Über die "andere Seite unserer Existenz"
In ihrem ersten Buch "Guten Abend, gute Nacht" beschäftigt sich Karoline Walter kulturgeschichtlich und philosophisch mit dem menschlichen Schlaf. APA-Science hat schon einen Blick hineingeworfen – und die deutsche Kulturwissenschafterin und freie Autorin zum Gespräch gebeten.
APA-Science: Sie stellen in Ihrem Buch diese Frage und auch ich stelle Sie Ihnen heute: Hat Schlaf so etwas wie eine "Kulturgeschichte"?
Karoline Walter: Davon bin ich überzeugt. Ich glaube ja, dass alles eine Kulturgeschichte hat. Diese Frage wird so vor allem dann gestellt, wenn es um Körperlichkeiten geht, weil man irgendwie mehr diesen Kultur-Natur-Dualismus im Kopf hat und denkt, Körperfunktionen haben keine Kultur. Aber das klassische Beispiel, wo man ja sofort zugeben würde, dass es anders ist, ist das Essen: Essgewohnheiten sind interkulturell total verschieden und haben sich auch über die Zeit verändert. Genauso ist es mit dem Schlaf - und mit allen Körpertechniken. Ich glaube eher, dass die Vorstellung, dass Körperfunktionen so konstant und universell sind, selbst ein kulturelles Produkt ist, das wahrscheinlich aus der Aufklärungszeit kommt.
Sie sagen, Schlaf ist mehr als eine Körperfunktion?
Walter: Ich habe mich damit beschäftigt, wie sich Schlafgewohnheiten verändert haben. Ob man in mehreren Phasen geschlafen hat, im Kollektiv oder zu Mittag. Vor allem aber haben mich Haltungen zum Schlaf interessiert. Schlaf in einem erweiterten Sinn, als Urzustand der Unproduktivität sozusagen. Dazu haben Kulturen über die Zeit hinweg und in verschiedenen geografischen Räumen ganz unterschiedliche Haltungen eingenommen.
Dann blicken wir gleich auf den Wandel zurück, den die Haltungen zum Schlaf im Laufe der Zeit erfahren haben. Können Sie mir zentrale Momente schildern?
Walter: Ein grober Überblick: Ich fange im Mittelalter an, das von der Religion geprägt ist und in dem diese eher kritische Haltung dem Schlaf gegenüber aus der Bibel vorherrscht. Aber trotzdem ist die Bibel auch ambivalent, so wie auch jede Epoche Gegenpositionen hat. Es gibt Stellen, wo klar wird, dass der Schlaf auch ein spirituelles Potenzial hat. Dass man versucht, zurück zu Gott zu gelangen, und in dem Kontext hat der Schlaf zumindest als Metapher auch eine positive Bedeutung. Und dann kommt die Aufklärung, da geht diese Art von Spiritualität immer mehr verloren und solche Formen der Erkenntnissuche haben keinen hohen Stellenwert mehr. Hier dominiert mehr der Rationalismus. Und dann formt sich mit der Industrialisierung die Disziplinargesellschaft, wo man versucht, den Körper und damit den Schlaf der Leistung unterzuordnen. Zur Aufklärung und Industrialisierung ist die subversive Gegenbewegung dann die Romantik, wo man in Kunst und Literatur den Schlaf wieder aufwertet. Und dann kommt die Erlebnisgesellschaft des späten 20. und 21. Jahrhunderts, wo man teilweise versucht, immer noch Leistung zu optimieren, aber in gewisser Weise auch den Genuss.
Was bedeutet das für die heute vorherrschende Einstellung unserer Gesellschaft zum Schlaf, Sie wollen ja dazu anregen, sie zu überdenken?
Walter: Hier habe ich meine These im Laufe des Buchs verändert. Ich hatte am Anfang die klassische kulturkritische Auffassung, dass wir eine Negativhaltung zum Schlaf haben, die sich aus der Denktradition der westlichen Gesellschaft speist - weil der Schlaf ein unproduktiver Zustand ist. Während des Schreibens, weil dann ja auch neue Sachen erschienen sind, bin ich dann zu dem Schluss gekommen, dass sich das gerade wandelt. Dass der Schlaf eigentlich wieder positiv konnotiert wird. Oft noch im Zusammenhang mit der Frage nach Leistungssteigerung, aber eben auch im Sinne von Genuss. Aber die Problematik ist, dass in einer Erlebnisgesellschaft alles ganz schnell zu einem Event wird. Man kann nichts mehr zweckfrei machen, weil alles sofort zu einem Statement, zu einem Lifestyle wird.
Trotzdem sprechen heute viele von einer chronisch übermüdeten Gesellschaft. Lassen sich Parallelen zum "Burnout des 19. Jahrhunderts", der Neurasthenie ableiten?
