Wie Hooligans und Polizisten im Hirn Gedanken zu Bewegungen machen
"Stehen Sie bitte auf." Dringen Schallwellen in das Ohr, die solche Worte repräsentieren, werden im Gehirn Millionen Nervenzellen (Neuronen) aktiviert, erklärte Tim Vogels vom Institute of Science and Technology (IST) Austria gegenüber APA-Science. Am Donnerstag hält der Gedächtnisforscher einen Online-Vortrag zum Thema "Was passiert beim Denken?".
Zunächst vollbringen die Neuronen eine Erinnerungsleistung und erkennen dieses Muster akustischer Wellen als Aufforderung, eine bestimmte Bewegungssequenz zu vollführen. Wenn man bereit ist, dieser Bitte Folge zu leisten, übersetzen sie diese statische Erinnerung in eine zeitlich ausgearbeitete motorische Erinnerung, und senden über die Nervenbahnen im ganzen Körper Anweisungen an drei- bis fünfhundert Muskelgruppen. Diese sorgen dafür, dass ganz koordiniert zunächst der Oberkörper und die Arme nach vorne verlagert werden, die Beine und schließlich der ganze Körper sich strecken, bis er von einer sitzenden in eine stehende Position gewechselt ist.
Von der Empfindung zur Bewegung
Die Aktivitäten der Muskeln müssen dazu ganz genau koordiniert werden. "Das ist eine ganz akkurat wieder hervorrufbare Sequenz von Signalen an die Muskeln", sagt Vogels. Wenn einzelne Muskelgruppen anders angesprochen werden, stoßen vielleicht die Beine gegen die Schreibtischkanten, der Stuhl rollt davon, oder die Arme schmeißen die Kaffeetasse um.
Neurobiologisch ist Folgendes passiert: Eine zeitlich ausgedehnte Empfindung (das Hören der Worte "Stehen Sie bitte auf") innerhalb von vielleicht zwei Sekunden wurde irgendwann in der Vergangenheit als Konzept im Gehirn abgespeichert. "Im Gehirn gibt es dadurch Zellen, die 'Stehen Sie bitte auf' als stationäres Aktivitätsmuster repräsentieren", erklärt der Forscher. Als diese Worte wieder ins Ohr drangen, wurde das stationäre Muster sogleich in eine zeitlich ausgedehnte Erinnerung umgewandelt, und in Muskelsignale weiterverarbeitet.
Ein immens kompliziertes Netzwerk
Das Ganze wird bekanntermaßen von einem Netzwerk an Gehirnzellen bewerkstelligt, die allesamt mit ihren Nachbarn in reger Konversation verstrickt sind. All die Verknüpfungen innerhalb von absehbarer Zeit mit Experimenten zu entwirren und die Schaltpläne quasi von Hand nachzuzeichnen, ist hoffnungslos, so der Experte, denn immerhin gibt es in einem Menschenhirn rund Hundert Milliarden Nervenzellen, und jede davon spricht sich mit rund 10.000 Nachbarn ab.
"Für die Experimentalisten ist es sehr schwer festzustellen, wie das Netzwerk verbunden ist", erklärt Vogels: "Als Theoretiker kann ich aber sehr viel zum Verständnis beitragen, weil ich einfach Sachen mit meinen mathematischen Modellen ausprobieren kann." Nachdem man die einfachen biophysikalischen Regeln der Nervenzellen kennt, kann man die Verbindungseigenschaften (Konnektivität) nach Bedarf so lange in den Gleichungen verändern, bis die Theorie mit den praktischen Beobachtungen übereinstimmt.
Einzelne Nervenzellen als elektrische Schaltkreise
Jede Nervenzelle im Gehirn besteht aus drei funktionalen Teilen, erklärt Vogels: Über viele kleine Verästelungen (dendritischer Arbor) bekommen sie bis zu Zehntausende schwache Spannungs-Signale von ihren Nachbarn. Über "Axone", das sind lange, schlauchartige Fortsätze, senden sie starke Spannungs-Signale aus, die in den Synapsen in chemische Signale umgewandelt werden. Dazwischen ist der Zellkörper (Soma), in dem die Signale verarbeitet werden. Die Spannungssignale wandern als "Aktionspotenziale" an den Membranen der Verästelungen und Axone entlang. Im Inneren und Äußeren der Membrane sind verschiedene elektrisch geladene Kalium-, Natrium- und Chlorid-Ionen unterschiedlich verteilt, so dass zwischen der Innen- und Außenseite der Membran eine elektrische Spannung herrscht. Im Normalfall beträgt dieses "Membranpotenzial" bei einem Neuron -70 Millivolt (mV).
Bei einem einkommenden Reiz durch einen Neurotransmitter aus der Synapse werden gezielt Ionenkanäle geöffnet und Ionenpumpen aktiviert, woraufhin die Ionen auf die andere Seite geschafft werden und das Membranpotenzial sich schlagartig verändert. Diese Veränderung läuft die Verästelungen der Dendriten und der Axone entlang. Anschließend wird wieder das ursprüngliche Membranpotenzial hergestellt. "All das kann man mit einem recht einfachen elektrischen Schaltdiagramm darstellen", sagt Vogels: "Die Ionenkanäle sind dort Widerstände, die Ionenpumpen sind Batterien und die Membran selbst ist ein Kondensator." Dadurch macht man aus der "biophysikalischen Realität" eine "elektrodynamische Realität", und kann die einzelnen Elemente zu einer mathematischen Gleichung verbinden. "Mit so einer Gleichung kann ich eigentlich komplett die gesamte Membranveränderung beschreiben", berichtet er.
