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Mehr zum Thema / Stefan Thaler / Freitag 29.10.21

„Auch der röhrende Hirsch spricht viele Menschen an“

Warum gefallen uns Kunstwerke eigentlich? Müssen sie dazu schön sein? Und wie kann man das messen? Diesen Fragen geht Helmut Leder, Professor der Psychologie mit dem Forschungsschwerpunkt der empirischen Ästhetik, nach und erklärt im Gespräch mit APA-Science auch, warum manche Künstler die Suche nach den Erklärungen der „magischen Wirkung“ von Kunst für bedrohlich halten.
Foto: Alexandru Munteanu Psychologe Helmut Leder: "Nicht alles was uns gefällt, ist schön."

Nein, nicht alles was uns gefällt, ist schön, streicht er gleich zu Beginn hervor. „Um uns anzusprechen, müssen Kunstwerke nicht schön sein im Sinne von harmonisch, lieblich, ansprechend, makellos. Sobald sie Emotionen auslösen, das können kurzzeitig auch negative sein, und uns anregen, können sie gleichwohl ästhetisch sein“, verweist Leder beispielsweise auf das Prinzip der griechischen Tragödie. Es sei auch ein Element vieler Künste, dass etwas als schauerlich empfunden wird. „Im Extremfall ist es das, was manche Personen an Horrorfilmen genießen. Das ist ja psychologisch sonst sehr schwer zu verstehen, wenn jemand ein Kinoticket bezahlt, um sich in Angst und Schrecken versetzen zu lassen“, so der Leiter der Labors für „Empirical Visual Aesthetics“ (EVAlabs).

„Kunst ist dann besonders beeindruckend und bewegend, wenn sie bedeutungsvoll für uns ist.“

In der Forschung gebe es auch Hinweise darauf, dass das Bewegende, das auf den ersten Blick gerade nicht eingängig ist, zu stärkeren ästhetischen Erlebnissen führt. „Es gibt Dinge, die einfach schön sind – Blumengemälde von Van Gogh oder eine impressionistische Landschaft. Aber das ist oft nicht so beeindruckend wie beispielsweise der Schrei von Edvard Munch. Dieser rührt uns an, obwohl das Gemälde einen negativen Inhalt hat – ein verzerrtes schreiendes Gesicht, weil es in uns aufwühlende Emotionen und ein Nachdenken über innere Zustände hervorgerufen hat“, erklärt Leder und fasst zusammen: „Kunst ist dann besonders beeindruckend und bewegend, wenn sie bedeutungsvoll für uns ist.“

Hier gebe es unterschiedliche Ebenen. „Manche Betrachter finden ein Kunstwerk deswegen toll, weil sie mit ihrem kunsthistorischen Wissen an das Kunstwerk herangehen und ein bedeutendes Gemälde einer bestimmten Kunstrichtung zuordnen können. Sie erkennen, wie gut der Künstler eine bestimmte stilistische Herausforderung gemeistert hat. Andere finden Kunstwerke toll, weil sie die Inhalte an etwas Persönliches erinnern oder sie etwas ähneln, was man im Alltag wichtig und schön findet – ein hübsches Gesicht, eine schöne Landschaft oder ein rührender Sonnenuntergang“, so Leder: „Kurz gesagt: Wir denken und fühlen bestimmte Dinge, während wir beispielsweise ein Gemälde betrachten, und die Gesamtheit dieser Prozesse kann auf ganz verschiedene Weise zu einem tollen Erlebnis führen.“

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Nur bei "warm-kalt", "schwer-leicht", "fröhlich-traurig" waren sich die Betrachter einig. Foto: APA/AFP
Wirken Farben und Formen universell?

 

Rote Farben sind warm, runde Linien weiblich, gedeckte Töne traurig. Oder? Ganz so einfach ist es nicht. Im interdisziplinären Ästhetik-Lab der Uni Wien hat man genauer hingeschaut. „In der Kunstgeschichte geht man davon aus, dass bestimmte Effekte von Farben und Formen universell sind“, so Eva Specker von der Fakultät für Psychologie. Gemeinsam mit Kunsthistorikern wurden Skalen konstruiert, deren Merkmale besonders häufig in der Kunstbeschreibung benutzt wurden. Warm und kalt, schwer und leicht, aber auch männlich und weiblich, aggressiv und friedlich, insgesamt 14 Dimensionen.

 

Für die im Fachjournal „Plos One“ publizierte Studie bewerteten Kunstexperten und Laien auf diesen Skalen eine Reihe abstrakter Bilder und auch isolierte Elemente – Farben und Formen – aus den gleichen Werken. Später wurde die Studie mit denselben Teilnehmern wiederholt, um zu prüfen, wie robust die gewonnenen Daten sind und danach ein weiteres Mal mit neuen Teilnehmern repliziert. „Die Übereinstimmung der Teilnehmer war wesentlich geringer als angenommen“, berichtet Specker. Nur bei drei von 14 Eigenschaftspaaren – nämlich warm-kalt, schwer-leicht, fröhlich-traurig – waren sich die Betrachter in ihren Urteilen, wie die Reize wirken, einig. Überall sonst hatten die Bilder ganz unterschiedliche Wirkungen und zwar bei Kunsthistorikern ebenso, wie bei Laien. Dass sich die vermeintlichen Gesamteindrücke direkt auf bestimmte Farben oder Formen zurückführen lassen, konnte ebenso wenig bestätigt werden.

