Neue Bücher: "Corona und die Welt von gestern", "Bilder der Pandemie"
Sachbücher zu medizinischen, gesellschaftlichen und politischen Aspekten von Corona füllen bereits Regalmeter. Zwei Neuerscheinungen aus Österreich stechen dabei heraus. Ein Sammelband versucht möglichst aktuell und fundiert viele verschiedene Sichtweisen zu einer Art Zwischenbilanz der Krise zusammenzufassen, ein kunsthistorischer Essayband beschreibt den in der Pandemie veränderten Blick auf Kunstwerke.
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Viele Blicke auf "Corona und die Welt von gestern"
"War die Pandemie absehbar und ist sie vergleichbar? Wurde zeitgerecht und vor allem richtig reagiert? Wären andere Reaktionen und Handlungsoptionen nicht nur denkbar, sondern auch sinnvoller gewesen? Scheidet COVID-19 die Welt von gestern und jene von morgen und haben wir es womöglich mit einer welthistorischen Zäsur zu tun?" Solche und ähnliche Fragen behandelt der von den Historikern Manfried Rauchensteiner und Michael Gehler herausgegebene Essayband "Corona und die Welt von gestern", der am Montag im Böhlau Verlag erscheint. "Wie das 'Decamerone' von Giovanni Boccacio, das in zeitlicher Nähe zur Pestepidemie 1348 entstanden ist, fassen - wenngleich mit weit geringerem Unterhaltungswert - 14 Vertreterinnen und Vertreter der unterschiedlichsten Lebens- und Wissensbereiche ihre Sicht der Dinge zusammen", schreibt Rauchensteiner über die Intention des Buches, das nur einen Zwischenbilanz ziehen könne, "denn es war nicht, sondern ist immer noch. Und es ist außerordentlich präsent."
Die inhaltlichen wie stilistischen Zugänge zum Thema sind breit gefächert. Philosoph Robert Pfaller lässt das Virus selbst zu Wort kommen ("Kein Freund großer Worte, sondern jemand der Fakten schafft"), der Medizinhistoriker Herwig Czech wirft einen "Blick auf eine lange vergessene Pandemie", nämlich auf die Spanische Grippe von 1918, die ein Vielfaches mehr an Opfern forderte als der Erste Weltkrieg. Es werden außen-, medien-, sport- und bildungspolitische Aspekte beleuchtet, Christoph Badelt schreibt über "Die COVID-19-Krise und die österreichische Wirtschaft", Martin Jäggle über "Kirchen und Religionsgemeinschaften in Zeiten der Pandemie", während Rauchensteiner immer wieder Zwischenrufe und Überleitungen beisteuert. Michael Köhlmeier stellt die grundsätzliche Frage "Warum eigentlich Kultur?" (die von ihm erwartete Antwort lautet: "Weil wir sie wollen"). Der Verfassungsrichter und Ex-Justizminister Wolfgang Brandstetter wünscht sich am Ende seines rechtstheoretischen Beitrages über Grundrechtseingriffe in Zeiten der Pandemie: "Möge sich das Pendel zwischen Freiheit und Verantwortung 2021 mehr in die Richtung von Verantwortung sich selbst und anderen gegenüber bewegen, denn die Gefahr ist noch lange nicht vorbei!"
FWF-Präsident Klement Tockner beschreibt in seinem Beitrag "Die Wissenschaft als globaler Hoffnungsträger". "Es sind Epidemiologen, Modelliererinnen, Mediziner und vermehrt auch Sozialwissenschaftlerinnen, Ökonomen und Psychologinnen, die den politischen Entscheidungsträgern die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse mitgeben, um die Pandemie und deren Folgen bekämpfen zu können", schreibt er und fragt: "Wo würden wir stehen, wenn wir in den letzten Jahren nicht so intensiv in die Grundlagenforschung investiert hätten?" Bisher habe es im Durchschnitt 10,7 Jahre von der Entwicklung bis zur Zulassung eines Impfstoffes gebraucht. Weltweit würden derzeit 180 Impfstoffe entwickelt. "Wissenschaft erfolgt derzeit in Echtzeit, man arbeitet quasi am offenen Herzen, und alle können dabei zuschauen." Dabei sei die rasche und ungehinderte weltweite Zusammenarbeit und das Zusammenführen und Standardisieren von globalen Datensätzen von enormer Bedeutung. "Dieses Wissen wird bei den noch viel größeren Herausforderungen wie der Eindämmung der globalen Erwärmung oder des Artensterbens gebraucht werden." Open Science Ansätze seien künftig ebenso unabdingbar wie eine bessere Wissenschaftskommunikation. Tockners Botschaft an die Politik: "Wer jetzt verstärkt in Wissenschaft und Forschung investiert, erhöht die Chancen, besser aus der gegenwärtigen und aus künftigen Krisen zu kommen."
