Birgit Högl: "Der Schlaf ist ein Fenster in die Zukunft des Gehirns"
Seit 20 Jahren leitet Birgit Högl das Schlaflabor an der Innsbrucker Universitätsklinik für Neurologie. In ein paar Wochen wird die Expertin für verschiedenste Schlafstörungen, wie das Restless-Legs-Syndrom (RLS) oder die REM-Schlaf-Verhaltensstörung (RBD), zur Präsidentin der Welt-Schlaf-Gesellschaft (World Sleep Society) gekürt. Mit APA-Science hat sie über Ihre Erwartungen an diese Aufgabe, über die häufigsten Schlafstörungen und die Errungenschaften der Schlafforschung gesprochen.
APA-Science: Sie leiten seit 1999 ein Schlaflabor mit gut 4.000 Patienten pro Jahr. Was sind die häufigsten Schlafstörungen, mit denen Sie zu tun haben?
Birgit Högl: Es gibt ganz verschiedene große Gruppen von Schlafstörungen. Sehr häufig sind alle Arten von Schlaflosigkeit, mit verschiedenen Untergruppen und Ursachen, sowie Störungen der Atmung im Schlaf. Wir haben auch einen Schwerpunkt für die Behandlung des Restless-Legs-Syndroms (eine neurologische Schlafstörung mit äußerst unangenehmem Bewegungsdrang bei körperlicher Inaktivität; Anm.), dafür sind bei uns weit über 1.000 Patienten in Behandlung.
Andere Schlaferkrankungen, beispielsweise eine Störung der Inneren Uhr oder die sogenannten Parasomnien, so es zu abnormem Verhalten aus dem Schlaf heraus kommt, sind zahlenmäßig vielleicht nicht so häufig, brauchen aber spezialisierte Ansprechpartner. Und dann gibt es noch Abklärung von Tageschläfrigkeit beziehungsweise unfreiwilliger Einschlafneigung tagsüber. Dort ist die bekannteste Vertreterin die Narkolepsie.
Die Abklärung, ob bei unfreiwilliger Einschlafneigung tagsüber eine Erkrankung vorliegt, oder ob dies lediglich durch den Lifestyle mitverursacht wird, fällt auch in unseren Bereich. Dann gibt es die Störungen der inneren Uhr, die zirkadianen Störungen. Beispielsweise das Syndrom der verzögerten Schlafphase - etwa extreme Nachteulen, die frühmorgens Schwierigkeiten haben, sich an den geforderten Tagesablauf anzupassen. Diese Diagnostik wird bei uns im Schlaflabor gemacht.
Ein weiterer Schwerpunkt ist abnormes Verhalten aus dem Schlaf heraus: Schlafwandeln, Schlafsprechen, Nachtschreck und andererseits die REM-Schlaf-Verhaltensstörung. Dabei ist man im REM-Schlaf nicht wie "gelähmt", sondern zuckt und kann Bewegungen ausführen, die zu dem passen, was man träumt. Im Zuge dessen sind auch Verletzungen von Patient und Partner möglich. In manchen Fällen ist die Erkrankung ein frühes Anzeichen für Neurodegenerationen.
All diese Syndrome sind wahrscheinlich unterschiedlich leicht oder schwierig zu diagnostizieren?
Högl: Genau. Manche Patienten haben eine jahrelange Vorgeschichte. Gerade bei der Narkolepsie kann man wirklich davon ausgehen, dass die Dunkelziffer weit höher als die Zahl der wirklich Erkrankten ist. Wenn man auf der Basis von Prävalenzdaten schätzen würde, dass eine Person von 2.000 betroffen ist, dann könnte man in Österreich einmal mindestens 4.000 Betroffene vermuten. Bei uns sind derzeit 150 in Behandlung, damit sind wir wohl das größte derartige Zentrum in Österreich, aber sehr viele Betroffene wissen wahrscheinlich gar nichts von ihrer Erkrankung.
Wir haben einmal ausgewertet, wie lange es vom Auftreten der ersten Symptome - in der Regel eine unüberwindbare Einschlafneigung, was für die Leute häufig auch etwas völlig Neues ist - bis zur Diagnose dauert: Im Mittel sind das 6,5 Jahre. Damit liegen wir in Österreich noch etwas besser als im Rest von Europa, da dauert es im Schnitt acht Jahre.
