Neue Fragen für die Ethik
In Zeiten, in denen mit der "Genschere" leicht ins Erbgut und mit Algorithmen in die öffentliche Meinungsbildung eingegriffen werden kann, zeigt sich, wie umfassend wissenschaftsethische Fragen heute den Alltag berühren. Angesichts solcher Entwicklungen müsse man "Ethik als gemeinsame Aufgabe sehen", sagte die Politologin Barbara Prainsack im Rahmen einer von APA-Science veranstalteten Diskussion in Wien. Welchen Stellenwert Ethik und Moral angesichts des aktuell derart spürbaren Tempos, das Technologieentwicklung und Wissenschaft anschlagen, einnehmen können oder sollten, ist Gegenstand dieses Dossiers.
"Forschung sollte in vielen Bereichen viel stärker in ethischer Hinsicht hinterfragt werden" - Dieser Aussage stimmte immerhin rund die Hälfte der Besucher des APA-Science Events mit dem Titel "Die 'Grand Challenges' der Ethik" zu. In politischen Entscheidungsprozessen sah in dieser natürlich alles andere als repräsentativen Blitz-Umfrage unter rund 100 Diskussionsteilnehmern kein einziger ethische Überlegungen "ausreichend berücksichtigt". Dieses zwar schlaglichthafte Stimmungsbild im Rahmen einer bei weitem nicht ausgewogenen Stichprobe spiegle aber trotzdem eine vielfach um sich greifende Sicht der Dinge wider, meinten die Experten am Podium.
"Es ist etwas passiert, dann brauchen wir jetzt Ethik"
Momentan würden Ethikkommissionen und andere Institutionen den rasanten wissenschaftlich-technologischen Entwicklungen vielfach hinterherlaufen, so Prainsack. Wenn sich potenziell derart weit in das Alltagserleben reichende Entwicklungen, wie etwa in den Bereichen Künstliche Intelligenz (KI) (siehe dazu auch "Das Dilemma mit der künstlichen Intelligenz") oder Genetik, auftun, rufe das Regulatoren auf den Plan, die dann versuchen, das irgendwie einzuhegen. Es herrsche der Zugang: "Es ist etwas passiert, dann brauchen wir jetzt Ethik", so Prainsack, die den "weltweiten Aufschrei" nach der Geburt der vermeintlich ersten genveränderten Menschenbabys in China im November 2018 ins Treffen führte.
Politik und Gesellschaft tendierten in der Vergangenheit vielfach dazu, solche Fragen und die Auseinandersetzung mit derartigen "Fundamentaltechnologien" an Expertengremien auszulagern. Das habe einerseits zu einer Professionalisierung des Gebiets geführt, die Diskussionen aber auch aus dem gesellschaftspolitischen Zusammenhang gelöst. Für Prainsack, die an der Universität Wien eine Professur für Vergleichende Politikfeldanalyse innehat und u.a. Mitglied der Österreichischen Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt ist, braucht es aber eine "Re-Politisierung der Ethik" - allerdings abseits der Parteipolitik.
Digitale Durchleuchtung eine zentrale Herausforderung
Das werde am Beispiel der digitalen Überwachung klar: Anstatt jene Macht, die Konzerne wie Facebook dadurch erlangen, dass sie Daten über Personen sammeln, durch einzelne, stückwerkhafte Regulationen zu begrenzen, brauche es einen breiten Diskurs darüber, "welche Gesellschaft wir wollen" und wie mit den "Daten, die uns gehören" eigentlich umgegangen werden soll. Aktuell laufe der Hase jedoch anders: "Wenn sich Leute darüber freuen, wenn Facebook an Unis Ethikinstitute finanziert, dann stimmt mich das sehr besorgt." Das Unternehmen stellte der Technischen Universität München kürzlich rund sieben Millionen Euro für die Gründung eines solchen Instituts für Ethik in der KI über fünf Jahre hinweg zu Verfügung. Der Konzern solle lieber seine Steuern bezahlen, damit Staaten dann unabhängige Ethikinstitute finanzieren, so Prainsack.
