NS-Provenienzforschung und erinnerungskulturelle Arbeit in Bibliotheken
Allen Gedächtnisinstitutionen ist gemein, dass es in jedem Restitutionsfall darum geht, eine „faire und gerechte“ Lösung für während des NS-Regimes geraubten Objekten von Jüdinnen und Juden zu finden. Diese ist nach den Washingtoner Prinzipien von 1998 die Basis für die Bemühungen, NS-Provenienzforschung zu betreiben.
Dies gilt natürlich auch für Bibliotheken, neben den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen, wie etwa das österreichische Kunstrückgabegesetz oder der „Gemeinsamen Erklärung“ von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden in Deutschland. Oftmals geht es dabei aber nicht um wertvolle alte und seltene Druckwerke, sondern um Bücher als Alltagsgegenstand.
Dem Bibliothekswissenschaftler Jürgen Babendreier zufolge sind den geraubten Büchern die Verfolgungs- und Vernichtungsgeschichten ihrer Vorbesitzer:innen als factum brutum eingeschrieben. Als unmittelbare Zeugnisse des NS-Terrors stellen Besitzvermerke oder Annotationen manchmal die letzten Hinweise auf die Geschichte von Personen oder Institutionen vor der NS-Verfolgung dar und sind für die Provenienzforschung Ausgangs- und Endpunkt zugleich. Für die Erb:innen sind sie oftmals Erinnerungsstücke und daher ist auch das Thema eines erinnerungskulturellen Mehrwertes zunehmend von Bibliotheken zu leisten. Nur zurückgeben alleine, ohne erinnerungskulturelle Einbettung, reicht nicht mehr!
Bibliothekarische Basis
Zum Selbstverständnis einer wissenschaftlichen Bibliothek als Gedächtnisinstitution gehört z.B. Forschung am eigenen Bestand, aber auch über die dabei gewonnenen Erkenntnisse zu berichten – sei es in Publikationen, Ausstellungen, Blogs, Wikis usw. Prinzipiell trifft damit in Bibliotheken die erinnerungskulturelle Einbettung von zurückzugebenden bzw. bereits restituierten Kulturobjekten und die Erinnerungsarbeit – besonders die Besitzer:innen betreffend – auf eine gute Basis.
Doch anders als in Museen und Archiven sind Druckwerke als serielle Produkte erst durch ihre Exemplarspezifika (individuelle Merkmale, die sich z.B. auf den Einband, das Papier, Papierqualität, Drucktypen sowie die Buchgestaltung und Provenienzhinweise (Widmungen, Exlibris …) oder auf Erwerbungsvorgänge beziehen) voneinander unterscheidbar, diese sind Ausdruck der Herkunft und Geschichte eines bestimmten Buches. So beschäftigen sich Bibliothekar:innen schon lange vor der NS-Provenienzforschung in der exemplarspezifischen Erschließung von Druckwerken des 16. bis 19. Jahrhunderts mit diesen Gebrauchsspuren.
Überspitz formuliert sind durch die NS-Provenienzforschung und die Restitutionsarbeit neben der inhaltlich neuen Ebene der zeithistorischen Befassung mit den Raubmechanismen des Nationalsozialismus und dem Umgang damit nach 1945 nun neue Formen der Exemplarerschließung und deren Darstellung hinzugekommen. So sind es einerseits die Gebrauchs- und Raub- sowie Verwertungsspuren der NS-Zeit und deren spätere Überlagerungen, die gelesen, zugeordnet und interpretiert werden müssen, und andererseits wurden neue Formen der Darstellung der Exemplarspezifika benötigt, um der Raub- und Entziehungsgeschichte sowie der Rückgabe einer erinnerungskulturellen Darstellung gerecht zu werden. Beide hier skizzierten Anforderungen wurden in den letzten Jahren an vielen wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland und Österreich in diversen Projekten der NS-Provenienzforschung thematisiert und umgesetzt.
"Der charmanten Wienerin..."
Abb.: Exemplarspezifika eines Buches von Joseph S. Fletcher Perris of the cherry-trees (London: Jenkins 1927) mit der handschriftlichen Widmung an die Wienerin Eleonore Czember, die 1942 von den Nationalsozialisten in den Suizid getrieben wurde: „Der charmanten Wienerin Lori Czember, zur Erinnerung an Ihren aufrichtigen Verehrer Adolph Altschul, genannt Adular mit dem Riesenloreleyhaar. Karlsbad am 10. Juni 1931 dem Tage der Rosenspendung.“ (Signatur der Universitätsbibliothek Wien: BL-VIII-2=Fletcher A-1).
