Fakten zu den Akten?
"Postfaktisch" und kein Ende ... Auch und gerade für die Wissenschaft stellt sich die Frage, was man gegen das Ignorieren, Leugnen und Verzerren von Fakten und die inzestuöse Verbreitung von Falschmeldungen in den "Filterblasen" und "Echokammern" der (sozialen) Medien unternehmen kann und soll. APA-Science hat sich unter Forscherinnen und Forschern umgehört, die den Umgang mit kontroversiellen Themen gewohnt sind.
Der Umgang mit Fakten hat sich bemerkenswert gewandelt, das schlägt sich auch in der Sprache nieder. Kaum mehr "hart" oder "unumstößlich" sind sie, die Diskussion dominieren die mit einem relativierenden Präfix versehenen Wortblüten wie prä- und postfaktisch - oder neuerdings sogar die "alternativen" Fakten. Selbst wenn die inflationäre Verwendung des Begriffs "postfaktisch" bereits gewisse Ermüdungserscheinungen hervorrufen mag, er ist 2016 zum internationalen "Wort des Jahres" gekürt worden.
Das allein ist zwar noch kein Qualitätskriterium, aber die Begründung der Oxford Dictionaries berechtigt einen anhaltenden Diskussionsbedarf: "Angetrieben von dem Aufstieg der sozialen Medien als Nachrichtenquelle und einem wachsenden Misstrauen gegenüber Fakten, die vom Establishment angeboten werden", habe das Konzept des Postfaktischen seit einiger Zeit an Boden gewonnen. Das Adjektiv beschreibe Umstände, in denen die öffentliche Meinung weniger durch objektive Tatsachen als durch das Hervorrufen von Gefühlen und persönlichen Überzeugungen beeinflusst werde, heißt es in einem Auszug aus der Definition in dem Wörterbuch (siehe "Die 'postfaktische' Weltsicht und ihr Vehikel namens 'Fake News'").
Hand in Hand mit "postfaktisch" gehen zwei markante Ereignisse des Jahres 2016: Die Abstimmung über den "Brexit", den Austritt Großbritanniens aus der EU, und der US-Präsidentschaftswahlkampf. Besonders der Kandidat der Republikaner und nunmehrige US-Präsident Donald Trump hat mit seiner wiederholt zur Schau gestellten Verächtlichmachung weithin anerkannter wissenschaftlicher Erkenntnisse für Ratlosigkeit und Wut gesorgt. So nannte er die Klimaerwärmung in einer Twitter-Mitteilung einen "Scherz", bei anderer Gelegenheit bezeichnete er sie als Erfindung Chinas, um der US-Wirtschaft zu schaden.
Kein Scherz ist die Geschwindigkeit, mit der sich Falschmeldungen und "Frames" - kognitive Deutungsrahmen, in die politische Inhalte sprachlich eingebettet werden - in Windeseile über soziale Medien verbreiten. Wenn damit politische Entscheidungen beeinflusst werden, dann ist die gesamte Gesellschaft gefordert, Antworten darauf zu finden (siehe "'Framing': Der Deutungsrahmen macht die Botschaft"). Alle Beteiligten, von Medien über Politik bis Wissenschaft, müssen sich dazu aus ihrer "Komfortzone" bewegen, hieß es dazu auch kürzlich beim APA-Science Event "'Bullshit' statt Fakten - Das gefühlte Ende der Vernunft?".
Eigene Plattformen und Initiativen wie "Mimikama" (siehe "Postfaktisches Zeitalter? Fake News, Fakes und Mimikama") haben es sich mittlerweile zur Aufgabe gemacht, Falschmeldungen im Internet aufzuspüren und ihnen entgegenzuwirken. Auch technische "Lügendetektoren" sind dazu bereits in Entwicklung (siehe "Wie Algorithmen beim Faktencheck auf Social Media helfen"). Der Kampf gegen "Fake News" beschäftigt unterdessen bereits die EU-Kommission in Brüssel. Laut einer Sprecherin der Behörde will die EU-Kommission heuer Leitlinien für freiwillige Maßnahmen von Online-Plattformen herausgeben.