Welche Rolle spielt hier die Früherkennung?
Högl: Die Früherkennung ist sehr wichtig. Bei Narkolepsie sind oft Kinder, Jugendliche im Schulalter oder junge Erwachsene oder im Studium betroffen, dann interferiert das mit einer ungestörten Bildungskarriere. In der Schule kann das schlimmstenfalls zu dem Eindruck führen, der/die Schüler/-in ist nicht interessiert. Der/die Schüler/-in wiederum fühlt sich ungerecht behandelt, möchte aufpassen, kann aber nicht. Und das kann leider dazu führen, dass die Schule oder das Studium abgebrochen wird, weil die Diagnose nicht rechtzeitig gestellt wird.
Haben sich die Schlafstörungen in ihrer Anzahl und Ausprägung signifikant geändert im Laufe dieser 20 Jahre, seit sie das Schlaflabor leiten?
Högl: Ich glaube nicht. Es ist sicher so, dass manche Erkrankungen ins Bewusstsein gerückt sind. Seit längerem weiß man schon, dass man Störungen der Atmung im Schlaf aufgrund der Folgeerkrankungen nicht einfach belassen kann. Das Restless-Legs-Syndrom ist früher oft bagatellisiert worden, und da hat sich schon etwas geändert.
Man merkt natürlich allgemein einen Anstieg von Störungen in Situationen, wo es Krisen gibt. Also einerseits in wirtschaftlich unsicheren Phasen, oder auch nach großen Kernkraftunfällen wie in Fukushima - da gab es sehr viele Fälle von Insomnie, die zum Beispiel in Schutzräumen von Schlafspezialisten behandelt werden mussten. Ebenso wurde nach 9/11 eine Zunahme festgestellt. Es ist auch mehr Leuten bewusst geworden, dass man sich zum Schlafen Zeit nehmen muss. In den USA gibt es jetzt Anzeichen für eine Trendumkehr. Dort hat sich die Schlafdauer pro Nacht immer weiter verkürzt, und jetzt scheint sich das ein wenig zu ändern.
Es muss natürlich nicht jede Art von Schlafstörung primär ins Schlaflabor. Was wir hier in der Schlafmedizin machen, ist zunächst einmal einfach die gute und genaue Erhebung der Vorgeschichte und der Symptome durch die Befragung des Patienten. Diese genaue Schlafanamnese erlaubt oft schon eine Weichenstellung, in welche Richtung es geht. Ist die Schlaflosigkeit im Vordergrund oder die Tagesschläfrigkeit? Das klingt sehr trivial, aber selbst für Mediziner ist es oft nicht einfach, zwischen Müdigkeit und der Einschlafneigung zu unterscheiden. Man muss systematisch alles abfragen und dann erst kann man klären ob es andere Zusatzuntersuchungen braucht - vielleicht eine Screeninguntersuchung, oder eine Schlaf-Wach-Ruhe-Aktivitätsbestimmung mittels Aktivgrafie, die den Schlaf-Wach-Rhythmus annähernd zu bestimmen erlaubt, oder ob es Richtung Schlaflabor geht. Oft denken Patienten, sie müssen unbedingt ins Schlaflabor. Das ist aber nicht immer so, manche brauchen andere Untersuchungen.
Reichen manchmal Ratschläge zur Verhaltensänderung? Welche Rolle spielen Medikamente?
Högl: Natürlich ist das je nach Schlafstörung unterschiedlich, aber wenn man jetzt von der Insomnie ausgeht, gibt es zwei Pfeiler der Behandlung. Einerseits medikamentös, andererseits die nicht medikamentöse Behandlung, die unter dem Begriff Verhaltenstherapie oder kognitiv-behaviorale Therapie geführt wird. Das hat sich schon geändert, weil das wird von allen großen Schlafgesellschaften als First-Line-Therapie (bevorzugte, erste Behandlungsoption; Anm.) empfohlen, mit oder ohne zusätzliche medikamentöse Behandlung, wenn die Schlaflosigkeit chronisch ist und wenn nicht eine anderweitig zu behandelnde Ursache dahinter ist. Das muss zuerst abgeklärt sein. Wenn jemand eine behandlungsbedürftige psychiatrische Erkrankung hat, dann muss diese psychiatrische Erkrankung behandelt werden.
