Kampf gegen Armut und Ungleichheit: "Ohne Bewusstsein ist es aus"
Armut, Slums und soziale Ungleichheit werden bis 2030 der Vergangenheit angehören - zumindest, wenn es nach der "Agenda 2030" der Vereinten Nationen geht. Baut die UNO Luftschlösser, oder ist die Umsetzung von Schein in Sein tatsächlich realistisch?
Von den 17 aufgestellten SDGs (Sustainable Development Goals, dt.: Ziele für nachhaltige Entwicklung) befassen sich zwei mit dem Beenden von Armut und Hunger, eines mit der Verringerung von Ungleichheit und eines mit der nachhaltigen Gestaltung von Städten und Gemeinden. Schön und gut, befindet Yuri Kazepov. Dass die Ziele bis in elf Jahren tatsächlich erreicht werden, hält er aber für sehr unwahrscheinlich.
Der Professor für Soziologie der Universität Wien vergleicht in dem internationalen Projekt COHSMO westliche Sozialsysteme auf Ungleichheit und Zusammenhalt der Gesellschaft. COHSMO besteht aus sieben Forschungsteams aus sieben europäischen Ländern: Neben Österreich sind Dänemark, Griechenland, Italien, Litauen, Polen und England beteiligt. "Wir sammeln Daten über Armut, Wohlstand, Bildung, Familie, Migration und so weiter", erklärt Kazepov im Gespräch mit APA-Science. "Mithilfe dieser Daten versuchen wir zu verstehen, welche Dimensionen eine Rolle im sozialen Zusammenhalt spielen. Der Gedanke ist, dass Kohäsion durch Ungleichheit beeinträchtigt wird, also je weniger Ungleichheit es gibt, desto besser ist der Zusammenhalt. Je mehr eine Gesellschaft zusammenhält, desto größer ist die Bereitschaft, zu teilen und zu verteilen." Die Unterschiede zwischen Stadt und Land und zwischen Ländern werden dabei von Faktoren wie politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen beeinflusst, Lösungsansätze müssten dementsprechend an die jeweilige Region angepasst werden.
Sozial auf Kosten der Umwelt
"Inequality is rising across Europe" ist der erste Satz der Projektbeschreibung von COHSMO: Die Ungleichheit in Europa nimmt zu. Griechenland und Italien wurden von der Finanzkrise stärker getroffen als Dänemark, solchen armen Ländern falle die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele dementsprechend schwerer, so Kazepov. "Sehr oft geht die soziale Nachhaltigkeit dann auf Kosten der Umwelt-Nachhaltigkeit. Nicht jeder kann sich Bio leisten, nicht jeder wohnt in einem CO2-neutralen Gebäude. Diese beiden Nachhaltigkeiten zusammenzufügen ist in der Theorie schön und gut, aber schwer zu realisieren."
Bis 2030 soll beispielsweise einerseits der Zugang zu angemessenem, sicherem und leistbarem Wohnraum sowie die Grundversorgung für alle sichergestellt und Slums saniert werden. Auf der anderen Seite soll die von den Städten ausgehende Umweltbelastung pro Kopf gesenkt werden. "Die Frage ist: Kann man Umwelt- und wirtschaftliche Prioritäten kombinieren? Wir glauben, dass es möglich ist - aber schwierig", betont Kazepov und verweist auf eines seiner derzeitigen Forschungsprojekte, in dem die Frage im Mittelpunkt steht, ob die Nachhaltigkeit von Gemeindebauten negative soziale Auswirkungen haben kann. Durch die Renovierung der Gebäude könnten beispielsweise die Kosten steigen, was zur Folge hätte, dass einige Menschen sich das Wohnen im Gemeindebau nicht mehr leisten können.