Geht es um Wissenschaftsthemen an sich, dann wird es für wissenschaftliche Laien inmitten einer ansteigenden Informationsflut voller Fake News und situationselastischer Fakten - um ein früheres "Wort des Jahres" zu bemühen -, auch nicht gerade einfacher, wahr von falsch zu unterscheiden. Für Erwachsene ist das bereits schwer genug, Kindern muss das Erlernen digitaler und medialer Kompetenzen schon sehr früh vermittelt werden (siehe "'Schule 4.0' bringt Medien- und Technologieverständnis ins Klassenzimmer"). In ihrem ureigensten Selbstverständnis herausgefordert sieht sich aber vor allem die Wissenschaft. Wenig hilfreich ist dabei eine Reaktion aus der Opferrolle heraus, plädiert Helga Nowotny für einen entschlossenen Ansatz, den sie sich in Form eines "Vier-Punkte-Plans" vorstellt (siehe "Die Wissenschaft darf sich nicht zurückziehen").
Umfrage unter Wissenschaftern
Einen ähnlich offensiven Umgang befürworten auch von APA-Science befragte Experten, die selbst an konfliktbeladenen Themen arbeiten - von Stammzellen, Strahlenphysik, Homöopathie, Impfen bis Grüne Gentechnik (Hintergrund: Die Antworten im Wortlaut). Tenor: An umfassenden Bemühungen, die Öffentlichkeit korrekt und dauerhaft über wissenschaftliche Themen zu informieren, führt kein Weg vorbei. Angesprochen sind neben den Wissenschaftern selbst auch Bildungseinrichtungen aller Art und die Medien. Ein immer wieder genanntes Problem dabei sind zu stark vereinfachte Darstellungen komplexer Themen, und die folgende, zumindest verzerrte Verbreitung in sozialen Medien. Und: Nicht immer ist die journalistische Praxis, Befürworter und Gegner ausgewogen zu Wort kommen zu lassen, zielführend.
Grüne Gentechnik: "Schwarz-Weiß-Malerei"
Bei dem "stark emotionalisierten" Thema Grüne Gentechnik, so Alexandra Ribarits von der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES), ist die Darstellung von wissenschaftlichen Ergebnissen meist sehr vereinfacht, und neigt zur "Schwarz-Weiß-Malerei". Das habe zu einer Art Gewöhnungseffekt geführt, so dass sowohl in der Öffentlichkeit als auch unter Wissenschaftern eine abwägende Haltung "fast schon exotisch" erscheine: "Ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine differenzierte Betrachtung der Chancen und Herausforderungen die Leute oft verwundert, um nicht zu sagen unzufrieden zurücklässt."
Bei der erst langsam beginnenden, tatsächlichen Diskussion sei man von einem Konsens noch weit entfernt. "Da die Meinungen oft schon feststehen, werden unterstützende Argumente gesucht, obwohl es häufig keine geeigneten wissenschaftlichen Grundlagen gibt", beschreibt Ribarits ein Dilemma. Eine Tendenz, die durch die sozialen Medien wohl verstärkt werde. Dabei nimmt die Expertin für GVO (gentechnisch veränderte Organismen) auch Journalisten in die Pflicht. Für diese sei eine umfassende Darstellung eine große Herausforderung, egal, ob sie mit Wissenschaftern sprechen oder Studien recherchieren. Wenn aus dem resultierenden Beitrag dann eine mehr oder weniger eindeutige Positionierung herausgelesen werden kann und diese durch soziale Medien verbreitet und verstärkt werde, entstehe letzten Endes der Eindruck "gesicherten Wissens".
Hinzu komme, so Ribarits, dass sich Forscher zunehmend zu simplifizierenden Darstellungen ihres Themas drängen ließen. Daher brauche es auch Kommunikatoren, die Öffentlichkeitsarbeit machen und Wissenschafter sensibilisieren, wie wichtig der Kontakt mit den Leuten ist. Das sei wichtig, damit das Halbwissen abnimmt, den Konsumenten Ängste vor dem Unbekannten genommen wird und auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Forschung und in die Behörden bewahrt werde: "Menschen, die die Hintergründe von neuartigen Entwicklungen besser verstehen, sind auch zugänglicher für seriöse Diskussionen abseits von plakativen Darstellungen."