 

Das nachfolgende Projekt „Wild Colors, Gentle Lines?“ von Hanna Brinkmann beschäftigte sich mit der Wissenschaftsvermittlung in die Gesellschaft – konkret an Kinder. „Beim Thema Linien und Farben waren Kinder als außeruniversitäre Gruppe naheliegend“, so Brinkmann, die inzwischen an der Donau Uni Krems tätig ist. Sie hat fünf der oben erwähnten 14 Begriffspaare herausgegriffen und quasi übersetzt: Die Nuss steht für hart, die Rakete für schnell. An entsprechenden Forschungsstationen im ZOOM Kindermuseum nahmen insgesamt etwa 200 Kinder teil.

Es gebe im Moment aber fast nichts, das eine allgemeine Gesetzmäßigkeit beschreibt, die für jeden zutrifft. „Ein paar Prinzipien gelten für mehr als einzelne Personen. Man kann messen, welche Farben oder Arten von Kunststilen die Leute im Durchschnitt am schönsten finden. Dahinter liegen dann Prinzipien wie Vertrautheit und kulturelle Prägungen, was bestimmte Farben bedeuten. Was wir alle bei Kunstwerken faszinierend finden, ist die Tatsache, dass sie uns individuell anregen und dass sie schön sein können, in dem Sinn, und dass die Beschäftigung mit ihnen positive Emotionen auslösen kann. Das können sie auch, wenn wir Einsichten haben in Dinge, die per se nicht schön sind, sondern eben ästhetisch“, erklärt Leder.

Ablauf in Phasen

Die ästhetische Erfahrung läuft dabei in Phasen ab: „Wenn man sich vor ein Kunstwerk stellt und die Augen öffnet, dann laufen zuerst Wahrnehmungsprozesse ab. Man sieht, was da ist, welche Farben und Formen das Kunstwerk aufweist. Dann kommt das Erkennen, also inwieweit bestimmte Elemente schon bekannt sind. Es folgt eine Phase, in der das tatsächlich Dargestellte wahrgenommen wird – ob es ein gegenständliches Bild ist, oder ein abstraktes, gegenstandsloses, aber auch welchen Stil das Kunstwerk hat. Jetzt kommt das Wichtigste: Finden wir im Kunstwerk etwas Interessantes und Bedeutungsvolles für uns? Erinnert es an unser Leben? Ist es relevant, berührend, bewegend – da kommen oft die großen Themen des Lebens ins Spiel, wie Liebe, Tod, Trauer. Oder ist das Kunstwerk kunsthistorisch bedeutend und deshalb interessant? Leute schauen die Mona Lisa nicht nur an, weil sie finden, dass das ein tolles Gemälde ist, sondern weil es so berühmt ist“, erläutert der Experte.

Experten durchlaufen diese Phasen übrigens etwas anders. „Für sie ist häufig der Kunststil oder der Künstler der erste Zugang. Durch die Expertise wird das sehr schnell erkannt. Sie wissen im Bruchteil einer Sekunde, dass ein Gemälde ein Picasso ist, sicher genauso schnell wie sie erkennen, dass es ein Porträt ist. Man muss aber, um Kunst zu genießen, nicht viel Kunstwissen haben, weil das Ästhetische auf allen Ebenen wirken kann. Auch ein Bild eines röhrenden Hirsches oder eine Landschaft von Bob Ross trifft den Geschmack vieler Menschen, und sie finden es schön, auch wenn es für andere vielleicht kitschig ist“, so der Professor für Psychologie an der Universität Wien.

Mit Kunst die Welt verbessern?

 

Wie Kunst auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene positiv wirksam sein kann, untersucht derzeit ein interdisziplinäres Forschungsprojekt mit beteiligten Universitäten in ganz Europa. „ARTIS“ (Art and Research on Transformations of Individuals and Societies) – ausgestattet mit einem EU-Förderpreis von drei Millionen Euro – wird von Matthew Pelowski, Ästhetik-Forscher an der Uni Wien, geleitet und läuft von Februar 2020 bis Jänner 2025.

 

Was fühlen oder denken wir, was verändert sich in uns, wenn wir Kunst betrachten? Fragen wie diesen geht die Wiener Psychologie mittels empirischer Forschung in Museen, Galerien und an öffentlichen Orten nach. Eng ist die Kooperation beispielsweise mit der Albertina. Zum Einsatz kommen Umfragen, mathematische Modellierungen, mobiles Eye-Tracking, Bewegungsverfolgung in Kunsträumen bis hin zum mobilen Scannen des Gehirns. Ziel ist, auf systematische Weise zu erheben, welche Arten von Erfahrungen Menschen machen, wenn sie mit Kunst zu tun haben. Erste Ergebnisse zeigen beispielsweise, dass sich Empathie und Haltungen wie Xenophobie oder Umweltbewusstsein vor und nach dem Kunsterlebnis voneinander unterscheiden.