Viele Schlaflabore und -spezialisten kommen bei den klassischen Schlafmitteln ins Spiel, um diese abzusetzen als anzusetzen. Es gibt relativ viele Schlafmedizinschulen, die eher andere schlaffördernde Mittel anordnen würden, als die sogenannten klassischen Schlafmittel Benzodiazepine und Z-Substanzen (eine Klasse von Schlafmitteln, zu denen die Arzneistoffe Zolpidem, Zopiclon und Zaleplon zählen; Anm.). Und wenn man das schon macht, dann nur für eine ganz kurze, begrenzte Zeit oder für einige Tage in der Woche als Intervalltherapie. Was hier aber Nutzen bringt und zum Einsatz kommen sollte, hängt wiederum von der Art der Schlaflosigkeit ab.
Was sind für Sie in der Schlafforschung die wichtigsten praxisrelevanten Erkenntnisse der vergangenen 20 Jahre? Beziehungsweise, was würden Sie Ihren Patienten heute nicht mehr raten?
Högl: Zum Beispiel haben sich beim Restless-Legs-Syndrom die Behandlungsempfehlungen geändert oder erweitert. Man weiß heute, dass viele Medikamente, die lange Zeit als First-Line-Therapie eingesetzt worden sind, also etwa Dopaminagonisten, auf lange Sicht zu Komplikationen führen können. Patienten dachten oft, dass sie die Dosis steigern müssen. Das Syndrom wird durch die medikamentöse Behandlung aber schlechter, vor allem durch diese Steigerung. Hier ist man hellhöriger geworden.
Ebenfalls wichtig ist die REM-Schlaf-Verhaltensstörung. Das hat früher als Rarität gegolten und man hatte keine wirklich genauen diagnostischen Instrumente außer Schlaflaboruntersuchungen. Dabei gibt es oft exzessive Muskelaktivitäten, die man im Schlaflabor erkennen kann. Nur war nie genau spezifiziert, ab wann man von exzessiv spricht. Etwas Muskelaktivität im Schlaf in Zusammenhang mit Augenbewegungen gibt es auch im normalen REM-Schlaf, wenn man sonst Atonie (das Fehlen von Tonus, also von Spannung, der Muskulatur; Anm.) hat, wo es kleine Rest-Bursts gibt. Heute versteht man das viel mehr. Bei der REM-Schlaf-Verhaltensstörung kann man sogar sagen, der Schlaf ist ein Fenster in die Zukunft des Gehirns, weil man häufig - oder eigentlich bei allen Patienten - Anzeichen für eine Neurodegeneration findet.
In welchen Bereichen der Schlafforschung weiß man noch recht wenig, wo herrscht der größte Forschungsbedarf?
Högl: Ich denke, über die genauen Zusammenhänge und Mechanismen zu Schlaf und Neurodegeneration, besonders über Schlafdeprivation im mittleren Lebensalter und die Langzeitauswirkungen, weiß man im Detail noch lange nicht genug. Wichtig wäre auch die Entwicklung zusätzlicher Instrumente, mit denen man Hinweise auf Schlafstörungen nicht nur mit Polysomnographie, sondern auch schon mit Screeninguntersuchungen früher erkennen kann.
Sie werden im September zur Präsidentin der World Sleep Society ernannt. Was bedeutet das für Sie und was möchten Sie in Ihrer zweijährigen Amtszeit erreichen?
Es ist eine unglaublich große Ehre und Freude und auch eine große Verantwortung, der ich hoffe, gerecht werden zu können. Die World Sleep Society ist aus der World Association of Sleep Medicine, das ist eine Gesellschaft von Klinikern und Schlafforschern, und der World Sleep Federation hervorgegangen. Die beiden Fachgesellschaften wurden fusioniert, um Synergien zu nutzen.
