System ins Chaos bringen
Hoch komplexe Gebilde wie das Wirtschaftssystem analysieren, das menschliche Immunsystem verstehen lernen oder Städte "smarter" machen - das sind nur einige der ehrgeizigen Projekte, denen sich die Komplexitätsforschung widmet. So vielschichtig die Themen, so einfach die Grundidee: Stets geht es um ein tieferes Verständnis von Netzwerken mit Hilfe mathematischer Methoden. In Wien ist mit dem Complexity Science Hub (CSH) ein Forschungszentrum am Entstehen, das sich als fixer Knotenpunkt eines internationalen Forschungsnetzwerks profilieren will.
Die britische Physik-Legende Stephen Hawking bezeichnete die Komplexitätsforschung einmal als "die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts". Angesichts zunehmender globaler Vernetzung erscheint es logisch, sich der Welt mit Denkmodellen und mathematischen Methoden anzunähern, die im Grunde auf der Annahme fußen, dass die Welt selbst eine ungeheure Anhäufung von Netzwerken darstellt. Österreichische Experten wollen diesen im Zuge weiterentwickelter Rechnerleistungen und der viel zitierten "Big Data"-Explosion stark beschleunigten Forschungstrend federführend mitsteuern, und haben sich dazu zusammengeschlossen.
Die Stärke der Komplexitätsforschung ist ihre Vielseitigkeit, denn vom Wirtschafts- über das politische System bis zu den hochkomplexen Abläufen im Körper, überall handelt es sich im Grunde genommen um weitverzweigte, multidimensionale Netzwerke, in denen verschiedene "Akteure" in irgendeiner Form zusammen oder gegeneinander arbeiten. Den Wissenschaftern geht es im Prinzip darum, die Spieler und Spielregeln in diesen Netzwerken zu identifizieren, die Abläufe in einem mathematischen Modell zu beschreiben, das System oder Teile davon quasi im Computer nachzubauen. Dann können Einflussgrößen verändert und zukünftige Entwicklungen im System berechnet werden. So lassen sich etwa Erkenntnisse darüber gewinnen, was das Zuführen eines potenziellen Wirkstoffes gegen Krebs oder der Kollaps einer möglicherweise systemrelevanten Bank über bestimmte Zeiträume hinweg im Gesamtsystem bewirken könnte.
Mathematik als "Werkzeug"
Gewissermaßen das "Werkzeug" der Komplexitätsforschung ist die Mathematik und deren geschickte Anwendung auf reale Probleme, der "Rohstoff" sind wiederum Daten aller Art. Nur wenn die Forscher etwa Zugang zu Daten aus dem Gesundheitssystem haben und diese auch sinnvoll verknüpfen können, lässt sich zum Beispiel simulieren, wie sich das Zusperren eines Krankenhauses oder das Eröffnen einer neuen Arztpraxis auf die Patientenströme und die Gesamtversorgung in einer Region bis auf die Ebene der anfallenden Kosten hinein auswirkt.
Solchen und anderen Anwendungen wird sich der von den Technischen Universitäten (TU) Wien und Graz, der Medizinischen Uni Wien, der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien, dem Austrian Institute of Technology (AIT) sowie dem Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien getragene Complexity Science Hub widmen. Grob gesagt wird sich die TU Wien auf das Thema "Smart Cities" stürzen, für die Meduni Wien steht "Big Data in der Medizin" im Mittelpunkt, für die WU sozioökonomische Systeme und das IIASA "systemisches Risiko" oder das "Internet der Dinge", die TU Graz will sich "Produktionsprozessen der Zukunft" (Industrie 4.0) widmen und das AIT dem "Innovationsprozess".
Seine Heimat hat das erst im Mai dieses Jahres gegründete Institut im Palais Strozzi in Wien-Josefstadt gefunden. In einem Jahr könnten dort bereits rund 20 Wissenschafter tätig sein, im Endausbau sogar 50, wie Stefan Thurner, Präsident des CSH und Professor am Institut für Wissenschaft komplexer Systeme an der Medizinischen Universität Wien gegenüber APA-Science erklärte. "Wir haben in Wien jede Menge gute Leute, die in verschiedenen Institutionen auf verschiedenen Gebieten als Einzelkämpfer gute Beiträge liefern. Wir glauben, dass wir durch das Zusammenbringen von Leuten und Initiativen und durch das 'Einkaufen' von ein paar guten 'Spielern' eine explosive Mischung machen können." Noch gebe es in Europa nämlich kein führendes Institut für Komplexitätsforschung, wie es etwa das "Santa Fe Institute" in New Mexico (USA), an dem Thurner als externer Professor arbeitet, schon seit geraumer Zeit ist.