In der digitalen Revolution und ihren vielfach noch unklaren Auswirkungen (siehe dazu auch "Sag Ethik, wie hast du's mit der Digitalisierung?") sieht auch der Vorstand des Instituts für Medizinische Genetik an der Medizinischen Universität Wien, Markus Hengstschläger, auf Anfrage von APA-Science einen "der größten Veränderungsprozesse der Menschheit", der "uns vor eine Unzahl von ethischen Fragen stellt, mit denen man sich intensiv beschäftigen muss".
Neben grundsätzlichen Fragen danach, wer überhaupt welche Daten sammeln, analysieren und gegebenenfalls weiterreichen darf, tun sich unzählige Fragezeichen rund um deren Nutzung auf. Man müsse jedenfalls alles daran setzen, diesen Transformationsprozess auch wirklich zum Vorteil für den Menschen zu nutzen, "und gleichzeitig eventuelle Risiken und Nachteile zu minimieren", so der Wissenschafter und Buchautor, der sich in diesem Zusammenhang zwischen Optimismus und Pessimismus in einem Statement gegenüber APA-Science als "Possibilist" bezeichnete.
Unterspült das neue Öl die Menschenrechte?
Wenn man heute Daten als das neue Öl ansieht, dann müsse man überlegen, was daraus folgt, betonte auch Johann Čas von Institut für Technikfolgen-Abschätzung (ITA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) im Rahmen der Diskussion. KI und Machine Learning hätten zweifelsohne viel Potenzial, es sei aber ein Unterschied, ob Wissenschafter mit den Methoden in den Datenbergen aus dem Teilchenbeschleuniger CERN nach Erkenntnissen suchen oder Unternehmen damit auf die Durchleuchtung von Menschen abzielen. Čas bemängelte eine adäquate "politische Reaktion" auf solch zentrale Entwicklungen, bei denen auch darauf geachtet werden müsse, dass Menschenrechte nicht umgangen werden.
Nicht gut bestellt um die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen sei es auch in den Wirtschaftswissenschaften, so Michael Litschka vom Department Medien und Wirtschaft an der Fachhochschule (FH) St. Pölten. Hier werde vielfach "keine Relevanz" für Ethik gesehen, dem entsprechend gebe es kaum Lehrstühle. Auch Litschka wies darauf hin, dass im Informations- und Medienbereich derzeit das Plattform-Denken stark dominiere. Viele Akteure würden sich nur als Technologie-Unternehmen wahrnehmen, wo der "Content" hauptsächlich von den Usern kommt. "Gegen Problematiken, etwa dass demokratische Wahlen mit größter Wahrscheinlichkeit durch Möglichkeiten, die Social Media bietet, verzerrt wurden, haben die Unternehmen dahinter nichts getan", sagte Litschka, der hier "eine große Lücke" sieht.
Fall von genveränderten Babys in Österreich "nicht möglich"
Weit engmaschiger ist das Netz dagegen im lebenswissenschaftlichen Bereich. Ethische Richtlinien seien hier in den vergangenen 25 Jahren "immer strenger geworden", so der stellvertretende Direktor des Ludwig Boltzmann Instituts für Krebsforschung, Lukas Kenner. Das sei positiv, auch wenn der organisatorische Aufwand mitunter groß ist. Ein Fall, wie jener der durch den chinesischen Wissenschafter He Jiankui gentechnisch veränderten Babys, sei in Österreich jedenfalls "nicht möglich", so der Forscher, der auch Mitglied der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt ist.
Abgesehen von den vielen Fragezeichen zu dem, was der mittlerweile in Ungnade gefallene Wissenschafter tatsächlich getan hat und was nicht, fielen die Reaktionen erstaunlich einheitlich ablehnend aus - von Forscherkollegen, über internationale Medien bis hin zur chinesischen Regierung. Dass man sich künftig auf eine Art allgemein anerkannte Ethik-Charta einigen wird können, beurteilten die Experten trotzdem zweischneidig: Auch die Reaktion auf den "Tabubruch" in China zeige, dass die Haltungen in wissenschaftlichen Kreisen und in der Bevölkerung in der Regel nicht weit auseinanderliegen. Die politische Großwetterlage mache eine große internationale Einigung aktuell aber sehr unwahrscheinlich, so der Tenor unter den Diskutanten.
