Bekämpfung von Herzkrankheiten und Schlaganfallrisiken mit individueller Behandlung
Zwei schwere Krankheiten in Europa haben EU-Forscher dazu veranlasst, nach Heilungsmöglichkeiten zu suchen, indem sie die betroffenen Menschen in Gruppen zusammenfassen.
Professor Rick Grobbee glaubt, dass der Schlüssel zu einer besseren Behandlung individueller Patienten mit Herzerkrankungen darin liegt, eine große Anzahl von ihnen zu untersuchen. Dieser Ansatz kann verschiedene Untergruppen von Krankheiten aufdecken.
Grobbee, ein Forscher am University Medical Center Utrecht in den Niederlanden, war von diesem Potenzial so fasziniert, dass er es in den Mittelpunkt seiner Arbeit stellte, nachdem er Anfang der 1980er Jahre den Bluthochdruck untersucht hatte.
Patientengruppen
„Das hat mich wirklich dazu gebracht, meine berufliche Laufbahn zu ändern“, sagte Grobbee. „Ich fand es äußerst spannend und lohnend, Patientengruppen zu untersuchen.“
In jüngster Zeit hat er sein Fachwissen in ein bahnbrechendes und von der EU finanziertes Forschungsprojekt einfließen lassen, um Informationen über Patienten mit Herzerkrankungen zu sammeln. Unter dem Namen BigData@Heart endete das Projekt im Februar 2023 nach sechs Jahren.
Herzerkrankungen sind in Europa so weit verbreitet, dass die Zahl der Patienten, von denen Daten gesammelt werden können, groß ist. Nach Angaben des European Heart Network lebten im Jahr 2015 mehr als 85 Millionen Menschen in Europa mit einer Herz-Kreislauf-Erkrankung.
Jeden Tag kommen Menschen auf dem ganzen Kontinent mit Brustschmerzen, Übelkeit und Kurzatmigkeit in die Krankenhäuser – einige der Anzeichen für einen Herzinfarkt. Die Warnzeichen können wochenlang bestehen, die Infarkte können aber auch plötzlich auftreten.
Unabhängig davon, aus welchem Grund Patienten erscheinen, ihre Ankunft markiert oft das Endstadium einer schon länger anhaltenden Krankheit. „Herzinsuffizienz ist sehr behindernd“, sagt Grobbee. „Sie hat einen großen Einfluss auf die Lebensqualität der Menschen.“
Zugrundeliegende Krankheiten
Herzkrankheiten sind für 45 % aller Todesfälle in Europa verantwortlich. Hinter Herzinsuffizienzen und Herzinfarkten stecken unterschiedliche Krankheiten. Behandlungen wirken bei einigen, aber nicht bei anderen.
„Das Problem ist, dass wir bei Herzinsuffizienz und Herzkrankheiten eine Vielzahl von Medikamenten haben, aber oft alle gleich behandeln“, erklärt Grobbee. „Das ist wahrscheinlich nicht der beste Ansatz.“
Viele Menschen sprechen nicht auf die Behandlung an, bei einigen tritt kaum eine Verbesserung ein und wieder andere haben mit Nebenwirkungen zu kämpfen.
BigData@Heart, das von Grobbee geleitet wurde, führte Informationen von 50 Millionen Patienten mit Herzerkrankungen zusammen, indem es Datenbanken, maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz nutzte.
Maßstab und Geschichte
„Das ist ein dermaßen großes Ausmaß, dass es die Möglichkeit bietet, diese Vielfalt viel tiefer zu erforschen“, sagte er. „In Kombination mit der Computerleistung können wir damit viel weiter weg schauen – so wie man mit einem Teleskop Sterne entdecken kann, die sonst unsichtbar sind.“
Dieser Ansatz hat eine Geschichte. Im Jahr 1948 begann im US-Bundesstaat Massachusetts die „Framingham Heart Study“, die bis heute andauert. Es hat sich gezeigt, dass Faktoren wie Bluthochdruck, ein erhöhter Cholesterinspiegel, die Ernährung und der Lebensstil das Risiko eines Herzinfarkts stark beeinflussen.
Dies leitete eine Behandlungsrevolution ein, da gezielte Medikamente gegen Bluthochdruck Millionen von Menschenleben retteten. In BigData@Heart versuchten Grobbee und seine Kollegen, dieses Kunststück zu wiederholen, indem sie Untergruppen von Patienten besser verstanden.
Die Patienten wurden enger danach klassifiziert, ob sie andere Krankheiten wie Diabetes, Nierenprobleme oder Herzrhythmusstörungen hatten. Die Ärzte könnten dann sehen, welche Behandlungen für welche Untergruppen am besten geeignet sind.
An der Untersuchung nahmen Fachorganisationen in sechs EU-Ländern – Belgien, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Spanien und Schweden – sowie in der Schweiz, Großbritannien und den USA teil.
Maßgeschneiderte Heilmittel
Das Projekt war ein Erfolg. Bei den Betablockern, die den Blutdruck senken, zeigt die Statistik, dass einige Patienten davon profitieren, andere nicht und eine dritte Gruppe unter Nebenwirkungen leidet. Dadurch sind die Ärzte von Anfang an besser in der Lage, Patienten einzuschätzen, auch wenn der genaue Gesundheitszustand eines einzelnen Patienten untypisch ist.