Fehlende Alltagserfahrungen mit Kernkraft
Ebenfalls keinen leichten Stand in Österreich hat das Thema Nuklearforschung bzw. die Stromerzeugung aus Kernkraft. Den Hauptgrund für den gesellschaftlichen Dissens sieht der an der Leibniz Universität Hannover tätige österreichische Strahlenphysiker Georg Steinhauser einerseits in der mangelnden Alltagserfahrung - im Unterschied etwa zu der spürbaren Erfahrung, wenn man beim Wandern einen elektrischen Weidezaun berührt. "Da erscheint uns die Elektrotechnik nicht als mehr unbekanntes Terrain und folglich als Hochrisikotechnologie. Bei nuklearen Vorgängen fehlt diese Erfahrung aus dem Alltag." Als "beängstigende Komponente" komme noch hinzu, dass weder Menschen noch Tiere über Sinnesorgane verfügen, um diesen Risikofaktor wahrnehmen zu können.
Trotz der wichtigen gesellschaftlichen Kontrollfunktion der Medien ist auch Steinhauser mit der oft zu starken Vereinfachung komplexer Themen wenig glücklich. Die Krebserzeugung durch ionisierende Strahlung sei beispielsweise eine "ausgesprochen komplexe Angelegenheit", die sich nicht in den Schlagworten "Strahlung verursacht Krebs" zusammenfassen lasse. "Die sozialen Medien verstärken diese Simplifizierung oft derart, dass am Schluss nur noch eine glatte Falschmeldung übrig bleibt", so der Experte vom Institut für Radioökologie und Strahlenschutz. Zusätzlich erhöhe sich der Zeitdruck auf Journalisten, worunter auch die Qualität der Berichterstattung leiden könne. Gegen Falschmeldungen gelte es, sachlich aufzutreten. Emotionen seien dabei meist wenig hilfreich, so Steinhauser. Die Wissenschaft müsse primär erkennen, "dass die Medien nicht Gegner, sondern Partner sind".
Schimpfen übers Impfen
"Das Thema Impfen wird in der Öffentlichkeit sehr emotional diskutiert und jeder hat eine eigene Meinung, die von persönlichen Eindrücken, Erfahrungen, Austausch mit anderen, unterschiedlichsten Informationen aus Medien, Internet etc. getragen wird", sagt Ursula Wiedermann-Schmidt von der Medizinischen Universität Wien. Auch hier gelte, dass vom Laien nicht oder nur schwer unterschieden werden könne, ob Inhalte auf wissenschaftlicher Evidenz beruhen oder einfach nur auf "Mythen, Anekdoten oder Befindlichkeiten".
Der Auftrag zu einer ausgewogenen und neutralen Berichterstattung werde von den Medien gerne verwechselt mit einer gleich gewichteten Gegenüberstellung von Impfgegnern - Wiedermann-Schmidt spricht hier von etwa vier Prozent der Bevölkerung - und Impfbefürwortern oder Experten, die gültiges Fachwissen vertreten. Dadurch werde beiden Standpunkten entweder dieselbe Richtigkeit eingeräumt oder Fragen unbeantwortet stehen gelassen. "So wird der Eindruck vermittelt, dass jeder für sich eine Wahrheit aussuchen kann, die besser ins jeweilige Weltbild passt", kritisiert die Leiterin des Instituts für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin diese Praxis.
Via Facebook und Co. würden Meinungen und Ansichten dann "in völlig unkontrollierbarer Weise ausgetauscht und verbreitet". Dem "Impfpopulismus" und der Flut an Falschinformationen könne man nur entgegnen, indem man dieselben Mittel und Medien zur vermehrten und akkordierten "State of the Art-Wissensvermittlung" nütze.
