Fäden der Natur: Kleidung von Grund auf neu erschaffen
Forscher wenden sich zwei Anbaukulturen zu, um die Umweltbelastung durch Kleidung aus synthetischen Fasern zu bekämpfen.
Von Risotto bis zur Soße: Pilze sind seit langem ein fester Bestandteil der Küche. Jetzt zeigen Pilze das Potenzial, mehr als nur Geschmack zu bieten – als nachhaltiges, biegsames Material für die Modeindustrie. Forscher nutzen die netzartige Struktur des Wurzelsystems des Pilzes – das Myzel – als Alternative zu synthetischen Fasern für Kleidung und andere Produkte wie Autositze.
Futuristischer Stoff
„Es ist definitiv ein Umdenken im Herstellungsprozess“, sagt Annalisa Moro, EU-Projektleiterin bei dem in Italien ansässigen Unternehmen Mogu, das aus dem Myzel Produkte für die Inneneinrichtung herstellt. „Sie arbeiten wirklich mit der Natur zusammen, um etwas wachsen zu lassen, anstatt es zu erschaffen, also ist es irgendwie futuristisch.“
50 Kilometer nordwestlich von Mailand gelegen, leitet Mogu eine von der EU geförderte Forschungsinitiative zur Entwicklung von Vliesstoffen aus Myzelfasern für die Textilindustrie. Das Projekt namens MY-FI läuft vier Jahre bis Oktober 2024 und bringt Unternehmen, Forschungsinstitute, Industrieorganisationen und akademische Einrichtungen aus ganz Europa zusammen.
MY-FI unterstreicht, wie die EU auf eine nachhaltigere Produktion und einen nachhaltigeren Verbrauch in der Textil- und Bekleidungsindustrie drängt, die rund 1,3 Millionen Menschen in Europa beschäftigt und einen Jahresumsatz von 167 Milliarden Euro erzielt. Die EU bezieht den Großteil ihrer Textilien aus dem Ausland und produziert sie in Ländern wie Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien. Auf Italien entfallen mehr als 40 Prozent der Bekleidungsproduktion der EU.
Zart und langlebig
Das Myzel wächst aus Startersubstrat, das Nutzpflanzen wie z. B. Getreide zugesetzt wird. Die fadenförmigen Filamente der Hyphen, dem vegetativen Teil des Pilzes, bilden ein Material, das auf der Oberfläche wächst. Es wird geerntet und getrocknet. Das Ergebnis sind weiche, seidenweiße Blätter aus Vliesstoff, die 50 bis 60 Quadratzentimeter groß sind.
Das zarte Material wird durch die Zugabe von biobasierten Chemikalien, die die Fasern miteinander verbinden, stärker und strapazierfähiger gemacht. Seine ökologische Herkunft steht im Gegensatz zu den meisten synthetischen Fasern wie Nylon und Polyester, die aus fossilen Brennstoffen wie Kohle und Öl gewonnen werden.
Das bedeutet, dass die Produktion synthetischer Fasern zu Treibhausgasemissionen beiträgt, die den Klimawandel beschleunigen. Darüber hinaus geben diese Materialien beim Waschen Mikroplastik ab, das oft die Umwelt, einschließlich Flüsse, Meere und Ozeane, verschmutzt. Das Myzel von MY-FI benötigt nur sehr wenig Erde, Wasser oder Chemikalien und ist damit umweltfreundlicher als Naturfasern wie Baumwolle.
Anziehprobe
Für die Modeindustrie sind die weichen, wasserabweisenden Eigenschaften des Myzels ebenso attraktiv wie seine Umweltfreundlichkeit. Fragen Sie einfach Mariagrazia Sanua, Managerin für Nachhaltigkeit und Zertifizierung bei Dyloan Bond Factory, einem italienischen Modedesigner und -hersteller, der zu MY-FI gehört.
Das Unternehmen hat das auf Myzel basierende Material – in Schwarz und Braun und mit einem gewachsten Finish – verwendet, um einen Prototyp eines Kleides, eine Kombination aus Oberteil und Midi-Rock, Taschen und kleine Lederaccessoires herzustellen. Lasergravur und Siebdruck wurden eingesetzt, um das Verhalten des Materials zu testen.
Die Herausforderung bestand darin, sich an die Stoffblätter – Quadrate aus dem Myzelmaterial anstelle von traditionellen Textilrollen wie Baumwolle, Leinen und Polyester – sowie an Eigenschaften wie Zugfestigkeit und Nahtdichtigkeit anzupassen. „Wir mussten den Paradigmenwechsel vollständig vollziehen und Designprozesse und Kleidungsstücke auf der Grundlage des Materials entwerfen“, erklärt Sanua.
Das Unternehmen hofft, dass das Myzelmaterial eine Möglichkeit bietet, den Verbrauchern eine Palette von Produkten anzubieten, die Alternativen zu tierischem Leder sein können. „Es ist schön, die Prototypen zu betrachten“, sagte Moro. „Und es ist wunderbar zu sehen, wie viele Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Perspektiven zusammenarbeiten, um dieses Ergebnis zu erzielen.“
Mogo arbeitet seinerseits auf eine groß angelegte Produktionsanlage hin, um das MY-FI-Material aus dem Forschungsstadium auf den Markt zu bringen. Die Herstellung des Materials ist zwar derzeit relativ teuer, aber die Kosten würden mit einer groß angelegten Produktion sinken.
