Ist Handel ansteckend oder stabilisierend?
Handel ist ansteckend. Ist eine Region im Boom, dann profitieren in anderen Regionen die Exporteure von Konsumgütern und die Zulieferer. Dank intensiver Handelsbeziehungen können auch sie am Boom teilhaben und mehr Beschäftigung und Wachstum erzielen. In der Krise passiert das Gegenteil. Starke Handelsverflechtungen führen zu einer Ausbreitung der Rezession. Am Ende sitzen jedoch alle in einem Boot. Im Boom fliesst Kaufkraft ab und stärkt in anderen Regionen einen schwächeren Konjunktur-gang. Stürzt eine Region in die Rezession, tragen andere Bundesstaaten, die noch wenig betroffen sind und das besser verkraften können, den Einbruch mit. So kann ein Handelsraum sich gegenseitig stützen und insgesamt die Konjunkturschwankungen dämpfen.
Christian Keuschnigg und Michael Kogler, Herausgeber.
Quelle: Sebastian Stumpner (2019), Trade and the Geographic Spread of the Great Re-cession, Journal of International Economics 119, 169-80.
Die Finanzkrise von 2007-2009 begann mit der Krise am US-Immobilienmarkt und erfasste die gesamte Weltwirtschaft. Auch innerhalb grosser Länder gibt es erhebliche Unterschiede, wie rasch und wie stark sich eine Krise ausbreitet. Nach dem Absturz der Boom-Regionen in den USA, in denen die Immobilienpreise und der Konsum zuvor besonders stark gewachsen waren, breitete sich die Arbeitslosigkeit schließlich auf das ganze Land aus. Welche Mechanismen be-fördern die Ausbreitung solcher Schocks auf eine ganze Volkswirtschaft? Welche Rolle spielt der Handel?
Sebastian Stumpner, Ökonom an der Universität Montréal und bei der Banque de France, unter-suchte am Beispiel der Finanzkrise in den USA, wie die Handelsverflechtungen zur Ausbreitung von einem anfänglich regionalen Nachfrageeinbruch beigetragen haben. Zu Beginn der Krise stieg die Arbeitslosigkeit vor allem dort, wo die Immobilienblase früh platzte, die Haushalte hoch verschuldet waren und daher den Konsum besonders stark einschränken mussten. Danach nahm die Arbeitslosigkeit im ganzen Land zu. Eine wichtige Rolle für die Ausbreitung der Krise spielte der Handel zwischen den Bundesstaaten.
Um die Bedeutung des Handels für die Ausbreitung der Rezession nachzuweisen, nutzte der Ökonom die Unterschiede in den Handelsverflechtungen. Manche Branchen in einem Bundesstaat exportierten stark in andere Regionen, die von der Immobilienkrise besonders heftig betroffen waren. Andere exportierten dagegen in weniger betroffene Absatzmärkte mit noch guter Konjunktur. Der Vergleich dieser Branchen erlaubt es, die Rolle des Handels von anderen Ausbreitungskanälen wie z.B. einer Kreditklemme zu trennen. Der Forscher verwendet Daten aus offiziellen Statistiken zu Handelsströmen zwischen den US-Bundesstaaten. Diese umfassen den direkten Handel mit Endprodukten für die Konsumenten wie auch die Lieferungen von Zwischenprodukten in der Wertschöpfungskette.
Für jede Branche in jedem US-Bundesstaat berechnet Sebastian Stumpner ein Maß für den Einbruch der Handelsnachfrage. Dieser Handelsschock ergibt sich aus einem gewichteten Durch-schnitt der Haushaltsverschuldung in allen Handelspartnern innerhalb der USA. Denn in Regionen, wo die Hauspreise während der Immobilienblase stark anstiegen, konnten Hausbesitzer neue Schulden aufnehmen und damit ein besonders starkes Konsumwachstum finanzieren. Diese neuen Schulden waren mit dem höheren Wert ihrer Häuser besichert. Regionen, die vor der Krise 2007 von einem Nachfrageboom durch hochverschuldete Konsumenten profitierten, waren mit dem Absturz der Immobilienpreise von einen besonders starken Nachfrageeinbruch betroffen. Branchen, die mit solchen Regionen umfangreichen Handel betrieben, mussten daher einen wesentlich stärkeren Rückgang ihrer Handelsnachfrage hinnehmen als andere.