 

Kürzlich erhielt Pelowski im Rahmen der neuen #ConnectingMinds-Förderschiene des FWF eine weitere Förderung von einer Million Euro für sein transdisziplinäres Projekt „Unlocking the Muse“. Im Fokus stehen dabei zwei Themen: die neurobiologischen Grundlagen der künstlerischen Kreativität und Morbus Parkinson. 

Matthew Pelowski leitet das Projekt „ARTIS“. Foto: Martin Zimmermann

Neue Methoden

Der Königsweg, um herauszufinden, was in jemandem vorgeht, sei immer noch die Befragung, allerdings oft mittels extra dafür entwickelter Fragebögen. In den vergangenen 20 Jahren hätten die Psychologie sowie die Kognitions- und Neurowissenschaften aber große Fortschritte dabei gemacht, nicht nur die Gehirnaktivitäten zu messen, sondern diese auch zu verändern, indem man von außen auf das Gehirn einwirkt. „Die eigentliche Herausforderung, um unsere Theorien empirisch zu belegen, ist es die Emotion zu messen. Das kann man mit Fragebögen, im Museum oder im Labor, aber auch mit der Messung subtiler positiver und negativer Emotionen durch die Ableitung des Lächel- oder Ärgermuskels im Gesicht mithilfe kleiner Elektroden. Hier zeigt sich, dass schöne Dinge mittelbar und ganz schnell positive Emotionen bei der Betrachtung auslösen“, sagt Leder. Dazu kommen auch neuere Methoden. Während bisher zur Messung von Reaktionen im Gehirn die Probanden in die „Röhre“ mussten, wo sie unbeweglich unter eher unnatürlichen Bewegungen verharrten, kann man die Hirnaktivitätsmessungen inzwischen auch mit tragbaren Geräten messen, wie etwa durch Nahinfrarotspektroskopie, bei der Änderungen der Hirnaktivität durch Veränderungen der optischen Eigenschaften von Hirngewebe festgestellt werden. Das erlaube die Messung auch ästhetischer Erlebnisse (im Gehirn) in deutlich lebensnäheren Situationen.

Die Künstler selbst sind unterschiedlicher Meinung über das Forschungsgebiet. „Manche stehen der Wissenschaft sehr offen gegenüber und finden es faszinierend, die Prozesse bei der Kunstbetrachtung zu verstehen. Das können sie ja auch zum Ausloten ihrer eigenen Möglichkeiten als Künstler nutzen. Aber es gibt auch Personen, die die empirische Forschung zur Kunst skeptisch sehen. Diese fürchten, dass die magische Wirkung des Kunstwerks verlorengeht, wenn man die ästhetische Verarbeitung in Geist und Gehirn entschlüsselt“, beschreibt Leder. In der Vergangenheit hätten die Neurowissenschaften dazu auch selber beigetragen, wenn durchaus missverständliche Versprechen abgegeben wurden, dass man irgendwann ein Schönheitszentrum im Gehirn finden könnte. Dann bräuchte man die Kunst ja vielleicht nicht mehr, weil man diese Hirnareale mit einer kleinen Elektrode oder einer Pille stimulieren könne. „Solche Vorstellungen hören sich natürlich bedrohlich für die Kunst an. Das ist aber nicht das Ziel unserer Forschung zur Kunstwirkung. Wir wollen verstehen, warum welche Kunst für wen eine besonders bedeutende ästhetische Wirkung hat. Das wird das Faszinierende der Kunst vielleicht eher noch faszinierender machen – und sicher kein allgemein wirksames Schönheitszentrum postulieren.“

Foto: APA/AFP
Urbane Kunstintervention

 

Pflanzen haben positive Effekte auf Stadtbewohner. Die Wahrnehmung von Kunst im urbanen Raum ist da schon deutlich kontroversieller. Im Rahmen des Projekts „Urban intervention with art in public space“ soll nun untersucht werden, wie von Künstlern gestaltete „Grätzloasen“ in der Innenstadt genutzt werden können, um die soziale Wirksamkeit von Kunst in der Stadt zu erforschen und die positive Wirkung zu belegen.

 

Dazu stellen Künstler und Wissenschafter mobile Installationen an unterschiedlichen Orten in Wien auf, die Aufschluss über die spezifischen Qualitäten von Kunst und Pflanzen sowie deren Auswirkung auf Physiologie, Wahrnehmung, Verhalten und Wohlbefinden geben sollen, heißt es in der Projektbeschreibung. „Achten Sie einmal im Alltag auf die schon existierenden Grätzloasen. Finden sie diese ästhetisch, schön und anregend?“, so Leder.

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