Dadurch kann man im Computer mit recht einfacher Mathematik in Form einer Differenzialgleichung vorhersagen, wie eine Zelle reagiert, wenn sie ein bestimmtes Eingangssignal bekommt. Wenn man sie zu einem Netzwerk verbindet, und ihre Interaktionen manipuliert, kann man damit auch die Dynamik des Nervenzell-Netzwerkes studieren, so der Forscher. Weil man allerdings nicht weiß, wie die Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Zellen aussehen, bleibe einem hier aber nichts anderes über, als auszuprobieren und zu modellieren, was bei dieser und jener Konnektivität geschieht. So will Vogels aufklären, wie aus einem Gedächtniseintrag eine motorische (Bewegungs-) Gedächtnisleistung wird, die wiederum eine gezielte Aktivierung spezieller Muskelgruppen verursacht.
Wiggles - kleine Schlangenlinien als Gedächtnis-Bewegungsmuster
Der US-Forscher Mark Churchland hat bei Affen die Aktivität von einzelnen Neuronen aufgezeichnet, die eine vorher erlernte Bewegung durchgeführt haben, berichtet Vogels: "Mit Anfang der Bewegung hat jede neuronale Zelle der Bewegung entsprechend eine Aktivität in Form von verschiedenen kleine Wellenformen, ich nenne sie 'Wiggles', stattgefunden". Diese 'Wiggles' sahen bei der gleichen Bewegung stets gleich aus. "Wir wissen aber nicht, wie das Gehirn solche Aktivitätsmuster produziert", so der Neurowissenschafter.
"Wenn man ein Theoretiker ist, so wie ich, baut man ein Modell dazu", sagt er. Zum Beispiel eines mit 400 Neuronen, die andere anregen können (exzitatorisch sind) oder hemmen (inhibitorisch sind). Zunächst rechnete das Modell mit einer einfachen mathematischen Formulierung, die besagt, dass sich die Aktivität über die Zeit ändert, immer wieder auf Null zurückkehrt, und von den Nachbarzellen im Netzwerk beeinflusst wird.
Neuronen hören auf die Nachbarschaft
Nervenzellen sind nämlich eng miteinander verbunden, und die Signalleitung im Kopf funktioniert nicht hauptsächlich in eine Richtung, also von einer Zelle zur nächsten, sondern es gibt viel zurücklaufende Information (rekurrente Prozessierung). "Die Neuronen sind nicht nur daran interessiert, was in der Außenwelt passiert, sondern viel mehr daran, was in der Nachbarschaft los ist", erklärt Vogels. Sie richten ihre eigene Aktivität danach, was die anderen alle machen.
Ein unrealistisches Signal wird realistisch
Der Forscher fütterte das Modell des Neuronen-Netzwerks mit einem Input von außen und beobachtete, was passiert. Die virtuellen Zellen zeigten eine gewisse Aktivität und kehrten auch wieder zum Nullpunkt zurück, aber das Aktivitätsmuster sah überhaupt nicht so aus wie die 'Wiggles' aus Churchlands Versuch. Vogels dachte zunächst, dass dies der Fall ist, weil die Zellen viel mehr auf äußere Signale reagieren, als auf ihre Nachbarn. "Wenn man die rekurrenten Verbindungen viel stärker macht, entsteht aber etwas anderes, das auch nicht so gut ist: nämlich Chaos", sagt er. Jenes sei gewissermaßen der Feind der feinen Koordination. Also hat er sich mit seinen Kollegen drangemacht, die anregenden (exzitatorischen) und hemmenden (inhibitorischen) Signale fein aufeinander abzustimmen. "Wir haben eine kleine zusätzliche Regel eingebaut, die nur auf die inhibitorischen Synapsen wirkt", so der Forscher: "Wenn man diese kleine Änderung in das Netzwerk einbaut, bekommt man auf einmal ein Netzwerk, das sich sehr gut verhält, also genau solche 'Wiggles' reproduziert, wie die Nervenzellen in den Köpfen der Affen". Die neu gefundene Regel sorgt quasi dafür, dass die inhibitorischen Signale die exzitatorischen genau unter Kontrolle haben.
Polizisten und Hooligans im Gehirn
Vogels vergleicht die exzitatorischen Zellen mit Hooligans, die Radau machen, und die inhibitorischen mit Polizisten, die sie im Zaum halten. Normalerweise ist so alles mehr oder weniger ruhig. Bei einem Reiz werden zunächst die Polizisten "in Schlaf versetzt", also die inhibitorischen Zellen gehemmt. Dadurch können die exzitatorischen Zellen, also Hooligans, ungehemmt Lärm schlagen. Damit "wecken" sie aber wichtige inhibitorischen Zellen, die quasi amtshandeln und sie wieder zur Räson bringen. "Damit kreieren sie einen Tanz zwischen Exzitation und Inhibition", so Vogels. Einmal bekommen die einen ein Übergewicht, einmal die anderen, und es gibt eine "hübsch sichtbare Wellenbewegung". Diese temporäre Dynamik, die nach dem Reiz erst so richtig losgeht, macht demnach aus einer Reizung von Neuronen ein "akkurates Muster von Muskelaktivierung", erklärt er: "Wie dieses konkret aussieht, liegt eigentlich begraben in der Struktur des Netzwerkes."
Service: Tim Vogels spricht am Donnerstag, 17. Juni (17.00 Uhr -18.00 Uhr), bei einem Webinar für interessierte Laien zum Thema "Was passiert beim Denken?". Informationen und Anmeldung unter: https://ist.ac.at/en/news-events/event/?eid=3210