Walter: Ja und Nein. Sowohl im Diskurs um die Neurasthenie als auch um Burnout kann eine Kulturkritik enthalten sein. Stichwort Leistungsgesellschaft, schnelllebige Zeit - das hat man im 19. Jahrhundert auch schon so empfunden. Der große Unterschied liegt für mich darin, dass die Neurasthenie, der Begriff kommt von Neuro, Nerven, als eine Art Nervenschwäche betrachtet wird. Im 19. Jahrhundert passt sie in einen Diskurs der Empfindsamkeit. Man war der Ansicht, dass es Leute mit besonders sensiblen Nerven gibt. Das betraf eher die Oberschicht, die überhaupt Zeit hatte, sich solche kulturkritischen Gedanken zu machen. Das Burnout hingegen ist eher ein klassisches Ding der Arbeitsgesellschaft. Betroffen ist, wer für etwas gebrannt und dafür hart gearbeitet hat. Ganz am Anfang kommt der Begriff in Amerika in Zusammenhang mit Pflegeberufen vor, dann wird es, in Deutschland zumindest, als Managerkrankheit gehandelt. Das ist ein zweischneidiges Ding, weil es einerseits es eine Kritik an der Leistungsgesellschaft enthält, und andererseits ist es fast eine Art Auszeichnung, Burnout zu haben. Weil das bedeutet, dass man sich für die Gesellschaft verausgabt hat.
Verausgabt haben sich auch viele im Kampf gegen den Schlaf. Was haben Sie zum erfolgreichen Schlafmanagement im Kriegseinsatz herausgefunden?
Walter: Die Schlafmedizin hatte im Krieg unglaubliche Entwicklungsphasen durchgemacht. Tendenziell war es so, dass in der Disziplinargesellschaft des 19. Jahrhunderts die Moral des charakterstarken Soldaten vorherrschte, der mit wenig Schlaf auskommen muss. Ab dem 20. Jahrhundert kommen dann Drogen dazu, was damit zusammenhängt, dass synthetische Amphetamine zur Verfügung stehen. Die ersten, die das im richtig großen Stil nutzen, sind die Nazis. Sie nahmen Crystal Meth. Als entsprechende Reaktion auch die Alliierten, die nahmen dann etwas andere Substanzen. Nach dem Krieg ging es weiter, die Bundeswehr setzt es ein und auch die Nationale Volksarmee in der DDR. Da heißt es wieder anders, aber ist im Grunde immer dieselbe Substanz, die weiter verwendet wird bis in die 80er. In den USA kommt nach dem Krieg Kritik auf, weil man merkt, dass Schlafentzug auch Gefahren birgt. Er macht Leute unzurechnungsfähig, und zwar in einem viel höheren Maße, als man gedacht hat. Ab dann geht man mehr in die Richtung, Soldaten müssen mehr schlafen, um ihre Leistung optimieren zu können. Auf der Homepage der US-Army findet man heute eine Schlafempfehlung, die der modernen Schlafmedizin entspricht.
Damals verordnete man also den Soldaten Wachheit auf Rezept, heute wird in Schlaflaboren untersucht, wie Schlafprobleme in den Griff bekommen werden. Warum ist gerade das Thema "Schlaf" mit so vielen Widersprüchen verbunden?
Walter: Wahrscheinlich, weil es selbst ein widersprüchliches Thema ist. Es beginnt mit dem Paradox, dass man sagt, man genießt es, zu schlafen - obwohl man den Schlafzustand nicht einmal bewusst erlebt. Man kann sich ja nicht einmal daran erinnern, außer an die Träume. Schlafen hat einerseits etwas Genussvolles, aber andererseits etwas Abgründiges und Unheimliches. Früher hat man sich realen Gefahren ausgesetzt, wenn man die Kontrolle verloren hat. Heute ist es uns unheimlich, die Kontrolle abzugeben. Es ist ein Widerspruch in sich, weil wir einerseits genau diese Freiheit von Kontrolle genießen, andererseits wollen wir sie aber wieder erlangen und auch noch diesen Zustand optimieren.
Sie thematisieren in diesem Zusammenhang neue Formen des Schlafens, wie etwa das polyphasische Schlafen. Auch im vorindustriellen Zeitalter hat man nachweislich nicht in einem durchgeschlafen?
