Experten: Bedrohung durch Rechtspopulismus unterschätzt
Die vom Rechtspopulismus ausgehende Bedrohung liberaler Demokratien werde von Medien und Öffentlichkeit "zumeist nicht wirklich ernst genommen". Dies betont die Experteninitiative "Diskurs" in einer Aussendung. Die Bilder von der Erstürmung des Kapitols "erscheinen vor diesem Hintergrund als unfassbare Entgleisung", doch sei der Boden für solche "schockierenden Grenzüberschreitungen" seit Jahren aufbereitet worden, und sie kämen "aus der Mitte der Gesellschaft".
Das Netzwerk, das sich der öffentlichen Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse verschrieben hat, verweist diesbezüglich auf Forschungsergebnisse des deutschen Soziologen Wilhelm Heitmayer und der WU-Professorin Ruth Simsa. Heitmayer sieht sich durch die Ereignisse in seiner Position bestätigt, dass der Begriff des Rechtspopulismus nicht mehr ausreicht, um die Bedrohung der offenen Gesellschaft und liberalen Demokratie ausreichend zu beschreiben. Stattdessen spricht er von "autoritärem Nationalradikalismus", der auch mit Gewalt hantiere.
Die Wiener Soziologin Simsa betont, dass seit Jahren selbst in konsolidierten Demokratien ein "markanter Rückgang von Vertrauen in politische Institutionen und politischer Partizipation betrachtbar" sei. Wesentliche Aspekte rechtspopulistischer Diskurse seien die Spaltung der Gesellschaft, die Destabilisierung von Institutionen, aggressive Narrative und Haltungen sowie die Einschränkung von Partizipation in demokratischen Prozessen, so Simsa. Auch in Österreich seien solche Tendenzen zu betrachten, verwies sie etwa auf die Verkürzung von Begutachtungsfristen für Gesetze oder die Angriffe auf das BVT oder die Korruptionsstaatsanwaltschaft.
"Schleichender Prozess oft kleiner Schritte"
Autoritäre Regime würden immer seltener durch einen Militärputsch oder andere Formen massiver Gewalt entstanden, sondern "in einem schleichenden Prozess oft kleiner Schritte", warnt das Wissenschafternetzwerk. "In diesem Prozess sind die kritische Zivilgesellschaft und unabhängige NGOs unter den ersten Zielen autoritärer Parteien."
Heitmayer sieht den "dramatischen Unterschied" zwischen Europa und den USA darin, dass dort der amtierende Präsident selbst den rechtsextremen Bewegungen "die notwendigen Legitimationsbrücken gebaut" habe. "Und es ist noch nicht vorbei. Mit einem neuen Medienimperium dürfte er (Trump, Anm.) weiter mobilisieren. Wenn es nicht dazu kommt, dann ist zu berücksichtigen, dass zerfallende Bewegungen die Herausbildung terroristischer Kerne in sich tragen."
Beständige Nadelstiche gegen demokratische Prozesse
Der deutsche Soziologe warnte aber vor einer "vorschnellen Personalisierung des Problems". Autoritäre Versuchungen ließen sich nämlich im Repertoire einer Reihe von politischen Parteien und Akteuren in Europa und anderen Erdteilen finden. "So ist ein Trend festzustellen, dass sich auch traditionell konservative Politik häufig an rechtspopulistische Diskurse anpasst, dabei der Normalisierung und Legitimierung ihrer Inhalte einen enormen Schub verleiht und in Form von beständigen Nadelstichen demokratische Prozesse aushöhlt."
Entsprechend würden autoritäre Demokratievorstellungen in der Bevölkerung steigen, auch in Österreich. So hätten im Jahr 2019 laut Demokratiemonitor bereits 38 Prozent der Österreicher autoritäre Demokratievorstellungen geäußert, um vier Prozentpunkte mehr als 2018. Weil Bilder wie jene in Washington "aus der Mitte der Gesellschaft heraus entstanden" seien, dürfe man sich nicht einer "Symptombehandlung" erschöpfen, sondern müsse den Blick auf jene Entwicklungen richten, die die sozialen Wurzeln der offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie vergiften, betonte das Expertennetzwerk.