrammierter kultureller Ideale, manipulieren können.
Es gibt eine Fülle von Forschung, die etwa den konstanten Vergleich mit den optimierten Online-Personas und ihren kurierten Lebens-Highlights mit Depressionen, Ängsten und Essstörungen in Verbindung bringt. Nichtsdestotrotz ist es hier, so wie bei vor-digitaler Medienforschung, schwierig, Korrelationen zu finden und zu entscheiden ob das Huhn oder das Ei zuerst da waren bzw. wie die Internalisierung medialer Praktiken oder der Konsum medialer Bilder sich tatsächlich im Alltag auswirken.
In soziokulturellen Gruppen, wo wirtschaftsliberale Einflüsse eine Rolle spielen, gab es bereits deutlich vor den digitalen Medien das Bestreben, den Menschen als ein voraussehbares, quantifizierbar psychologisches Wesen zu "ermessen", um soziale Organisationen zu "managen" oder um die Individuen an die Arbeitswelt zu vermitteln. So ist es kein Zufall, dass Plattformen wie LinkedIn den Menschen als eine Zusammenfassung der quantifizierbaren "Skills" darstellen, die es laufend zu optimieren und aktualisieren gilt. Digitale Technologien sind in diesem Sinne selten disruptiv, da sie kulturelle Produkte der Zeit sind.
Technologien werden an die soziokulturellen Umstände adaptiert und lokal angeeignet. So lässt beispielsweise Facebook-CEO Mark Zuckerberg seine Ingenieure bestimmte Design-Entscheidungen mit kleineren Proben der Facebook-Nutzer selbstständig testen, bevor sie global durchgesetzt werden. Auf sozialen Plattformen, die eine sehr öffentliche soziale Arena darstellen, wo man sich selbst darstellen und die eigene Identität ausleben und bestätigen kann, werden bereits existierende soziale Tendenzen intensiviert.
Ich wäre allerdings vorsichtig, in die Meta-Erzählung des individualistischen Menschen, dessen Narzissmus durch die Ich-Zentriertheit sozialer Medien genährt wird, einzusteigen. Diese Annahme ist nicht zwingend ein Ergebnis empirischer Forschung, sondern einer kulturellen Tradition, welche die Entwicklung "westlicher" Gesellschaften linear erzählt. Die Erzählung kulminiert häufig im isolierten Individualismus, was im Narzissmus der Selfie-Kultur angeblich besonders deutlich wird. Diese Annahme ist besonders bemerkenswert, da soziale Medien auf der Idee des Sozialen basieren. Anders gesagt, wenn keiner zuschaut, muss man sich auch nicht selbstoptimieren.
APA-Science: Wie lässt sich diese Selfie-Kultur erklären?
Suzana Jovicic: Dahinter liegen letztendlich die gleichen archaischen Bedürfnisse nach sozialer Zugehörigkeit und Akzeptanz, die sich zu jeder Zeit anders ausdrücken. Wenn ein Mensch, vor allem in bestimmten Kreisen einer kosmopolitischen Mittelschicht, durch religiöse, wirtschaftsfreundliche oder psychologische Selbstoptimierung moralische Überlegenheit und sozialen Status erlangen kann, werden auch die Technologien diese Tendenzen reflektieren. Da wir soziale Wesen sind, sind auch unsere Technologien ein Ausdruck davon.
Ähnlich kann man den häufig überspitzen Einfluss der digitalen Medien auf das Selbstbild hinterfragen. Damit verbunden ist ebenfalls das kulturelle Konstrukt der verlorenen "Authentizität" des "zivilisierten" Menschen, welches Denker wie Rousseau romantisiert haben und das sich in aktuellen Selbsthilfebüchern wiederfindet. Ironischerweise enden Aufschreie über den Verlust des "wahren" Ichs in sozialen Medien einfach durch andere Konsumentscheidungen oder romantische Repräsentationen von idyllischen Reisen oder meditativen Erfahrungen. Ebenso wird auch die Popularität von Snapchat durch die "Authentizität" erklärt, da hier häufig beispielsweise "hässliche" Selfies in privaten Kanälen verbreitet werden und sich nach kurzer Zeit selbst löschen. Aus anthropologischer Sicht ist allerdings jedes soziale Verhalten auch kulturell verhandelt und Ergebnis bestimmter Normen. Auch "authentisches" Verhalten folgt kulturellen Regeln.