Forderung nach mehr Basisphilosophie
Um der wachsenden Bedeutung einer ethischen Sichtweise auf die Forschungsarbeit oder medizinischen Praxis Rechnung zu tragen, würde sich Kenner etwa wünschen, wieder vermehrt philosophische Basiskurse in Studienplänen und wissenschaftliche Ausbildungen einzubauen. Er mache immer wieder die Beobachtung, dass Studenten oder Jungforscher mit ethischen Fragen wenig anfangen könnten, so der Wissenschafter. Litschka sah ebenfalls Handlungsbedarf: In einigen Bereichen fehle es schlicht an Institutionen, die ko-regulierend eingreifen könnten.
Ethik an den Unis
Gelebte Praxis und Teil des wissenschaftlichen Diskurses sind ethische Fragestellungen auch an vielen Universitäten. So berichtet die Ethikkommission an der Universität Wien über stetig steigende Anfragen, denn immer mehr Fördergeber würden einen Nachweis über die ethische Unbedenklichkeit von Projekten verlangen. Auch wissenschaftliche Zeitschriften würden verstärkt auf einem "Ethik-Stempel" bestehen, wie Vizerektor Jean-Robert Tyran im Gespräch mit APA-Science berichtete (siehe "Uni Wien: Nur jede fünfte Antrag erhält auf Anhieb 'Ethik-Stempel'"). Zudem gibt es an der Uni eine Ombudsstelle, an die sich Studierende oder Forschende wenden können, wenn sie zum Beispiel das Gefühl haben, eine fragwürdige Praxis oder Fehlverhalten eines Professors festgestellt zu haben.
An der Technischen Universität (TU) Wien wurde erst vor kurzem eine eigene Position für eine "Forschungsethik Koordinatorin" geschaffen und die TU Graz hat eine Arbeitsgruppe Wissenschaft, Technik und Gesellschaft installiert (siehe "Ethik ist nichts, was von oben bestimmt werden soll"), um nur zwei weitere Beispiele zu nennen.
Plädoyer für breit aufgestellte Ethikkommission
Eine österreichische Kommission, die auch über die Grenzen der Bioethik hinaus tätig ist, findet sich unter den Vorhaben der Bundesregierung. Hengstschläger, selbst stellvertretender Vorsitzender der Bioethikkommission und einer der Ideengeber für den breiteren Vorstoß, plädiert dafür, hier "auf die bereits bestehenden Strukturen aufzubauen". Der Fokus müsse "nur erweitert werden um viele Bereiche, die alleine mit Bioethik im eigentlichen Sinn nicht ausreichend abgedeckt werden können und sich aus der digitalen Transformation ergeben".
Dazu zählt der Wissenschafter etwa Datenschutz- und Haftungsfragen ("Wem gehören welche Daten, wer darf sie sammeln oder für Predictive Analytics verwenden?"), sämtliche Anwendungsbereiche von künstlicher Intelligenz - etwa auch Bereich der medizinischen Genetik und Präzisionsmedizin, bis hin zu "Robotik, autonomes Fahren, Smart Cities, Fake News, Bots, Cybercrime, Cybermobbing, journalistisch-ethische Grundregeln für das Internet, digitale Betriebsstätten, Netzwerkdurchsetzungsgesetze, damit verbundene Allokationsfragen und vieles, vieles mehr".
Dafür bräuchte es zusätzliche Experten, die in den entsprechenden Gebieten tätig sind. Überdies wünscht sich Hengstschläger "eine konkrete Ansprechperson in der Politik" für den erweiterten Ethikrat, die dafür Sorge trägt, "dass die Ergebnisse und Empfehlungen schnell und direkt auch in den politischen Diskurs im Parlament kommen".