Forscherin: Hunderte Genveränderungen können Autismus verursachen
Menschen mit Autismus sehen die Welt ein bisschen anders als die meisten Menschen: Sie haben weniger soziale Beziehungen und zeigen oft immer wiederkehrende Verhaltensweisen. Es gibt aber bei dieser "Entwicklungsstörung" sehr unterschiedliche Ausprägungen. Das ist nicht verwunderlich, denn Hunderte verschiedene Genveränderungen können sie hervorbringen, erklärte Gaia Novarino vom Institute of Science and Technology (IST) Austria anlässlich einer Autismus-Konferenz.
"Beim Autismus werden viele verschiedene Funktionsstörungen in einen Topf geworfen", sagte sie im Vorfeld der Konferenz "Autism in Austria" (9. November) zur APA: "Wir wissen, dass es Hunderte von Mutationen und Gene gibt, die zum Risiko beitragen." Oft haben zwei oder drei solcher Gene zwar eine ähnliche Funktion, sodass es wahrscheinlich kaum einen Unterschied macht, welches davon verändert ist, aber die Funktions-Bandbreite von Hunderten Genen ist dennoch naturgemäß groß.
Rückschlüsse aus Mausversuchen
Um die Rolle der Risiko-Gene für Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) im Gehirn zu identifizieren, arbeitet das Team in Novarinos Labor mit Mäusen. Bei diesen Tieren können sie mit der Crispr/Cas-Genschere jedes verdächtige Gen verändern und die Auswirkungen der Mutationen im Mäusehirn studieren. "Das ist sehr hilfreich für uns, um herauszufinden, was dort passiert, denn in Menschengehirne können wir freilich nicht einfach so hineinschauen", so die Forscherin. Mit einigen Vorbehalten könne man von den Mausversuchen darauf schließen, was in den Gehirnen von Patienten mit Autismus vorgeht, und was dort anders ist als bei den meisten anderen Menschen.
Novarino hat auf diese Art zum Beispiel herausgefunden, dass Veränderungen in einem ASS-Hochrisikogen namens "Cullin-3" eine Anhäufung des Eiweißstoffs "Plastin-3" im Gehirn bewirken, was Nervenzellen quasi den Weg zum Einsatzort versperrt. Dies passiert in einem frühen Stadium der Gehirnentwicklung etwa in der Mitte der Schwangerschaft. Wenn man die Anhäufung von Plastin-3 mit neuen Therapeutika verringert, könnte man eventuell einige Symptome lindern, so Novarino im Fachjournal "Nature Communications".
Mit deutschen Kollegen hat die Forscherin außerdem gezeigt, dass Veränderungen im "SETD5"-Gen dazu führten, dass Erinnerungen tief ins Gehirn eingeprägt werden und kaum mehr überschreibbar sind, wie sie im Fachjournal "Nature Neuroscience" berichtete. Diese Genveränderungen machte Mäusegehirne so unflexibel, dass sich die Tiere nur schwer an neue Situationen anpassen konnten. Bei den mutierten Mäusen war zwar das Verhalten verändert, nicht aber die Gehirnstruktur. Dies gäbe Grund zur Hoffnung, dass Behandlungen von Patienten mit SETD5-Mutationen möglich sind.
Fehlerhafter Transportstoff
In einer weiteren Studie im Fachmagazin "Cell" hat Novarino gezeigt, dass bei manchen Betroffenen ein Transportstoff im Gehirn (Solute Carrier Transporter-7a5) fehlerhaft ist. Dieser Transportstoff bringt normalerweise eine bestimmte Form von Eiweißstoffen (verzweigtkettige Eiweißstoffe) in die Denkzentrale. Ist der Transporter defekt, fehlen sie im Gehirn. Wenn die Forscher um Novarino bei betroffenen Mäusen drei Wochen lang verzweigtkettige Eiweißstoffe in die Gehirne einschleusten, verbesserte sich ihre Verhaltenssymptomatik und sie zeigten so wie andere Mäuse wieder mehr soziale Interaktionen. Dies zeige, dass Autismus entgegen der gängigen Lehrmeinung in manchen Fällen behandelbar und nicht immer eine unumkehrbare Entwicklung ist, meint sie.
Novarino erklärte, dass man nicht jede Form von Autismus behandeln sollte, selbst wenn es irgendwann die Möglichkeit dazu gibt: "Viele Betroffene sehen sich vor allem bei milden Formen nicht als krank." Am besten würde man bei solchen Ausprägungen einfach von "einer bloß etwas anderen Formen des Charakters" sprechen. "Selbstverständlich ist dies nicht etwas, das wir 'behandeln' wollen", sagte die Forscherin. Bei schweren Formen könnten geeignete Therapien hingegen den Menschen das Leben sehr erleichtern.
Andere Forschungsgruppen hätten rund 20 weitere Gene eindeutig identifiziert, die mit Autismus in Verbindung stehen könnten, sie aber nicht näher untersucht. Ihnen will sich Novarino widmen. Genetische Untersuchungen hält sie für die derzeit am Erfolg versprechendste Strategie. Ob Umweltfaktoren auch zum Autismus-Risiko beitragen, wisse man derzeit nicht. "Bis jetzt hat man keine gesicherten Hinweise darauf gefunden", sagte sie. Es sei allerdings klar, dass Impfungen kein Grund für Autismus sind. "Hier gibt es keine kausale Verknüpfung", so Novarino.
Vertrauen in die Wissenschaft herstellen
Neben ihrer Arbeit im Forschungslabor kümmert sich Novarino auch darum, dass die Öffentlichkeit mehr von der Arbeit der Wissenschafter erfährt. "Ich finde, es ist wichtig, dass die Leute wissen, was wir tun", erklärte Novarino, die am IST Austria unter anderem für die Wissenschaftskommunikation verantwortlich ist. Wir sollten ihnen erklären, wie die Wissenschaft funktioniert, und nicht einfach nur die Fakten herausposaunen, meint sie. Damit könnte man das Vertrauen der Menschen gewinnen, die Wissenschaftern gegenüber oft sehr skeptisch eingestellt sind. "Während der Pandemie gibt es sehr viel Angst in der Bevölkerung - wir wollen den Leuten deshalb die Werkzeuge geben, dass sie für sich selber beurteilen können, was und wem sie glauben können", sagte die Forscherin.
Service: Die Konferenz "Autism in Austria" findet am 9. November (10 Uhr) am IST Austria in Klosterneuburg statt. Informationen und Anmeldung: https://ist.ac.at/en/news-events/event/?eid=3389