APA-Science: Gibt es auch Forschungsergebnisse zu Ihrem Thema aus anderen Ländern?
Suzana Jovicic: Eine besonders erwähnenswerte und aktuelle Studie ist "How The World Changed Social Media", das Ergebnis einer komparativen Forschung um den Digital-Anthropologen Daniel Miller. Die Forscher haben sich im Zeitraum von 15 Monaten in Brasilien, Chile, England, der Türkei, China, Italien und Indien mit der Nutzung digitaler Medien auseinandergesetzt und die Ergebnisse in Verbindung mit Aspekten wie Gender, Politik, Individualismus usw. verglichen. Die Erkenntnis: Gleiche Technologien werden nicht gleich genützt bzw. führen nicht zur kulturellen Homogenisierung, sondern werden an lokale Begebenheiten und Bedürfnisse dynamisch angepasst. Häufig war die Nutzung innerhalb einer Region oder unterschiedlicher sozialer Gruppen und Schichten sehr variabel und folgte den bestehenden soziokulturellen Dynamiken.
Während unter Chilenen beispielsweise die individuelle Selbstdarstellung, das Zeigen von Konsum oder Luxus auf sozialen Medien verpönt sind, geht es in Trinidad häufig darum, sich als möglichst attraktiv oder mächtig dazustellen. In Chile wird dementsprechend die soziale Aufmerksamkeit als negativ empfunden, wo hingegen in Trinidad ausgesprochene große Bemühungen in das Erstellen von "viral"-Videos gesteckt werden.
Ein anderes Beispiel ist auch das Internet als Ort politischer Diskussionen und Protestbewegungen. Auch hier wird deutlich, wie sehr digitale Praktiken den kulturellen Normen folgen. So wurden die sozialen Medien im Forschungsfeld in Süditalien dazu genützt, die Korruptheit von Politikern aus anderen Ortschaften zu diskutieren, während man den Politikern aus der eigenen Umgebung nicht zu nahe treten wollte. Da hier beispielsweise Jobs oft durch informelle Kanäle vermittelt werden, ist man darauf bedacht, die unmittelbaren sozialen Beziehungen nicht zu gefährden. Ähnliche Beobachtungen wurden in der Südtürkei gemacht. Hier ist der öffentliche Raum ein gefährlicher Ort für politische Diskussionen, da diese einerseits ebenfalls nachbarschaftliche Beziehungen gefährden könnten und andererseits eine reale Gefahr darstellen.
APA-Science: Bringen soziale Medien mehr Demokratie in die Welt?
Suzana Jovicic: In China etwa postet man positive und unterhaltsame Inhalte - nicht aus Angst vor staatlicher Überwachung, sondern, weil es zum guten Ton gehört. Das Politische wird sehr wohl auch besprochen, aber im face-to-face-Kontakt mit lokalen Personen mit Machtstellung. Auch hier haben soziale Medien das etablierte Aktivieren von sozialen Beziehungen, eine Interaktion, die früher durch den Tausch von Zigaretten geprägt war, nicht ersetzt. In den meisten Orten wurde der unmittelbaren sozialen Überwachung der Freunde und Familie ein höherer Stellenwert eingeräumt als abstrakten Gefahren der staatlichen Zensur. Die Schlussfolgerung der Forscher: Soziale Medien sind ein überaus konservativer Raum und führen entgegen häufiger Annahmen nicht automatisch zu einer Demokratisierung der Gesellschaft.
Solche Forschungsprojekte fördern nicht nur eine diversifizierte Debatte über digitale Technologien, sondern zeigen auch, wie ethnozentrisch unsere Annahmen sind. So gilt der öffentliche Raum nicht universell als ein demokratischer Ort, wo Politisches nach angeblichen Regeln der "Rationalität" und "Vernunft" ausverhandelt wird. Ebenso wenig kann man davon ausgehen, dass soziale Medien weltweit politische Debatten dramatisch beeinflussen oder gar öffnen.