Privatsphäre "auf breiter Basis" diskutieren
Bei all den verheißungsvollen Möglichkeiten, die die Komplexitätsforschung bietet, stellt sich immer auch die Frage des ethischen Umgangs mit und für die Allgemeinheit sinnvollen Einsatzes von Daten. Eines sei klar, die Informationen sind nun einmal in der Welt und werden auch nicht mehr von der Bildfläche verschwinden. Die Frage der Rolle der Komplexitätsforschung im Umgang mit diesen Daten, die auch immer weiter in die Privatsphäre der Bevölkerung reichen, müsse "auf breiter Basis diskutiert werden", so Thurner: "Als von der öffentlichen Hand bezahlter Wissenschafter sehe ich mich auf der Seite der Bevölkerung." Das Um und Auf sei die Art der Nutzung der Daten, dahingehend, dass sich für die Allgemeinheit sinnvolle Erkenntnisse daraus ableiten lassen. "Wir werden das in keinster Weise so nutzen, wie das eine NSA oder private Krankenversicherung täte, um Profite zu maximieren", so Thurner.
In der Wissenschaft würden sich immer wieder Felder auftun, von denen man wisse, dass ein Hineingehen auch Probleme oder unerwartete Schwierigkeiten mit sich bringen kann. Thurner: "Als Forscher bin ich natürlich ein wenig dahin gehend geprägt, dass man Wissen vergrößern soll. Es ist aber Aufgabe der Wissenschaft und politischer Entscheidungsträger, Privatsphäre und Bürgerrechte zu schützen." Dem folgend soll der CSH auch zu einem Zentrum für die Debatte über Daten-Ethik werden.
Als erstes Großprojekt am CSH wollen Thurner und Kollegen nicht weniger als das österreichische Wirtschaftssystem nachbilden. Der Schlüssel dazu sind die zahlreichen heimischen Firmen: "Die stellen Leute an, die werfen Leute hinaus, die kaufen sich von Zulieferfirmen Grundmaterialien, machen etwas daraus, verkaufen wieder, setzen den Preis, sind im Wettbewerb mit anderen Firmen. Sie zahlen Steuern, nehmen Kredite auf oder legen ihre Profite irgendwie an. Alle diese Tätigkeiten findet man in Daten wieder - in den Bilanzen. Die müssen viele Firmen offenlegen, und daraus rekonstruieren wir, wie die größten hunderttausend Firmen in Österreich sich unter den verschiedensten Szenarien verhalten", sagte Thurner. In der Simulation könne man dann errechnen, wie sie sich etwa bei steigenden oder sinkenden Zinsen verhalten. Diese in der Regel unanschaulichen "hochdimensionalen Wirtschaftsdaten" gelte es dann in anschaulicher Form zu visualisieren.
"Ein Thema, das uns auch sehr am Herzen liegt, ist 'Big Medical Data'", so Thurner. In den meisten Ländern werden mittlerweile Daten darüber, wann, wo und wie oft sich die Menschen in irgendeine Art ärztlicher Behandlung begeben, der wissenschaftlichen Forschung anonymisiert zur Verfügung gestellt. "In Österreich fallen hier ungefähr einhundert Millionen solcher Datenzeilen im Jahr an. Wenn man darüber nachdenkt, ist das fast alles, was das Gesundheitssystem ausmacht". Auch hier hat man es mit schwer fassbaren Daten zu tun, die es auch für Nicht-Komplexitätsforscher nachvollziehbar darzustellen gelte.
Österreich mit "einzigartigen" Chancen
Gerade in diesen verfügbaren Gesundheitsdaten sieht Peter Sloot, Mitglied des zehnköpfigen wissenschaftlichen Beirats, eine Chance für den CSH, sich international zu positionieren (siehe "Was das Immunsystem und Städte gemeinsam haben"). "In den letzten zehn Jahren hat Österreich eine riesige Anzahl an speziellen Gesundheitsdaten gesammelt. Von all den achteinhalb Millionen Menschen ist jeder Arztbesuch aufgezeichnet. Das ist ein absolut einzigartiger Datensatz in der Welt, den es sonst nirgends gibt", so der Professor für Computerwissenschaften an der Universität Amsterdam und Ko-Direktor des Complexity Institute an der Nanyang Technological University in Singapur im Gespräch mit APA-Science.
Speziell Wien könne wiederum mit einem Charakteristikum aufwarten, das vielleicht erst auf den zweiten Blick relevant für die Forschung ist. "Wien ist hinsichtlich der Lebensqualität weltweit an der ersten Stelle", sagte Gerhard Schmitt, Professor für Informationsarchitektur an der ETH Zürich und ebenfalls Mitglied des Beirats. Das eröffne außergewöhnliche Möglichkeiten: "Wenn es einen Ort in der Welt gibt, wo man erforschen kann, wie die besten Städte wirklich funktionieren, dann hier."