Walter: Es spricht einiges dafür, dass es einen ersten und zweiten Schlaf gab. Man hat ja auch versucht, das experimentell zu reproduzieren, indem man die Lichtbedingungen der vorindustriellen Gesellschaft hergestellt hat. Man hat feststellt, dass sich dieser Rhythmus auch auf natürliche Art einstellt. Aber das heutige polyphasische Schlafen ist trotzdem anders - einmal davon abgesehen, dass es da meistens nicht darum geht, in zwei Blöcken zu schlafen, sondern größtenteils viel radikaler, dass man alle zwei Stunden eine Viertelstunde schläft oder so. Aber das vorindustrielle Schlafverhalten ist ein passives Reagieren auf die Umstände der Umgebung, der Natur, wenn man so will. Man wacht auf, steht auf und macht etwas, und geht dann wieder schlafen. Beim polyphasischen Schlafen ist eigentlich das Gegenteil der Fall, weil man nicht passiv dazu gezwungen wird, sondern von vornherein aktiv plant und berechnet, wann man wie schlafen will.
Auch hatte das Schlafverhalten früher verstärkt einen kollektiven Charakter?
Walter: Das ist ein weiterer fundamentaler Unterschied. Damals sind die Leute nachts aufgewacht und haben sich teilweise in der Küche getroffen, miteinander gesprochen oder gebetet. Beim heutigen polyphasischen Schlafen entkoppelt man sich nicht nur von natürlichen Rhythmen wie Licht und Dunkelheit, sondern auch von sozialen. Wenn man es radikal betreibt, entzieht man sich im Zuge der Selbstoptimierung der Gesellschaft.
Ein ähnlicher Unterschied besteht zwischen dem traditionellen Mittagsschlaf und dem heutigen Powernap?
Walter: Genau, der Powernap ist ganz stark individualisiert. Im Grunde genommen legt man ihn dann ein, wenn der eigene Körper danach verlangt. Das ist kein kollektives Ritual mehr wie etwa in der "Siesta-Kultur" im mediterranen Raum. Es gibt besondere mythologische Figuren und Erzählungen, die dieser Zeitspanne entspringen. Oder in China oder Taiwan, wo es bis heute mittags in Büros ein Ritual ist, dass die Lichter ausgeschaltet werden. Generell in bäuerlichen Gesellschaften, nicht nur im Süden, auch nördlich der Alpen, war es im Sommer teilweise so warm, dass man einfach nicht mehr körperlich arbeiten konnte.
Auf welche weiteren Erkenntnisse sind Sie gestoßen, die Sie ganz besonders überrascht haben?
Walter: Das öffentliche Schlafen zum Beispiel. Erst nach und nach habe ich erkannt, wie hoch ideologisch und politisch aufgeladen dieses Thema ist. Die "Rough Sleeper" Bewegung in Großbritannien und Amerika, generell die gesamte politische Debatte, in der es um Obdachlosigkeit und Umstrukturierung der politischen Gesellschaft geht. Daraus ist dann auch ein viel größeres Kapitel in meinem Buch geworden, als geplant war. Und dann das "Co-Sleeping". Da fand ich es teilweise erschreckend, obwohl man das natürlich weiß, aber wie ideologisch auch wissenschaftliche Debatten geführt werden. Wenn man das mit einem größeren historischen Abstand betrachtet, merkt man, dass sich dieselben Positionen - aber mit verschiedenen Argumenten - wiederholen. Auch heute wird davor gewarnt, Babys mit ins Bett zu nehmen, da das zu plötzlichem Kindstod führen kann. Die These, dass Eltern und Kinder nicht in einem Bett schlafen sollen, gab es schon fünfmal in der Geschichte davor, aber mit unterschiedlicher Begründung. Das fand ich superinteressant.
In den letzten Jahren sind ja doch einige kulturtheoretische Betrachtungen und Schriften zum Schlaf erschienen. Hat man Licht ins Dunkel gebracht? Oder anders gefragt: Welche Punkte hätten Sie noch gerne reingenommen?
Walter: Opium oder generell Schlafmittel habe ich ganz weggelassen, während man sich dieses Thema sicher erwartet hätte. Aber vieles konnte ich nur an der Oberfläche berühren und nicht im Detail behandeln. Ein Thema, zu dem es noch nicht viel Material gibt, weil das gerade erst im Kommen ist, betrifft den Schlaf in der bemannten Raumfahrt. Man plant ja, Astronauten lange in den Schlaf zu schicken. Aber was passiert dann mit ihnen? Träumen sie? Und wie erleben sie dann Wirklichkeit und Schlaf? Das hätte mich interessiert, weil ich den Eindruck habe, dass da auch auf physiologischer Ebene radikal Neues entstehen wird. Und das zweite ist eher eine philosophische Frage. Und zwar, inwiefern durch die zunehmende Virtualisierung das Verständnis von Schlaf verändert oder erweitert wird. Ich glaube, dass es in Zukunft viele Arten von Zwischenzuständen oder schlafverwandten Formen geben wird. Wenn der Schlaf zunehmend kontrolliert wird und dadurch Schlaf und Wachheit nicht mehr so klassisch dualistisch voneinander getrennt sind... wie verändert sich dann unser Verhalten zum Schlaf?
Das Gespräch führte Barbara Schechtner / APA-Science