Die Mission ist einerseits die Unterstützung und Förderung von Forschung im Bereich von Schlaf und zirkadianen Rhythmen auf jeder Ebene und jedem Unterbereich, andererseits die Verbesserung der Ausbildung für Schlafmediziner/-innen und drittens, gute und seriöse Information über Schlaf zu bieten und die Bevölkerung über die häufigsten Fallstricke und Mythen aufzuklären. Zusätzlich gibt es "Public Outreach"-Maßnahmen wie den Welt-Schlaf-Tag, der immer im März ist und jeweils unter einem bestimmten Thema steht.
Wenn Sie in dieser Funktion Prioritäten für das Thema Schlaf setzen müssten, wo würden Sie am ehesten ansetzen?
Högl: Dass die Bevölkerung wirklich Zugang zu einer guten und gediegenen schlafmedizinischen Abklärung und Versorgung hat. Und dass die selteneren schlafmedizinischen Erkrankungen nicht übersehen, sondern erkannt und behandelt werden.
Beim Lifestyle muss man immer wieder betonen, dass die Zeit zum Schlafen eine hohe Priorität hat und nicht am Schlaf gespart werden soll. Wenn man wegen beruflicher oder familiärer Verpflichtungen oder weiter Arbeitswege zum Beispiel keine Zeit für den Sport hat, dann sollte man nicht gerade den Schlaf kürzen, um Sport zu machen, sondern die Zeit für den Schlaf sollte man, egal welche Verpflichtungen man hat, unangetastet lassen.
Welche Mythen zum Schlaf stören Sie besonders?
Högl: Manchmal liest man schon noch, dass es Leute gibt, die mit vier oder fünf Stunden Schlaf auskommen. Alle internationalen großen Schlafgesellschaften sagen, man braucht sieben bis neun Stunden. Natürlich gibt es die übliche Gaußsche Verteilungskurve, wo die meisten in der Mitte liegen und ganz wenige an den Rändern. Wenn jetzt jemand sagt, er hat nur fünfeinhalb Stunden Schlaf und er braucht nicht mehr, dann ist es durchaus möglich anzunehmen, dass diese Person schon an Schlafmangelsyndrom leidet. Man kann nur mit partieller Schlafdeprivation über einige Nächte zurechtkommen, man kann das bis zu einem gewissen Grad wieder aufholen in den Folgenächten. Aber diese Sache mit dem gewohnheitsmäßigen extremen Kurzschlaf von beispielsweise nur vier Stunden pro Nacht stimmt in der Regel einfach nicht.
Es gibt auch das Phänomen, dass Leute, die schlecht schlafen, oft den Eindruck haben, sie bekommen nachts gar keinen Schlaf. Das ist eine Form der Insomnie: Misst man hier elektrophysiologisch, findet man schon viel Schlaf, aber das Denken, dass man wach ist, geht auch im Schlaf weiter und so ist das oft schwer zu beurteilen, ob man schläft oder wach ist. Das Gegenteil gibt es auch; nämlich, dass Leute, die chronisch tagesschläfrig sind, sich als ganz normal wahrnehmen und dann oft dem Gegenüber auffällt, dass die Person im Gespräch einschläft.
Lesen soll ja beim Einschlafen helfen. Wie lauten Ihre Empfehlungen? Sie dürfen die Frage ruhig doppelbödig verstehen...
Högl: (lacht) Nun, wenn Leute zum Einschlafen lesen, da ist es beinahe egal, was sie lesen. Matthew Walker ("Why we sleep") hat ein fantastisches Buch zum Thema Schlaf geschrieben. Man sollte einfach lesen, was einem Freude macht und das Buch zur Seite legen, wenn einem die Augen zufallen.
Zur Person: Birgit Högl ist seit 1999 an der Universitätsklinik für Neurologie in Innsbruck tätig. Nach ihrem Studium in München brachte ein Forschungsstipendium des "Deutschen Akademischen Austauschdienstes" die 57-Jährige zunächst nach Südamerika. Sie verbrachte mehrere Jahre in Buenos Aires, wo sie im Rahmen einer "Movement Disorders Fellowship" zum ersten Mal mit der Arbeit im Schlaflabor in Kontakt kam. Über das Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München führte sie ihr Weg dann schließlich 1999 nach Innsbruck.
Das Gespräch führte Mario Wasserfaller / APA-Science