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Gastbeitrag / Peter Fratzl / Donnerstag 08.04.21

Materialwissenschaft – von der Biomimese zur Bioinspiration

Was macht natürliche Materialien so interessant für WerkstoffforscherInnen? Auf der einen Seite sind es die nachwachsenden Rohstoffe wie Holz oder Baumwolle, die als Baustoffe oder Textilien weite Verbreitung finden. Auf der anderen Seite ist es der Umstand, dass es der Natur gelingt, aus vergleichsweise wenigen und nicht immer sehr hochwertigen Grundstoffen Materialien mit einer unglaublichen Vielfalt an Eigenschaften und Einsatzmöglichkeiten hervorzubringen. Der Schlüssel für diese Vielfalt liegt in der hierarchischen Struktur dieser Materialien: Moleküle mit der Größe von wenigen Nanometern sind zu Fasern und Schichten geformt, die etwa tausend Mal größer sind und im Mikrometerbereich liegen. Diese Bausteine formen noch größere Elemente bis hin zur Skala von Millimetern und mehr. Diese wiederholte Anordnung von Bausteinen bestehend aus kleineren Bausteinen bietet die Möglichkeit einer Strukturanpassung auf vielen Größenskalen und dadurch einer breiten Variation der Eigenschaften. Abbildung 1 zeigt eine Auswahl an natürlichen Materialien, die im wesentlichen aus drei Grundstoffen bestehen: Zuckerketten, Proteinketten und Mineral.

Abbildung 1

Natürliche Materialien mit einer Vielfalt von Eigenschaften bestehen aus wenigen Grundstoffen, die in vielfältiger Weise zu hierarchischen Strukturen zusammengesetzt sind. Zeichnungen von Julia Blumenthal, Kunsthochschule Weißensee Berlin. (In veränderter Form publiziert in Eder, Amini & Fratzl, Science 2018; 362:543-547.)

Die durch den Autor geleitete Abteilung (www.mpikg.mpg.de/bm) an einem Potsdamer Max-Planck-Institut widmet sich der Erforschung der hierarchischen Struktur natürlicher Materialien und deren Zusammenhang mit Materialeigenschaften. Das führt zu einem besseren Verständnis von Organen wie Knochen, Zähnen oder Sehnen, weil Materialeigenschaften im Kontext der Biologie betrachtet werden. Ein Beispiel ist die Adaptionsfähigkeit des Knochens, der ohne Belastung abgebaut wird und durch regelmäßiges Training auch wieder aufgebaut werden kann. Offensichtlich gibt es also eine ganz enge Kopplung zwischen den mechanischen und den biologischen Eigenschaften, welche ein besseres Verständnis nicht nur der Zellfunktionen sondern auch der Materialeigenschaften erfordert.

Diese Forschung liefert auch neuartige Konzepte für Materialien mit Anwendungen in der Technik und der regenerativen Medizin. Das Besondere an diesem Ansatz ist, dass nicht die chemische Zusammensetzung sondern die Struktur die Eigenschaften bestimmen. Die Natur verwendet keinen Stahl und ist doch in der Lage, Bäume mit einer Höhe bis zu 120 Metern wachsen zu lassen. Die Natur ermöglicht eine effiziente Informationsverarbeitung und verwendet aber kein Silizium oder andere Halbleiter. Die Natur kennt auch praktisch keinen Abfall: Durch den Aufbau aller relevanten Systeme aus den immer wieder gleichen Grundstoffen ist so gut wie alles wiederverwertbar. Weiters passen sich natürliche Materialien an die Anforderungen an. Das Beispiel des Knochens in schon genannt. Viel ist hier noch zu erforschen, besonders unter dem steigenden Druck, dass wir einen nachhaltigeren Umgang mit allen Ressourcen erreichen müssen, wenn wir als Menschheit langfristig überleben wollen.

Die ursprüngliche Idee der Bionik war die Biomimese, bei der Strukturen direkt aus der Natur in technische Systeme übertragen werden. Papier besteht zwar aus Zellulose und manche Textilien aus Wolle oder Seide, die komplette Übertragung von natürlichen Strukturen in andere Stoffsysteme ist allerdings nicht allgemein möglich. Tatsächlich müssen die Strukturkonzepte von natürlichen Materialien auf die ganz anderen Randbedingungen der Technik angepasst werden. Das Verstehen des natürlichen Materialprinzips wird damit zur Inspiration, zum Auslöser einer weitergehenden Forschungs- und Entwicklungstätigkeit, die sich vom ursprünglichen Vorbild löst und nur das Prinzip technisch zur Anwendung bringt.

