Nobelpreis - Heutige Europäer tragen Neandertaler-Gene in sich
In der Evolution des Menschen haben Homo sapiens sowie die heute ausgestorbenen Neandertaler und Denisovaner in Koexistenz gelebt und sich auch fortgepflanzt. Das bewies Medizin-Nobelpreisträger Svante Pääbo durch seine Forschung. DNA-Sequenzen von Neandertalern sind demnach denen heutiger Menschen aus Europa oder Asien ähnlicher als jenen aktueller Menschen aus Afrika. Bei Personen aus Europa oder Asien stammen noch etwa ein bis zwei Prozent des Genoms vom Neandertaler.
Der anatomisch moderne Mensch, Homo sapiens, war vor etwa 300.000 Jahren zum ersten Mal in Afrika aufgetaucht, während sich die engsten bekannten Verwandten, die Neandertaler, außerhalb Afrikas entwickelten und Europa und Westasien von etwa 400.000 bis vor 30.000 Jahren besiedelten. Vor etwa 70.000 Jahren wanderten Gruppen des Homo sapiens von Afrika in den Nahen Osten aus und breiteten sich von dort aus über den Rest der Welt aus. Homo sapiens und Neandertaler lebten also in weiten Teilen Eurasiens Zehntausende Jahre nebeneinander, erläuterte die Nobelversammlung des Karolinska-Instituts in Stockholm am Montag auf ihrer Internetseite zur Forschungsarbeit von Pääbo. Der Preisträger selbst bezeichnete die vergangenen 40.000 Jahre eigentlich als Ausnahme in der menschlichen Entwicklung. Über den längeren Zeitraum habe der moderne Mensch nämlich mit anderen Gruppen koexistiert, sagte Pääbo am Montag in einem Interview.
Der gebürtige Schwede hatte 2010 die erste Neandertaler-Genomsequenz veröffentlicht. Vergleichende Analysen zeigten, dass der jüngste gemeinsame Vorfahr von Neandertaler und Homo sapiens vor etwa 800.000 Jahren lebte. Pääbo und seine Mitarbeiter konnten nun die Beziehung zwischen Neandertalern und modernen Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt untersuchen und beweisen, dass noch bis zu zwei Prozent Neandertaler-Gene im heutigen Genom der Menschen europäischer oder asiatischer Abstammung stecken.
2008 wurde in der Denisova-Höhle im Süden Sibiriens ein 40.000 Jahre altes Fragment eines Fingerknochens entdeckt. Dieses enthielt außergewöhnlich gut erhaltene DNA, die Pääbos Team sequenzierte. Die Ergebnisse sorgten für Aufsehen: Die DNA-Sequenz war einzigartig im Vergleich zu allen bekannten Sequenzen von Neandertalern und heutigen Menschen. Pääbo hatte einen bisher unbekannten Vorfahren des Menschen entdeckt, der den Namen Denisova erhielt.
Archaische Genspuren beeinflussen heutige Menschen
Vergleiche mit Erbgut aus verschiedenen Teilen der Welt zeigten, dass es auch zwischen den Denisovanern und dem Homo sapiens zu einem Genaustausch gekommen war. Diese Beziehung wurde erstmals in Populationen auf den pazifischen Inselgruppen von Melanesien und anderen Teilen Südostasiens beobachtet. Dort tragen Individuen bis zu sechs Prozent Denisovaner-DNA in sich.
Da von den Denisova-Menschen bisher kaum Überreste aufgetaucht sind, stellen diese Vorfahren des Menschen ein großes Fragezeichen in der Evolution dar. Ein Forschungsteam mit in Wien tätigen Wissenschaftern hatte im Vorjahr im Fachblatt "Nature" bekanntgebeben, weitere Knochenstücke vom Ort der ersten Funde in Sibirien identifiziert zu haben. Darunter befanden sich die mit rund 200.000 Jahren ältesten Zeugnisse der rätselhaften Bewohner und ihrer Lebenswelt. Die Denisovaner lebten damit ebenso Zehntausende Jahre in Koexistenz mit Homo sapiens und Neandertaler.
Dank der Forschungen von Pääbo erkannte die Wissenschaft, dass archaische Gensequenzen unserer ausgestorbenen Verwandten die Physiologie des heutigen Menschen beeinflussen. Ein solches Beispiel ist die Denisovaner-Version des Gens EPAS1, das einen Überlebensvorteil in großer Höhe verleiht und unter Tibetern noch weit verbreitet ist. Andere Beispiele sind Neandertaler-Gene, die unsere Immunantwort auf verschiedene Arten von Infektionen beeinflussen.
Pääbos Entdeckungen schufen laut dem Nobelpreiskomitee auch eine einzigartige Ressource, die von der wissenschaftlichen Gemeinschaft ausgiebig genutzt wird, um die menschliche Evolution und Migration besser zu verstehen. Neue Methoden zur Sequenzierung deuten darauf hin, dass sich menschliche Vorfahren möglicherweise auch mit dem Homo sapiens in Afrika vermischt haben. Aufgrund des beschleunigten Abbaus alter DNA in tropischen Klimazonen wurden jedoch noch keine solchen Genome in Afrika sequenziert.