Lösung auf allen Ebenen
Problematisch sei, dass die Nachhaltigkeitsziele in keiner Weise verpflichtend sind, die Teilnahme ist freiwillig, bei Nichterfüllung drohen keinerlei Konsequenzen. "Man muss hoffen, dass es nicht bei einer Unterschrift bleibt", erklärt Kazepov. "Es braucht einen Umsetzungswillen, es braucht eine Umsetzung auf gesetzlicher Ebene: Wenn man einen Punkt nicht erfüllt, muss es Folgen haben." Die Zielsetzung bis 2030 sei zwar nachvollziehbar, weil ein kürzerer Zeitraum nicht realistisch sei, aber man müsse Zwischenschritte setzen und kontrollieren. "Wenn man nur 2030 als Ziel setzt, passiert bis 2029 nichts", erklärt Kazepov. Wie ein Student, der erst in der Nacht vor der Prüfung auf den letzten Drücker zu lernen beginnt und in Folge negativ benotet wird, würden die Mitgliedsländer dann 2030 feststellen, dass die Ziele nicht erreicht wurden. Die UNO müsse daher konkrete Schritte verlangen.
Was außerdem benötigt werde, fügt Kazepov hinzu, sei eine Lösung auf allen Ebenen. "Es braucht eine Multilevel-Governance-Lösung. Länder, Städte und Individuen müssen selbst etwas tun, müssen ihr Verhalten ändern. Die Rahmenbedingungen, die auf supernationaler Ebene geschaffen werden, sind natürlich sehr willkommen, aber alleine reichen sie nicht aus. Es ist eine Aufgabe, die auf jeden zukommt, jeder hat seinen Teil beizutragen, alle Akteure, alle Vereine, die Kirche, die Zivilgesellschaft. Das Problem ist, dass die Gesellschaft sehr fragmentiert ist und alle Gruppen unterschiedliche Zielsetzungen haben." In einem Staat, in einer Stadt, schon in einer kleinen Gemeinde prallen viele verschiedene Interessen aufeinander. Dieser Interessenskonflikt wiederum verhindert eine rasche Umsetzung der Ziele. "Man muss ein Teamplayer sein", betont Kazepov. "Wenn man nicht im Team spielt, funktioniert es nicht. Es ist wichtig, dass jeder weiß, dass er eine Rolle spielt. Wenn ich beispielsweise Produkte kaufe, die sehr billig sind, aber unter menschenunwürdigen Bedingungen in China produziert wurden, trage ich nicht dazu bei, dass die Welt sich zum Positiven ändert".
Bildung als wichtiger Faktor
Den Teamgeist forme man in diesem Fall am besten schon in der Kindheit während der Schulzeit. "Schulen haben eine bedeutende Sozialisationsrolle", so Kazepov. "Sie bieten die Möglichkeit, soziale Integration und Zusammenhalt zu schaffen. Die Begegnung unterschiedlicher Kulturen und Altersklassen ist unheimlich wichtig. Es braucht Interaktion, um kulturelle Barrieren aufzubrechen. Warum haben Menschen in ländlichen Regionen Angst vor Ausländern? Weil sie diese Interaktion nicht haben. Der "Fremde" wird oft zum Sündenbock gemacht. Arbeitslosigkeit? Das sind die Ausländer. Kriminalität? Das sind die Ausländer." Diese Form des Nichtwissens verhindere aber eben jenen sozialen Zusammenhang, den es für die Erreichung der SDGs dringend brauche.
Als einen der wichtigsten Aspekte nennt Kazepov deshalb Bildung. Diese könne Ungleichheiten verhindern, indem sie Unwissen verringert und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit schafft. Sie könne Ungleichheiten aber auch verstärken, da sie die Gesellschaft in bildungsferne und bildungsnahe Schichten spaltet. Die meiste Ungleichheit könne man verhindern, indem man in Kindergarten, Vorschule, Volksschule investiere - und auch schon in die Zeit davor. "Ich bin für eine Investition auf allen Ebenen der Bildung. Sie ist einer der wichtigsten Bausteine für eine nachhaltige Gesellschaft. Bewusstseinsbildung ist das A&O. Ohne Bewusstsein, ohne Bildung ist es wirklich aus."
Von Anna Riedler / APA-Science