Ein sehr interessantes Beispiel dafür ist die Selbstreinigung des Lotusblatts durch einen über das Blatt laufenden Wassertropfen, eines der bekanntesten Beispiele der Bionik (siehe Abbildung 2). Im Jahre 1997 konnten Wilhelm Barthlott and Christoph Neinhuis nachweisen, dass der Ursprung der extremen Wasserabweisung (Superhydrophobie) des Lotusblatts mit der Nanostruktur der Blattoberfläche zusammenhängt. Die Superhydrophobie war als Kuriosität der Physik schon seit den 1920er Jahren bekannt, wurde aber von der Technik kaum beachtet. Es lohnt sich in dem Zusammenhang die Entwicklung der Publikationstätigkeit zu diesem Thema zu betrachten (Graphik Abbildung 2). Bis zur Jahrtausendwende gab es nur wenige unabhängige Arbeiten zum Lotusblatt und zur Superhydrophobie. Etwa ab 2004 tauchen beide Begriffe gemeinsam in Publikationen auf. Das ist eine klares Zeichen dafür, dass die Superhydrophobie als Folge der Entdeckung von Barthlott und Neinhuis mit bionischen Absichten erforscht wurde. Sehr bald lösten sich aber weitere Veröffentlichungen vom biologischen Vorbild und begannen den technischen Nutzen des Effekts an sich zu erforschen. Heute wird nur noch in einer Minderheit der Publikationen zur Superhydrophobie auf das Lotusblatt verwiesen (Abb. 2).

Abbildung 2

Entwicklung der jährlichen Anzahl an Publikationen über die Superhydrophobie und über das Lotusblatt, bzw. über beides gemeinsam (Auswertung mithilfe des Web of Science, Clarivate Analytics). Der superhydrophobe Effekt war zwar schon seit 1921 grundsätzlich bekannt aber es wurde erst 1997 entdeckt, dass das Lotusblatt diesen Effekt zur Selbstreinigung nutzt. Als Folge davon nimmt ab der Jahrtausendwende das technische Interesse an diesem Effekt stark zu. Das biologische Vorbild gerät allerdings zunehmend in den Hintergrund und spielt heute im Großteil der Publikationen keine Rolle mehr (grauer Teil des Balkens). Das rechte Bild zeigt ein Lotusblatt mit einem abfließenden Tropfen (Foto des Autors am West Lake, Hangzhou, China).

Die Superhydrophobie ist ein gutes Beispiel dafür, wie biologische Inspiration die technische Entwicklung beeinflussen kann, ohne dass eine echte Mimese stattfinden muss. Biologisch inspirierte Materialforschung ist ein stark expandierendes Feld, das in viele Technologiebereiche ausstrahlt: so unterschiedliche Themen wie Leichtbau, Robotik, Implantate, Energieträger oder Haftsysteme profitieren von biologischen Vorbildern. Die Deutsche Technikakademie hat kürzlich unter der Federführung des Autors eine umfangreiche Sammlung von Beispielen, Texten und Interviews herausgegeben (https://www.acatech.de/publikation/materialforschung-impulsgeber-natur/).

Eine wesentliche Voraussetzung für die Forschung in diesem Bereich ist die Interdisziplinarität des Ansatzes. Diese beschränkt sich nicht auf die offensichtlichen Disziplinen der Materialwissenschaft und Biologie. Die Nutzung von komplexen hierarchischen Strukturen und von adaptiven lebensähnlichen Materialien im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung mit all ihren gesellschaftlichen Herausforderungen profitiert auch von der Zusammenarbeit mit Designdisziplinen und den Geisteswissenschaften. Der Autor arbeitet an dieser Herausforderung mit mehr als 40 Disziplinen im Rahmen eines Berliner Exzellenzclusters (www.matters-of-activity.de).

Eine nachhaltige Materialentwicklung möglichst ohne Abfall, mit sich selbst reparierenden Strukturen, die sich an Umweltbedingungen anpassen: Für diesen Zukunftstraum kann am besten die Natur als Impulsgeber wirken. Einiges wird schon Realität, aber diese Forschung wird uns noch viele Jahre beschäftigen.

Kurzportrait

Peter Fratzl ist Direktor am Max Planck Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung. An seiner 2003 gegründeten Abteilung forscht er an biologischen und bioinspirierten Materialien. Davor war er Professor an der Montanuniversität Leoben und Direktor des Erich Schmid Instituts für Materialwissenschaft der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Peter Fratzl ist Wiener, Diplomingenieur der Ecole Polytechnique in Paris und er besitzt ein Doktorat in Physik der Universität Wien. Er ist Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, sowie von jenen in Berlin und Mainz. Er ist auch Mitglied der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften (acatech) sowie der US National Academy of Engineering.

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