Lesekompetenz: "Migration ist bei weitem nicht der Hauptaspekt"
Dass die Zahl der Menschen in Österreich, die Probleme mit dem Lesen einfachster Texte haben, so groß ist, habe ihn "überrascht und bestürzt", sagte John Evers, Generalsekretär des Verbands Österreichischer Volkshochschulen (VHS), am Mittwoch im Gespräch mit der APA. Er betonte auch, dass Migration oder kognitive Probleme der Betroffenen bei weitem nicht die Hauptaspekte seien - und gerade bei der älteren Bevölkerung gebe es in Sachen Lesekompetenz eine hohe Dunkelziffer.
Laut der am Dienstag veröffentlichten OECD-Studie PIAAC (Programme for the International Assessment of Adult Competencies) haben 29 Prozent der Erwachsenen in Österreich Probleme selbst mit einfachen Texten. Die Erhöhung im Vergleich zur vorherigen Befragung von 2012 ziehe sich quer durch die Schichten der Menschen mit Deutsch als Erstsprache als auch der Migranten. Und: "20 Prozent der Personen, die eine berufsbildende Mittlere Schule abgeschlossen haben, haben Probleme in der Lesekompetenz."
Betroffene sind Meister im Überspielen
Warum das so ist nach nicht weniger als elf Schuljahren, könne er nicht beurteilen - er wisse aber von Fällen, in denen einzelne Schülerinnen oder Schüler schlicht "übersehen" worden seien. Und natürlich gebe es immer noch Skrupel, mit eigenen Schwächen offen umzugehen. Weiters seien Betroffene oft Meister im Überspielen: Eine vergessene Brille oder eine vorgetäuschte Verletzung an der Hand dienen oft als Vorwand, selbst nicht lesen oder schreiben zu müssen.
Um dem zu begegnen, müsse das Thema Erwachsenenbildung viel stärkeren Einzug in den Alltag halten. Derzeit sei es so, dass diese Form der Bildung von jenen am meisten genützt wird, die ohnehin schon über einen hohen Bildungsabschluss verfügen. Großes Thema sei die Vererbung von Bildung, überdurchschnittlich stark betroffen seien Personen, die maximal eine Pflichtschule abgeschlossen haben, so Evers. Was in der aktuellen PIAAC-Studie auffällt, ist einmal mehr der große Abstand zwischen Österreich und den wesentlich weiter vorne liegenden skandinavischen Ländern: Das liege einerseits an der im Schnitt längeren Regelschulzeit in den nördlichen Ländern, andererseits am höheren Stellenwert der Erwachsenenbildung dort.
Schritt in die Regionen entscheidend
Wie erreicht man aber nun Menschen, die Probleme mit dem Lesen haben? Man müsse besonders stark in die Regionen, erklärte Beate Gfrerer, die Geschäftsführerin der Kärntner VHS. Das werde aber immer schwieriger, weil sich - auch durch aktuelle Förderentscheidungen - die Hilfe stark auf die Ballungsräume Klagenfurt und Villach konzentriere. Man arbeite mit Netzwerkpartnern zusammen, die direkt auf die Betroffenen zugehen würden, sei auch selbst mit dem eigenen "VHS-Mobil" unterwegs, um Kurse näherzubringen. Was dabei ganz wichtig ist: "Es wird nicht Basisbildung angeboten, sondern etwa Kurse zur neuen deutschen Rechtschreibung, oder Deutsch für den Beruf, um nicht abzuschrecken", so Gfrerer. Wichtig wäre aus ihrer Sicht eine Sensibilisierung derjenigen Personen, die anderen beim Ausfüllen von Formularen helfen: "Wenn die sehen, dass jemand Probleme hat, soll er genau im Kopf haben, wo er diese Person hinverweisen kann." Dabei sei selbstverständlich Fingerspitzengefühl gefragt.
Sowohl Gfrerer als auch Evers orten in Sachen (Lese-)Kompetenz aber noch weitere, unentdeckte Problemfelder: "Das Schreiben ist nicht einmal abgetestet worden, auch nicht die digitale Kompetenz. Da wären die Zahlen noch viel dramatischer", meinte Gfrerer. Und Evers betonte: "Wir wissen, dass ältere Menschen ebenfalls stark betroffen sind. Aber abgefragt wurden ja nur Personen bis 65 Jahre."
Mehr Budget gefordert
Wunsch an die Politik haben die beiden VHS-Vertreter ebenso: "Ein Prozent des Bildungsbudgets sollte für Erwachsenenbildung aufgewendet werden, 0,5 Prozent sind es derzeit", so Evers. Versäume man das, könne das gravierende Auswirkungen haben: "Es geht nicht nur um die volkswirtschaftlichen Aspekte, sondern um Teilhabe an der Demokratie." Gfrerer findet vor allem die Abstimmung zwischen den einzelnen Bildungseinrichtungen wichtig. Und: "Die Erwachsenenbildung sollte ein gleichwertiger Bestandteil unseres Bildungssystems sein."