Frei von Leder
Volkswagen, die weltweite Nummer 2 unter den Automobilherstellern, setzt auf Myzel-Technologien, um seinen ökologischen Fußabdruck zu verringern und sich von Leder für Fahrzeuginnenräume zu verabschieden. Kunden wünschen sich zunehmend tierfreie Materialien für Innenräume von Sitzbezügen und Türverkleidungen bis hin zu Lenkrädern. Daher ist die Einführung eines nachhaltigen Ersatzes für Leder eine spannende Perspektive, so Dr. Martina Gottschling, Forscherin bei der Volkswagen Group Innovation.
„Ein schnell wachsendes biologisches Material, das ohne Tierbestandteile und mit wenig Aufwand hergestellt werden kann und zudem keine erdölbasierten Ressourcen erfordert, ist ein entscheidender Fortschritt bei Innenraummaterialien“, sagt sie. Das Myzelmaterial ist außerdem leichter als Leder, ein weiterer Vorteil zur Reduzierung des CO2-Fußabdrucks von VW. Die Beteiligung des Unternehmens an MY-FI treibt die Projektforscher an der Universität Utrecht in den Niederlanden und I-TECH Lyon in Frankreich dazu an, die Haltbarkeit des Myzelstoffs zu verbessern.
Um vom Prototyp zur Produktionslinie überzugehen, muss der Stoff Qualitätsanforderungen erfüllen, die von VW festgelegt wurden, um sicherzustellen, dass das Material für die Lebensdauer des Fahrzeugs hält. Gottschling ist überzeugt, dass diese Herausforderung im kommenden Jahrzehnt gemeistert wird. „Wir sehen das Material schon jetzt als eines der hochwertigen Materialien für Innenanwendungen, die in Zukunft möglich sein werden“, fügt sie hinzu.
Wenn das Leben Tomaten schenkt
Pilze sind nicht das einzige Lebensmittel, das das Potenzial hat, eine Revolution in Sachen nachhaltiges Garn auszulösen. Auch Tomatenstängel haben ein verborgenes Talent, so Dr. Ozgur Atalay und Dr. Alper Gurarslan von der Technischen Universität Istanbul in der Türkei. Als sie sahen, dass die Tomatenstängel nach der Ernte auf den Feldern verwelkten, begannen Atalay und Gurarslan zu untersuchen, ob sich die Stängel in nachhaltige Fasern verwandeln ließen.
Tests bewiesen, dass die landwirtschaftlichen Abfälle tatsächlich in Garn verwandelt werden können. Doch Atalay und Gurarslan waren entschlossen, noch einen Schritt weiter zu gehen. Sie wollten aus Tomatenstängeln eine Art Garn für Kleidungsstücke herstellen, die Herzschlag, Atemfrequenz und Gelenkbewegungen überwachen. Die beiden Forscher leiten ein von der EU finanziertes Projekt zur Herstellung dieser Art von elektrisch leitfähiger Kleidung unter der – erstmaligen – Verwendung von nachhaltigen Materialien.
Das Projekt mit dem Namen SMARTWASTE hat eine Laufzeit von vier Jahren bis Ende 2026 und umfasst auch akademische und Forschungseinrichtungen aus Deutschland, Italien, den Niederlanden und Polen. „Das Schöne an dem Projekt ist, dass wir mit Abfällen starten“, sagte Atalay. „Wir nehmen landwirtschaftliche Abfälle und stellen nicht nur normale Textilien her, sondern etwas viel Wertvolleres.“
Kostenschätzungen werden zwar erst im weiteren Verlauf des Projekts folgen, wenn die Designpartner an der Entwicklung konkreter Produkte arbeiten, aber er wies darauf hin, dass intelligente Kleidung ein gutes Stück teurer sein wird als herkömmliche. Ein intelligentes Textilhemd könnte laut Atalay bis zu 1.000 € kosten.
Das besondere Material, die begrenzten Produktionsmengen und die Forschung und Entwicklung, die erforderlich sind, um tragbare Technologien zu entwickeln, die haltbar, waschbar und bequem sind, tragen zu diesem Preis bei. Fortschritte in der Technologie sollten letztendlich zu niedrigeren Produktionskosten und Verbraucherpreisen führen.
Die Saat des Erfolgs der Pappel
Die türkische Landschaft hat auch einen zweiten Impuls für das Projekt gegeben. Die in der Türkei reichlich vorhandenen Pappelbäume und – genauer gesagt – ihre weißen, flauschigen, baumwollähnlichen Samen veranlassten Gurarslan zu untersuchen, ob sie eine nachhaltige Textilquelle sein könnten.
Auch wenn ihre Fasern zu kurz sind, um daraus Garn herzustellen, haben die Samen drei besondere Eigenschaften, die für die Textilindustrie interessant sind: eine hohle, röhrenartige Struktur, die Wärme speichern kann, eine antibakterielle Eigenschaft und Wasserfestigkeit. Das Netzwerk der SMARTWASTE-Experten hat die Samen mit recyceltem Polyester gemischt, um einen Vliesstoff herzustellen, den das Team zu Textilprodukten mit verbesserten thermischen Eigenschaften verarbeiten möchte.
Die Forscher hoffen, dass dies erst der Anfang einer weitreichenden Transformation von Textilien ist. „Unser Ziel ist es, die nächste Generation von Forschern und Innovatoren im Bereich nachhaltiger Textilien auszubilden“, fügt Atalay abschließend hinzu.
Weitere Infos
Artikel von Ali Jones
Die Finanzierung der für diesen Artikel erforderlichen Forschung erfolgte durch das Horizon-Programm der EU, im Fall von SMARTWASTE über die Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen (MSCA). Die Ansichten der Befragten spiegeln nicht unbedingt die der Europäischen Kommission wider.