(Manfried Rauchensteiner, Michael Gehler (Hg.): "Corona und die Welt von gestern", Böhlau Verlag, 300 Seiten, 29 Euro, ISBN 978-3-205-21258-4)
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"Bilder der Pandemie" im imaginären Museum
"Ein imaginäres Museum im Zeitalter der pandemischen Verunsicherung" hat Thomas D. Trummer, der Direktor des Kunsthaus Bregenz, in Buchform vorgelegt. "Bilder in der Pandemie" ist ein assoziativer und subjektiver Streifzug durch die Kunstgeschichte, entstanden im vergangenen Jahr als "Versuch, das Bildsehen in Zeiten der Covid-19-Krise zu verfolgen". Denn, so Trummer, das Betrachten und Interpretieren von Bildern ist kontext- und zeitbezogen: "Die Krise lenkte die Aufmerksamkeit auf Werke, die Geschichten erzählen und Deutungen anbieten. (...) Die Bilder erweisen sich als Kommentare zu unserer als prekär empfundenen Gegenwart. Sie beginnen zu sprechen, ob mahnend oder heilsam, intim oder politisch, sinnlich oder bestürzt." Ursprünglich wurden die Bildbetrachtungen als Podcastserie Sonic Views online auf den Plattformen von KUB Digital veröffentlicht. Für die Buchausgabe im handlichen Pocket-Format wurde die Auswahl auf über 60 Werke erweitert. Zeitlich reicht sie vom Alten Ägypten bis in die Gegenwart, thematisch ist sie voller Überraschungen.
So verbindet Trummer etwa die weitgehend entvölkerten Stadtplätze Giorgio de Chiricos mit der allerersten fotografischen Aufnahme, auf der sich schon aufgrund der achtstündigen Belichtungszeit keine Spur von Menschen findet, interpretiert eine Mondrian-Komposition als Bild der Abgrenzung und stößt auf Küsse und Berührungen, die auch in anderen Kontexten als Grenzüberschreitungen gesehen wurden. Breiten Raum nehmen naturgemäß Bilder (u.a. von Poussin, van Dyck oder Botticelli) ein, die auf die Pest Bezug nahmen, aber auch sehr unterschiedliche Werke zu den Pocken: Ein Füger-Gemälde zeigt die um ihre an der Seuche gestorbene Schwiegertochter trauernde Kaiserin Maria Theresia, in einer nur 26 Jahre später entstandenen satirischen Radierung nimmt James Gillray die schaurigen Gerüchte über Nebenwirkungen der Pockenimpfung auf Korn. Und natürlich darf auch die spanische Grippe nicht fehlen, an der etwa auch Egon Schiele starb.
Manchmal sind die in den durchwegs lesenswerten Kurzessays hergestellten Verbindungen aber auch augenzwinkernd und sehr weit hergeholt: Vom Briten Mark Riley hat es der Modellnachbau einer Hütte in die Auswahl geschafft, die sich Ludwig Wittgenstein in Norwegen gebaut hat. Jener Philosoph, der vor 100 Jahren in die Nähe von St. Corona am Wechsel zog und sich als Dorfschullehrer besonders für die Fledermaushöhle der Gegend interessierte. Ein gefundenes Fressen für Verschwörungstheoretiker!
(Thomas D. Trummer: "Bilder der Pandemie", Herausgegeben vom Kunsthaus Bregenz, 224 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-96098-939-4)