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Kooperation / EU-Magazin Horizon / 17.06.2024, 14:52

Die Renaissance der Wasserkraft in Europa

Die EU setzt auf grüne Energie und versucht, eine traditionell saubere Energiequelle mit einigen Anpassungen zu nutzen.

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Zum grünen Energiemix gehört auch Wasserkraft

Dr. Jeremy Bricker, ein Hydraulik- und Küstenbauingenieur, hat große Träume. Irgendwo an der Nordseeküste stellt er sich den Bau eines Staudamms vor, um die Versorgung des europäischen „Tieflands“ mit sauberer Energie zu steuern. 

Verdammt gut 

Bricker arbeitet auch auf dieses Ziel hin. Er und andere Ingenieure sind Teil eines Projekts, das EU-Mittel erhielt, um eine bahnbrechende Energiespeicherlösung auf Wasserbasis voranzutreiben.  Nach ihrem Plan würde ein kreisförmiger Damm direkt vor der Küste das Meerwasser aus einer inneren, künstlichen Lagune fernhalten, deren Wasserspiegel niedriger wäre.  

Das Abpumpen von Wasser aus der unteren Lagune in den umliegenden Ozean würde erfolgen, wenn ein Überschuss aus anderen erneuerbaren Quellen wie Sonne und Wind besteht. Bei Bedarf würde das Wasser dann durch energiegenerierende Turbinen zurück in die Lagune fließen, angetrieben von der Kraft des umliegenden Ozeans. 

„In der inneren Lagune könnten wir Energie speichern, die Tausenden von Batterien entspricht“, sagte Bricker, außerordentlicher Professor an der Technischen Universität Delft in den Niederlanden. Er ist der wissenschaftliche Koordinator des Projekts. Dieses trägt den Namen ALPHEUS und soll nach viereinhalb Jahren im September 2024 abgeschlossen sein. 

Die Nutzung der Schwerkraft, um Wasser durch Turbinen zurück in die untere Lagune fließen zu lassen, würde es ermöglichen, bei Bedarf Wasserkraft zu erzeugen, wenn das Angebot gering ist, eine Versorgungslücke zu schließen und eine saubere Energiespeicherlösung zu bieten. 

Universitäten, darunter Chalmers in Schweden, Braunschweig in Deutschland und Gent in Belgien, sowie Unternehmen aus acht europäischen Ländern haben sich zusammengeschlossen, um die neuen Schlüsseltechnologien für einen hypothetischen Offshore-Damm zu entwickeln, wie z. B. Wasserturbinen, die für den Einsatz auf See geeignet sind. 

Zurück in die Zukunft 

Zwar gibt es bereits Tausende von Wasserkraftanlagen auf der ganzen Welt, doch befinden sich diese fast ausschließlich in Bergregionen, in denen die Schwerkraft aufgrund des natürlichen Geländes ihre Wirkung entfalten kann oder in denen die Strömung eines Flusses stark genug ist, um für die Energieerzeugung genutzt zu werden. 

Das Interesse an der Technologie wächst wieder – diesmal für den möglichen Einsatz in flacheren Gebieten, einschließlich Meere – da sie dazu beitragen könnte, die europäische Wirtschaft grüner zu gestalten.  Europa strebt an, bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent zu werden. Dieses Ziel erfordert eine Abkehr von fossilen Brennstoffen wie Kohle, Erdgas und Öl hin zu erneuerbaren Energien wie Wasserkraft. 

Die EU strebt an, den Anteil erneuerbarer Energien von 23 % im Jahr 2022 auf 42,5 % im Jahr 2030 zu erhöhen. Dieser Anteil muss noch weiter steigen, um bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen.  

Flexible Bedürfnisse 

Eine Herausforderung besteht darin, dass erneuerbare Energien wie Wind und Sonne unstetig sein können. Wolken können die Sonne verdecken und der Wind kann nachlassen.  Wenn dies geschieht, muss das Energiesystem schnell reagieren können, um Angebot und Nachfrage auszugleichen. Das bedeutet, dass es möglich sein muss, überschüssige Energie zu speichern und bei Bedarf wieder ins Netz einzuspeisen. 