Daten im Mittelpunkt
Ein Thema zieht sich durch praktisch alle Bereiche der Komplexitätsforschung - vom Klimawandel bis zur Krebsforschung - und das sind Daten (siehe "Automatismen und Know-how: Wie man komplexe Daten zugänglich macht"). Die Menge steigt ebenso wie die Heterogenität, bedingt vor allem durch den digitalen Wandel.
Das heißt aber nicht, dass man Daten ihre Komplexität gänzlich nehmen sollte, stellte Wolfgang Aigner, Leiter des Instituts für Creative\Media/Technologies an der Fachhochschule (FH) St. Pölten gegenüber APA-Science fest. Zu groß sei die Gefahr der Übersimplifizierung. "Einfache Patentlösungen sind bei komplexen Problemstellungen nicht zielführend. Was man machen kann, ist entsprechende Zugänge zur Komplexität zu schaffen, damit sie handhabbar und verständlich werden", so Aigner.
Und auch wenn ohne computergestützte Methoden nichts mehr geht, ist gerade bei hochkomplexen Fragestellungen die menschliche Expertise essenziell. "Es braucht dieses Hintergrundwissen zur Verarbeitung, beispielsweise weil Daten aus unsicheren Quellen stammen oder sich Daten aus verschiedenen Quellen widersprechen können. Damit kann ein automatisches Datenanalyseverfahren sehr schwer umgehen", strich Aigner hervor.
Eine wesentliche Rolle bei der anschaulichen Aufbereitung der Daten spielt die Visualisierung, weil Menschen sehr stark auf die Verarbeitung von visuellen Sinneseindrücken ausgerichtet sind. Abzeichnen würde sich etwa ein Vormarsch von "Personal Information Displays" wie Smartwatches, auf denen beispielsweise Bewegungsdaten visuell dargestellt werden, Augmented Reality-Anwendungen wie Head-up-Displays, etwa im Auto, und Visualisierungen im Kontext des "Internets der Dinge", die direkt in Produkte integriert sind.
"Simtable" als Übersetzer
Eine neuartiges Werkzeug in dieser Richtung steht mit dem "Simtable" seit kurzem auch am CSH zur Verfügung (siehe "Welt aus Sand und Daten - Forscher bringen Komplexes auf den Tisch"). Das System besteht aus einem Tisch mit einer Auflage aus speziellem Sand und einem hochauflösenden Beamer inklusive Kamera und leistungsstarkem Rechner. Damit lassen sich quasi mit den Händen Szenarien gestalten und nahezu beliebig verändern. Das von US-Komplexitätsforschern entwickelte System erkennt Erhebungen und Senken und arbeitet die "Landschaft" in die Simulation ein.
Gefüttert werden können diese mit Informationen aller Art, wie den realen Bewegungsdaten von Autos in den USA, dem durchschnittlichen Wiener Herbstwetter oder eben mit komplexen Wirtschafts- oder Medizindaten. "Mit dem Tisch kann man sonst zweidimensionale Statistiken relativ anschaulich, viel intuitiver und spielerischer darstellen", sagte Thurner. So können Experten oder sogar Laien Szenarien mit Komplexitätsforschern interaktiv durchspielen, "ohne dass sie merken, was da für Rechenleistungen im Hintergrund vollbracht werden".
Wie man Komplexitätsforscher wird
Beim Zusammenspiel all dieser Technologien, Szenarien und Methoden den Überblick zu bewahren, ist mit Sicherheit ein wichtiges Anforderungsprofil für Komplexitätsforscher - und solche, die es werden wollen: Eine fachliche Expertise in der Biologie, Mathematik, Physik, Wirtschaft oder den Computerwissenschaften wäre schon einmal ein guter Ausgangspunkt für eine einschlägige Karriere. Wer eine kommunikative Persönlichkeit mitbringt, die gern über den Tellerrand blickt oder gleich eine Ausbildung zum Data Scientist anhängt, dem stehen alle Türen offen. Österreichische Fachhochschulen und Universitäten haben jedenfalls die Zeichen der Zeit erkannt und erweitern ihre entsprechenden Ausbildungsangebote (siehe "Kommunikative Querdenker für komplexe Fragen").
An Mathematik wird ein zukünftiger Komplexitätsforscher also kaum vorbeikommen, eine ausgeprägte Liebe zu Zahlen und Daten schadet definitiv nicht. Gefragt ist aber ein generalistisch-offener Zugang, wie es Werner Fritz, Vizerektor und Institutsleiter des Departments Informationsmanagement an der Fachhochschule (FH) Joanneum formuliert: "In diesem Feld braucht es kommunikative Menschen, keine sogenannten 'Nerds' - es geht um 'Story Telling Skills'."
Von Nikolaus Täuber und Mario Wasserfaller / APA-Science