„Jetzt können Ärzte diese Informationen nutzen, um ihre Behandlungen besser anzupassen und zu optimieren“, so Grobbee. „Wir haben aus großen Datenmengen gelernt, um eine bessere Empfehlungen für individuelle Patienten zu geben.“
BigData@Heart hatte von vornherein eine Beteiligung der Industrie integriert. Als Teil einer öffentlich-privaten EU-Forschungspartnerschaft mit dem NamenInnovative Medicines Initiative wurde das Projekt von der pharmazeutischen Industrie mitfinanziert, die zudem eigene Studien beisteuerte.
„Es war großartig, mit ihnen zusammenzuarbeiten, weil sie in der Lage sind, verschiedene Arten von Patienten zu untersuchen, die von Therapien profitieren könnten, so dass wir Medikamente umfunktionieren oder neue entwickeln können“, erklärt Dipak Kotecha, Professor für Kardiologie an der Universität von Birmingham in Großbritannien und ein Teilnehmer des Projekts.
Halsarterien
Ein anderes von der EU finanziertes Forschungsprojekt verfolgt einen ähnlichen Ansatz, um eine weitere medizinische Herausforderung zu bewältigen: Schlaganfälle.
Unter dem Namen TAXINOMISIS kategorisiert die Initiative Patienten anhand von medizinischen Bildgebungen, Bluttestergebnissen und bestehenden Gesundheitszuständen. Auch dieses Projekt, das im Dezember 2023 nach sechs Jahren abgeschlossen sein wird, macht sich die Möglichkeiten der KI zunutze und bringt die Idee der personalisierten Medizin voran.
Der Schwerpunkt liegt auf einer Krankheit, die zwei Arterien im Hals betrifft, die das Gehirn mit Blut versorgen. Man nennt sie Karotisarterien, im Deutschen auch Halsschlagadern. Bei Erkrankungen der Halsschlagader bilden sich dort Ablagerungen, sogenannte Plaques. Diese können den Durchgang für das Blut verengen oder dazu führen, dass Plaquestücke sich lösen und ins Gehirn fließen.
„Wenn Sie Probleme in Ihren Halsschlagadern haben, dann haben Sie vielleicht auch Probleme in Ihrem Gehirn“, sagte Dimitrios Fotiadis, der TAXINOMISIS leitet und Professor für biomedizinische Technik an der Universität von Ioannina in Griechenland ist.
Zu diesen Gehirnerkrankungen gehören Schlaganfall und Demenz. Schätzungsweise 30 % der Schlaganfälle sind auf eine Erkrankung der Halsschlagader zurückzuführen, was den Anstoß zur Entdeckung von Plaques und Eingriffen erklärt.
Risiken durch abgelöste Plaques
Gegenwärtig werden die Patienten mit Hilfe medizinischer Bildgebung wie der MRT untersucht, um abzuschätzen, wie stark die Verengung ist. Aber diese Technik ist nicht perfekt. Es gibt verschiedene Arten von Plaques, von denen einige eher dazu neigen, sich zu lösen.
TAXINOMISIS hat eine Software entwickelt, die ein 3-D-Bild der Arterie erstellt und vorhersagt, ob sich die Plaque ausdehnen wird und wie hoch das Risiko ist, dass sie sich löst und das Gehirn schädigt.
So kann der Arzt entscheiden, ob der Patient nach Hause gehen kann, ein Medikament verschrieben bekommt oder einen Stent erhält: ein dünnes, hohles Röhrchen, das chirurgisch eingesetzt wird, um eine verengte Arterie zu erweitern.
Alternativ könnte die Risikobewertung einer Person nahelegen, dass eine Operation erforderlich ist. Ärzte in Griechenland, Deutschland, den Niederlanden, Serbien und Spanien haben das Tool bei 300 Patienten geprüft und den Entwicklern Feedback gegeben.
Besserer Test
In einem anderen Teil des Projekts wurde ein „Labor auf einem Chip“ entwickelt: eine Technologie, die mit einem Tropfen Blut auf eine Handvoll Gene testet, die mit Erkrankungen der Halsschlagader in Verbindung stehen. Diese Technik kann die Ergebnisse in Minuten statt in Stunden liefern, was die Kosten erheblich reduziert.
Fotiadis schätzt, dass es vier bis sechs Jahre dauert, um einen fertigen Prototyp auf den Markt zu bringen.
In jedem Fall meint er, dass der ultimative Nutzen von Forschungen wie TAXINOMISIS darin besteht, dass sie den Ärzten einen besseren Überblick über die besonderen Bedürfnisse eines einzelnen Patienten geben. „Der Arzt entscheidet letztendlich über die Behandlung“, fügt Fotiadis hinzu. Grobbee in Utrecht schließt sich dieser Meinung an.
„Für Ärzte hilft dies alles, die Verwirrung zu klären, warum unsere Patienten manchmal so unterschiedlich reagieren“, fasst er zusammen.
Weitere Infos
Artikel von Anthony King
Recherchen zu diesem Artikel wurden von der EU gefördert. Die Ansichten der Befragten spiegeln nicht unbedingt die der Europäischen Kommission wider. Dieser Artikel wurde erstmals in Horizon, dem EU-Magazin für Forschung und Innovation, veröffentlicht.