Branchen, die viel in besonders volatile Regionen exportieren, verzeichnen höhere Schwankungen in ihrer Handelsnachfrage. Dies hat starke Auswirkungen auf die Beschäftigung. Erfährt eine Branche einen stark positiven (negativen) Nachfrageschock im Handel, steigt (sinkt) das Beschäftigungswachstum in dieser Branche um 2.9 Prozentpunkte.
Das Hauptergebnis der Studie ist, dass der Handel eine wichtige Rolle als Treiber der Ausbreitung spielt. Exportiert eine Branche besonders stark in andere Bundesstaaten, deren Nachfrage aufgrund der Immobilienkrise einbricht, so nimmt dort das Beschäftigungswachstum signifikant stärker ab als in Branchen, deren Handelspartner von der Krise weitgehend verschont wurden. Die empirischen Schätzungen zeigen, dass das Beschäftigungswachstum in einer Branche um durchschnittlich 2.9 Prozentpunkte fällt, wenn diese von einem überdurchschnittlich hohen Rückgang der Handelsnachfrage (um eine Standardabweichung) betroffen ist. Nachdem die Beschäftigung von 2007 bis 2009 um durchschnittlich 8 Prozent schrumpfte, ist dieser Rückgang ökonomisch bedeutsam. Insgesamt lassen sich rund 18 Prozent aller Unterschiede im Beschäftigungswachstum der betrachteten Branchen und Bundesstaaten auf Unterschiede in den Handelsverflechtungen zurückführen.
Der Handel spielt bei der Ausbreitung von wirtschaftlichen Krisen eine zentrale Rolle. Der Rückgang der Handelsnachfrage erklärt ungefähr 18 Prozent der Unter-schiede im Anstieg der Arbeitslosigkeit während der Finanzkrise.
Gilt dieser Zusammenhang nur in Krisen oder über den gesamten Konjunkturzyklus? Abbildung 1 zeigt, wie sich ein überdurchschnittlich hoher Handelsnachfrageschock über einen Zeitraum von zehn Jahren auf das Beschäftigungswachstum auswirkt. Die vertikalen Linien stellen wichtige Ereignisse vor und während der Finanzkrise dar: (i) Höhepunkt der Immobilienblase; (ii) Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008; und (iii) Monat, in dem die Arbeitslosenquote in den USA mit 10 Prozent ihren Höhepunkt erreichte. Bis Ende 2007 profitierten die Branchen, die überdurchschnittlich stark in Bundesstaaten lieferten, deren Nachfrage wegen des Immobilienbooms expandierte. Diese Branchen konnten dank des positiven Handelsschocks ihre Exporte besonders stark steigern und daher ein hohes Beschäftigungswachstum erzielen.
Erlebt eine Region einen Nachfrageboom, können andere Regionen dank intensiver Handelsbeziehungen davon profitieren. Exportorientierte Branchen, die besonders viel in die boomende Region liefern, erzielen ein stärkeres Umsatz- und Beschäftigungswachstum.
Nach dem Platzen der Immobilienblase kehrte sich dieser Effekt um und wandelte sich in einen negativen Handelsschock. Die hochverschuldeten Bundesstaaten schlitterten in die Rezession und erlitten einen starken Nachfrageeinbruch. Die stärkere Handelsverflechtung der exportorientierten Branchen mit den betroffenen Regionen wurde nun den anderen Bundesstaaten zum Verhängnis. Die abnehmenden Exporte führten dort zu Beschäftigungsverlusten und trugen zum Anstieg der Arbeitslosigkeit bei. Mit dem Abflauen der Immobilienkrise und dem Beginn der Erholung im Jahr 2009 schwächte sich der negative Handelsschock wieder ab und verschwand schließlich gänzlich. Mit den anziehenden Exporten konnte sich auch das Beschäftigungswachs-tum wieder erholen.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Handelsverflechtungen zwischen den Bundesstaaten für die Übertragung von Konjunkturschwankungen eine bedeutende Rolle spielen. Sie trugen wesentlich zur Ausbreitung der Rezession während der Finanzkrise bei. So führte die Finanzkrise auch in anderen Bundesstaaten zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit, die intensive Handelsbeziehungen zu den betroffenen Regionen aufweisen. Umgekehrt konnten sie im vorausgehenden Boom überdurchschnittlich stark profitieren.
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