Auch wenn Batterien diesen Zweck erfüllen, haben sie doch ihre Grenzen. Sie speichern nur geringe Mengen an Energie, sind auf kritische Rohstoffe angewiesen und haben eine relativ kurze Lebensdauer, insbesondere verglichen mit einem Damm. „Wenn wir nicht mehr Energiespeicher aufbauen, könnten uns in Zukunft Stromausfälle und Netzinstabilität drohen“, erklärt Bricker, dessen berufliche Laufbahn ihn von den Vereinigten Staaten zu Universitäten in Japan und den Niederlanden geführt hat.  

Flexibilität zeigen 

Unterdessen haben andere Forscher in Europa bestehende Wasserkraftanlagen mithilfe künstlicher Intelligenz aufgerüstet, sodass Wasser eine größere Rolle im Bereich der erneuerbaren Energien übernehmen kann.  

Im Rahmen eines weiteren EU-finanzierten Projekts entwickelten diese Experten Technologien, um das Energiespeicherpotenzial, die Leistung und die Flexibilität von Wasserkraftwerken zu verbessern. Das Projekt mit dem Namen XFLEX HYDRO endete im Februar 2024 nach viereinhalb Jahren.  

Die Integration immer größerer Mengen intermittierender Solar- und Windenergie – auch als variable erneuerbare Energien (VREs) bezeichnet – erfordert mehr Flexibilität, als derzeit möglich ist, um Unterbrechungen in der Versorgung zu vermeiden. 

„Wir erleben eine Renaissance der Wasserkraft“, sagte Dr. Elena Vagnoni, Dozentin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) und wissenschaftliche Koordinatorin von XFLEX HYDRO. „Ein neues, erneuerbares Stromnetz braucht Flexibilität. Das verändert die Art und Weise, wie wir Wasserkraft betrachten.“ 

Das Projekt kombinierte die Expertise europäischer Energieversorger, globaler Gerätehersteller, Forschungseinrichtungen und Energieberatungen in Österreich, Frankreich, Deutschland, Portugal, Spanien und Großbritannien.  Es führte groß angelegte Demonstrationen seiner neuen Technologien in Anlagen in Frankreich, der Schweiz und Portugal durch. 

Effizienzgewinne 

Intermittierende Versorgungseinbrüche erhöhen den Verschleiß von Anlagen, die für eine regelmäßigere Energieversorgung ausgelegt sind. „Früher schaltete man die Pumpen höchstens einmal am Tag ein“, sagte François Avellan, Honorarprofessor an der EPFL, der als wissenschaftlicher Berater für XFLEX HYDRO tätig war. „Jetzt müssen wir sie je nach Wetter mehrmals am Tag starten. Das belastet diese Anlagen stark.“ 

Das Projekt testete ein neues System – einen „hydraulischen Kurzschluss“ – am Grand’Maison-Damm in den französischen Alpen, der größten Pumpspeicheranlage Europas.  Bei Spitzenkapazität kann sie 1.800 Megawatt Energie ins Netz einspeisen, was einer mittelgroßen Erdgas- oder Kohleanlage entspricht. 

Die neue Technologie ermöglicht es Grand’Maison, gleichzeitig Wasser zu pumpen und Strom zu erzeugen. Die XFLEX HYDRO-Software verwaltet den Energiefluss, um ihn ständig im Gleichgewicht mit den Bedürfnissen des Netzes zu halten.  Der erwartete Effizienzgewinn würde die Abhängigkeit von Gas- und Kohlekraftwerken verringern und laut Avellan möglicherweise rund 90.000 Tonnen Kohlendioxidemissionen pro Jahr einsparen. 

Unterdessen erklärt Bricker von ALPHEUS, dass die Teilnehmer nach einem industriellen Partner suchen, der die Technologie des Projekts in größerem Maßstab umsetzen kann. Die EU-Finanzierung trug dazu bei, seinen Traum von einer Offshore-Wasserkraftanlage zu einer erreichbaren Realität zu machen. Der eigentliche Bau wird jedoch noch Jahre weiterer Forschung und privater Investitionen erfordern.  

„Die Technologie ist da“, fügt er hinzu. „Jetzt braucht es nur noch eine industrielle Führung und Finanzierung.“ 

Weitere Infos 

Artikel von Tom Cassauwers 

APA-Science Content-Kooperation mit Horizon

Recherchen zu diesem Artikel wurden vom Horizon-Programm der EU gefördert. Die Ansichten der Befragten spiegeln nicht unbedingt die der Europäischen Kommission wider. Dieser Artikel wurde ursprünglich in Horizon, dem EU-Magazin für Forschung und Innovation, veröffentlicht.