Stammzellforschung: Überzogene Heilsversprechen
Das relativ junge Gebiet der Stammzellforschung ist international noch recht unterschiedlich geregelt und ethisch eingestuft. Das zeige sich etwa an der "verbrauchenden humanen embryonalen Stammzellforschung" (Anm.: es geht dabei im Grunde darum, ob man quasi durch das Klonen erzeugte Embryonen - im Grunde nur Zellhaufen im frühesten Entwicklungsstadium - "verbrauchen" dürfe, um Stammzellen zu gewinnen), die in Österreich und anderen EU-Ländern verboten, in anderen Ländern aber legal ist und praktiziert wird, so Markus Hengstschläger, Vorstand des Instituts für Medizinische Genetik an der Medizinischen Universität Wien. Entsprechend werde die Frage nach dem Beginn individuellen schützenswerten menschlichen Lebens weltweit auch sehr unterschiedlich gesehen.
"Am meisten ärgern mich als Forscher, der gleichzeitig auch in der Patientenbetreuung tätig ist, überzogene Heilsversprechen", erklärt der Genetiker, der glaubt, dass Stammzellen in Zukunft immer mehr in den klinisch-therapeutischen Alltag Einzug finden werden: "Sehr oft aber werden von den WissenschafterInnen aber auch von den Medien - vielleicht um mehr Aufmerksamkeit zu erzielen - zu hohe Erwartungen geweckt." Diskussionen vor allem auch über ethische Fragestellungen in den sozialen Medien seien begrüßenswert und wichtig, "Anonymität im Internet darf aber nicht für die Verbreitung polemischer unwissenschaftlicher Informationen ausgenutzt werden". Wissenschafter sollten folglich "stets bereit sein, immer wieder mit evidenzbasierter Information den Medien Rede und Antwort zu stehen".
Homöopathie: "Akzeptierte Verschwörungstheorie"
Bei kaum einem Thema könnte der Spalt zwischen wissenschaftlichem Konsens und der öffentlichen Wahrnehmung größer sein als bei der Homöopathie. Sogar der Nachweis ihrer Nichtwirksamkeit könne die alte Heilpraxis "nicht so einfach aus der Medizin katapultieren", so die ehemalige Homöopathie-Ärztin Natalie Grams, die sich mittlerweile als Leiterin des Informationsnetzwerks Homöopathie und als Kommunikationsmanagerin der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften der wissenschaftlichen Aufklärung über Homöopathie verschrieben hat. Damit werde es natürlich umso schwerer, deren gesellschaftliche Verankerung anzugehen bzw. sogar aufzulösen: "Die Homöopathie ist sozusagen die erste Verschwörungstheorie mit gesellschaftlicher und politischer Adelung der vollen Akzeptanz."
Zwar sei ein Trend zu einer kritischen Darstellung wahrnehmbar, ärgerlich sei jedoch der ehrenhaft gemeinte Anspruch von Journalisten, im Namen einer ausgewogenen Berichterstattung auch immer einen Befürworter der Homöopathie zu Wort kommen zu lassen. Das ergebe ein "Pro-Contra-Handgemenge, das den Patienten ratlos zurücklässt". Bei tatsächlich falschen Behauptungen ("Homöopathie wirkt mehr als ein Placebo", "Homöopathie heilt feinstofflich"), so Grams, sollten die Patienten auch eindeutig informiert werden. Die sozialen Medien würden dazu führen, dass man nicht abschätzen kann, welchen Wert, welche Qualität, und damit welche Verlässlichkeit Informationen haben - alles wird gleich.
"Falsche Behauptungen sollten nicht stehen gelassen werden", so die Autorin, die sich hier auch ein "Aufstehen z.B. der Ärzte gegen Pseudomethoden in ihrer eigenen Profession" wünscht. Leider wüssten aber viele Ärzte selbst nicht um die dramatischen Falschbehauptungen verschiedener Methoden wie der Homöopathie. Langfristig sei hier nur durch bessere Bildung (der Bevölkerung, Schüler, Studenten) und Ausbildung (der Ärzte, Apotheker, anderer Wissenschafter) etwas zu erreichen. Grams: "Es muss klarer zwischen Fakten und Meinung unterschieden werden - und man sollte lernen, das eine vom anderen zu unterschieden. Auch und gerade im Internet und in den sozialen Medien."
Von Mario Wasserfaller / APA-Science