Auch wenn soziale Medien durchaus viele neue Vernetzungsmöglichkeiten bieten, die Forschung deutet darauf hin, dass sie keine disruptiv magischen Kräfte haben, wie es in den frühen Zeiten des Internets gerne gehofft wurde. Eine der ersten medienwirksamen Debatten wurde beispielsweise durch die Nutzung sozialer Medien im ägyptischen Frühling 2011 ausgelöst. Soziale Medien, so hieß es, trugen maßgeblich zur Revolution bei. Dabei wurde auf den zweiten Blick klar, dass das Momentum der Revolution eigentlich nach dem gemeinsamen Freitagsgebet ins Rollen gebracht wurde. Auch wenn sie besonders für westliche Medien sichtbar sind, gehörten die jungen Online-Aktivisten einer urbanen Elite und somit einer eindeutigen Minderheit an.
APA-Science: Es gibt kein Zurück in die vordigitale Zeit. Wie wird sich Ihrer Einschätzung nach der Umgang mit der Digitalität weiter entwickeln?
Suzana Jovicic: Das ist eine sehr essenzielle Feststellung, denn oft basiert die Kritik an den neuen Medien an der Melancholie gegenüber vergangenen Zeiten, die romantisiert werden. Wir hier in Österreich leben zweifellos in einer Welt, wo digitale Technologie das Leben deutlich leichter macht als je zuvor. Die Effizienz und Geschwindigkeit der Kommunikation und Interaktion erleichtert, aber überfordert auch. Deshalb verbinden Menschen - auch wenn wohl kaum jemand die Umständlichkeit der Festnetztelefone oder Briefe vermisst - die vor-digitale Zeit mit einer gewissen Einfachheit - damals erhielt man eine beschränkte Anzahl an Anrufen, aber keine unendliche Flut an E-Mails innerhalb und außerhalb der Arbeitszeit.
Nun geht es darum, die Umstände, in denen wir leben, zu verstehen und an unsere Bedürfnisse anzupassen. Die Schnelligkeit und Unüberschaubarkeit digitaler Innovation täuscht darüber hinweg, dass digitale Technologien unsere Werkzeuge sind und nicht vice versa: Wir haben Zeit, die Luft anzuhalten und Fragen zu stellen. Da ist auch eine der Prämissen unseres Projektes.
Als empirisch arbeitende Anthropologin mache ich ungerne Prognosen. Wirft man aber einen skeptischen Blick in die Vergangenheit, findet man schnell Parallelen zu der klassischen Kritik an neuen Medien, die bereits mit Sokrates angefangen hat, der die Erfindung der Schrift für problematisch hielt. Neue Technologien haben immer sowohl Faszination als auch Unbehagen ausgelöst. Gerade, wenn es um Technologien geht, denen bestimmte "magische" Macht zugesprochen wird. Ob Frankenstein oder die viktorianischen Automaten, wir animieren Technologie und schauen fasziniert, aber erschrocken zu, wenn sie anfängt, zu "leben". Mittlerweile gibt es eine Fülle an Science Fiction-Inhalten, die eine Zeit antizipieren, in der Technologie eigenes Bewusstsein entwickelt. Heute ist Sophia, der Roboter, der programmiert ist, Emotionen zu simulieren, der ästhetisierte Frankenstein - durchaus "insta-worthy".
Auch wenn, solange wir unüberschaubare Tools produzieren, Faszination und Unbehagen bleiben werden, das Thematisieren digitaler Räumen im Alltag erlebt höchstwahrscheinlich gerade seinen Höhepunkt und wird sich selbst ad absurdum führen - eben durch die Verschmelzung mit dem Alltag. Auch Begriffe wie Digitalisierung erinnern an Globalisierung - sie verdecken beide eine Reihe von strukturellen politischen und wirtschaftlichen Dynamiken und Ungleichheiten und schwören den Geist kultureller Homogenisierung herauf.
Die dunkle Wolke der Globalisierung ist über unsere Köpfe hinweggezogen und wir haben es überlebt. Dasselbe wird mit der Digitalisierung geschehen, ohne dass damit der Untergang des empathischen, sozialen Menschen eingeläutet wird.