Angst vor der Zukunft schuld an sinkenden Geburtenraten
Angesichts der Alterung der europäischen Bevölkerung wird es immer wichtiger, die Ursachen für die sinkenden Geburtenraten zu verstehen. Der Demografie-Experte Daniele Vignoli befragte junge Paare zu ihren Gedanken über das Kinderkriegen. Dabei tauchte immer wieder ein Thema auf: die Unsicherheit bezüglich der Zukunft.
In einem Experiment, das Vignoli 2019 in Italien und Norwegen durchführte, zeigte er insgesamt 800 Paaren in den 20ern und 30ern Zeitungsschlagzeilen über die Wirtschaft. Sein Ziel war es, herauszufinden, wie sich die negative Berichterstattung in den Medien auf die Entscheidung der Menschen auswirkt, wann oder ob sie ein Kind bekommen wollen.
Immer weniger Kinder
Einige der 1.600 Teilnehmer sagten ihm, dass sie sich aufgrund ihrer eigenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten – insbesondere wegen fehlender Arbeit oder fehlendem Zugang zu Wohnraum – nicht in der Lage fühlten, ein Kind zu bekommen. Andere beschrieben eine Zunahme der allgemeinen Ängste über den Zustand der Welt.
„Unsere Ergebnisse zeigen sehr deutlich, dass die Fruchtbarkeit durch unsichere Zukunftsperspektiven beeinflusst wird“, sagt Vignoli, Professor für Demographie an der Universität Florenz in Italien. Er leitet ein von der EU gefördertes Projekt, in dem er untersucht, wie sich die Fruchtbarkeit in Europa verändert und von den vielfältigen Ängsten der Menschen geprägt wird. Die auf sechs Jahre angelegte Initiative mit dem Namen EU-FER soll im August 2023 auslaufen.
Die Angst vor der Zukunft veranlasst immer mehr Menschen in Europa, das Kinderkriegen hinauszuzögern oder sich gegen ein Kind zu entscheiden, so Vignoli.
In den 1960er-Jahren hatten die Italiener im Durchschnitt 2,4 Kinder. Heute liegen sie bei 1,25 und damit unter dem EU-Durchschnitt von 1,53. In Italien liegt das Durchschnittsalter, in dem Frauen ihr erstes Kind bekommen, bei 31,6 Jahren: eines der ältesten in Europa. Diese Zahlen liegen unterhalb des von Demografen als „Reproduktionsniveau“ bezeichneten Wertes – die durchschnittliche Anzahl an Geburten, die erforderlich ist, um die Bevölkerungsgröße ohne Migration stabil zu halten.
Im Jahr 2022 ist mehr als die Hälfte der europäischen Bevölkerung älter als 44,4 Jahre und mehr als ein Fünftel ist über 65 Jahre alt. „Altern bedeutet nicht nur, dass der Anteil der älteren Menschen zunimmt“, sagte Vignoli. „Altern bedeutet auch, dass es immer weniger jüngere Menschen gibt.“
Wirtschaftliche Erschütterungen
Junge Menschen wachsen in einer Welt auf, die von rasanten technologischen Veränderungen, einem sich verschärfenden Klimawandel, weit verbreiteter Luft-, Meeres- und Bodenverschmutzung und geopolitischen Konflikten zwischen atomar bewaffneten Mächten erschüttert wird.
Von besonderem Interesse für die EU-FER-Forscher waren die Auswirkungen des globalen Finanzcrashs 2007-2008 auf die europäischen Geburtenraten. Während frühere wirtschaftliche Erschütterungen wie die Ölkrise von 1973 einen vorübergehenden Rückgang der Fruchtbarkeit verursachten, war der Bankenzusammenbruch von 2007-2008 anders, denn die Geburtenraten gingen weiter zurück, selbst nachdem die Wirtschaft wieder zu wachsen begann, so Vignoli. Er glaubt, dass die Turbulenzen vor anderthalb Jahrzehnten den Punkt markieren, an dem die Unsicherheit der Menschen über die Zukunft begann.
Die Beunruhigung wurde seither durch die Covid-19-Pandemie verstärkt, die im Jahr 2020 ausbrach und eine schwere globale Rezession auslöste, so Vignoli. „Die wirtschaftliche Erschütterung durch die Pandemie und die anschließende Krise der Lebenshaltungskosten haben die Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit noch verstärkt“, erklärt er.
Obwohl die Gesamtzahl der Geburten in der EU nach einem Rekordtief im Jahr 2020 im Folgejahr leicht anstieg, erwartet Vignoli, dass die Gesamtfruchtbarkeitszahlen in Europa in den kommenden Jahren weiter sinken werden.