Bibliotheken und ihr spezifischer virtueller erinnerungskultureller Umgang
Für die Such- und Auffindbarkeit bestimmter Eigenschaften von Exemplaren wie etwa Vorbesitzer:innen, Provenienzen, Exlibris, Zuordnungen zu Restitutionsfällen etc. in den bibliothekarischen Suchmaschinen, wie z. B. etwa jener des Österreichischen Bibliothekenverbundes oder der von einigen deutschen Bibliotheken betriebenen Provenienzdatenbank Looted Cultural Assets ist die Ausweisung und einheitliche Erfassung dieser Exemplarspezifika notwendig. Und damit erhalten die Benutzer:innen einen durch Provenienzhinweise angereicherte Katalogeintrag des Buches. Dieser kann auch kurze erinnerungskulturelle Angaben beinhalten und somit können auch berechtigte Forderungen der Erb:innen nach Sichtbarmachung des Raubes und der Rückgabe erfüllt werden.
Abb.: Ausweisung des Werkes mit den Provenienzhinweisen im Bibliothekssystem der Universitätsbibliothek Wien
Digitale Repräsentationen
Zusätzlich werden mittlerweile auch die digitalen Repräsentationen der Werke, sprich die ggf. angefertigten Digitalisate, die in den Repositorien, das sind digitale Langzeitarchive der jeweiligen Bibliotheken, die der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellten werden, in den erinnerungskulturellen Umgang miteinbezogen und die mitdigitalisierten Provenienzspuren kontextualisiert. Durch diese Veränderung erweitert sich der erinnerungskulturelle Umgang in Bibliotheken nochmals.
Fazit
Letztlich zeigt sich, dass Provenienzforschung, aber auch der erinnerungskulturelle Umgang als Gedächtnisinstitution schon immer eine Perspektive des bibliothekarischen Handelns war. Die NS-Provenienzforschung der Universitätsbibliothek Wien wird entsprechend dieser Handlungsperspektive gemeinsam mit anderen Institutionen der Universität Wien in den nächsten Monaten einige Rückgaben durchführen und erinnerungskulturelle Akzente setzen. Umgesetzt wird das einerseits bei Rückgaben – so bei Objekten aus der Astronomischen Sammlung – oder auch bei einer Ausstellung zu Suizid-Opfern des Nationalsozialismus, anderseits auch durch den Ankauf des restituierten Bücher- und Schriftgutbestandes eines in der NS-Zeit ermordeten Bibliothekars sowie darüber hinaus mit einem offenen Kursangebot zur Provenienzforschung in Bibliotheken. Es bleibt spannend!
Literaturhinweis zu dem Buch mit den Abbildungen
Markus Stumpf, Jutta Fuchshuber, „Suizid-Bücher“ – Provenienzforschung und bibliothekarische Erinnerungsarbeit. In: Künstliche Intelligenz in Bibliotheken. Hrsg. von Christina Köstner-Pemsel [u.a.]. Graz: Uni Press 2020, S. 295–312. DOI: https://doi.org/10.25364/guv.2020.voebs15.22
Zur NS-Provenienzforschung der Universitätsbibliothek Wien
Die NS-Provenienzforschung der Universitätsbibliothek der Universität Wien (UB Wien) ist ein Teil der vielfältigen Forschungs- und Gedenkprojekte der Universität Wien und leistet einen aktiven Beitrag zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus. Als erste Universitätsbibliothek in Österreich begann die UB Wien 2004 mit der systematischen Durchsicht der Bestände und der wissenschaftlichen Aufarbeitung der eigenen Erwerbungspolitik. 2007 rückten zusätzlich das Universitätsarchiv und ab 2008 die wissenschaftlichen Sammlungen in den Fokus der
Provenienzforschung. Im Jahr 2009 erfolgten die ersten Restitutionen. Website: https://bibliothek.univie.ac.at/provenienzforschung.html
Kurzportrait
Markus Stumpf ist Leiter der Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte und der NS-Provenienzforschung der Universitätsbibliothek Wien sowie Research Fellow am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. 2021 wurde Stumpf durch den Österreichischen Bundespräsidenten der Berufstitel Professor verliehen. Er ist Vorstandsmitglied der Vereinigung Österreichscher Bibliothekarinnen und Bibliothekare sowie Mitglied der Kommission für Provenienzforschung. Mitherausgeber der Schriftenreihen Bibliothek im Kontext bei Vienna University Press/Vandhoeck & Ruprecht; zahlreiche Publikationen, zuletzt Mitherausgeber des Sammelbandes Nationalsozialismus digital. Die Verantwortung von Bibliotheken, Archiven und Museen sowie Forschungseinrichtungen und Medien im Umgang mit der NS-Zeit im Netz.