Nach Ansicht von Dr. Anna Matysiak, Expertin für Beschäftigungs- und Familiendynamik, hat die zunehmende Automatisierung des Arbeitsmarktes weiter zum Rückgang der Fruchtbarkeit in Europa beigetragen. „Veränderungen am Arbeitsplatz haben erhebliche Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit, da sie Unsicherheiten verursachen“, sagte sie. „Aber auch die Notwendigkeit, sich weiterzubilden und anzupassen, nimmt den Menschen die Zeit, die sie für das Kinderkriegen und die Kindererziehung verwenden könnten.“
Matysiak, außerordentliche Professorin an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Warschau in Polen, koordiniert ein weiteres Projekt – LABFER – das von der EU finanziert wurde, um zu untersuchen, wie sich Trends auf dem Arbeitsmarkt wie die zunehmende Automatisierung und flexible Arbeitszeiten auf die Fruchtbarkeit auswirken. Das fünfjährige Projekt läuft bis September 2025.
Angst um den Job
Die bisherigen Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen in Berufen, in denen arbeitsersetzende Technologien zum Einsatz kommen, unter anderem in Deutschland, Italien und Schweden, eher dazu neigen, das Kinderkriegen aufzuschieben.
Strukturelle Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt wie die Automatisierung verändern die Art der Arbeitsplätze grundlegend und vernichten sogar einige von ihnen, so dass die Menschen gezwungen sind, umzuschulen und in neue Bereiche vorzustoßen, so Matysiak. Veränderungen wie diese können das Familienleben destabilisieren, selbst in Ländern wie Schweden und Norwegen mit hochgradig regulierten Arbeitsmärkten. Matysiaks Analyse für Schweden hat gezeigt, dass Paare, die mit solchen Herausforderungen am Arbeitsplatz konfrontiert waren, sich auch eher scheiden ließen.
Im Allgemeinen sind Arbeiter am stärksten von Technologien betroffen, die Arbeitskräfte ersetzen. Dies führt dazu, dass sie zurückhaltender bei der Entscheidung sind, eine Familie zu gründe, so Matysiak.
Es gibt einen umgekehrten sozialen Effekt in Bezug auf flexible Arbeit. Obwohl die Arbeit von zu Hause aus seit Covid-19 sehr viel verbreiteter geworden ist, sind die Nutznießer in der Regel Menschen in hochqualifizierten Berufen. Auch hier sind die Arbeiter im Nachteil.
Ein positiver Aspekt der Familienerweiterung ist, dass eine höhere Arbeitsflexibilität mit der Entscheidung von Paaren für mehr als ein Kind einhergehen kann, so Matysiak. Andererseits haben Maßnahmen wie die größere Flexibilität, die zur Unterstützung berufstätiger Eltern eingeführt wurde, das Alter, in dem das erste Kind geboren wird, nicht vorverlegt. „Wir sind davon ausgegangen, dass es eine Auswirkung haben würde, aber die Paare bekommen dadurch nicht unbedingt früher Kinder“, sagte Matysiak.
Zeit zum Handeln
Sie und Vignoli glauben, dass die Auswirkungen der Unsicherheit auf die Geburtenraten in den kommenden Jahren noch zunehmen werden, insbesondere wenn sich künstliche Intelligenz am Arbeitsplatz immer mehr durchsetzt. Beide Forscher sind auch der Meinung, dass Paare mehr staatliche Unterstützung am Arbeitsplatz und zu Hause benötigen, um ihr Vertrauen in die Gründung oder Erweiterung einer Familie zu stärken.
Laut Matysiak sind politische Maßnahmen dringend erforderlich, um den Menschen zu helfen, auf dem Arbeitsmarkt zu bleiben. Dazu gehört ein besserer Zugang zu Beratung und Ausbildung. Matysiak plädiert auch für neue Regeln, um Arbeitnehmer vor langen Arbeitszeiten zu schützen und ein Übergreifen der bezahlten Arbeit auf das Familienleben zu verhindern.
Da die europäische Bevölkerung altert und zunehmend auf jüngere Generationen angewiesen ist, würde ein anhaltender Trend zu sinkenden Geburtenraten letztlich für alle Unsicherheiten schaffen. „Die Demografie bestimmt unsere Vergangenheit, aber legt auch unsere Zukunft fest“, sagte Vignoli.
Die Forschung in diesem Artikel wurde von der EU über den Europäischen Forschungsrat (ERC) finanziert.
Weitere Infos
Von Andrew Dunne
EU-geförderte Forschung zu Sozial- und Geisteswissenschaften
Dieser Artikel wurde erstmals in Horizon, dem EU-Magazin für Forschung und Innovation, veröffentlicht.