Licht, Kamera, Action: Europas Filmindustrie setzt auf Storytelling und soziale Realität
Von der EU geförderte Forscher untersuchen, wie Europas Filmindustrie einen anderen Weg als Hollywood einschlägt und sich auf kulturelle Vielfalt, Zusammenarbeit und Storytelling konzentriert, um die globale Wettbewerbsfähigkeit und den kulturellen Einfluss zu stärken.
Im März 2025 schrieb ein Low-Budget-Independent-Animationsfilm Geschichte, indem er als erster lettischer Film einen Oscar gewann. „Flow“ erhielt den Preis für den besten Animationsfilm und setzte sich gegen Hollywood-Giganten wie Disney und DreamWorks durch.
Der Film, der in mehreren europäischen Ländern mit einem Bruchteil eines typischen Hollywood-Budgets koproduziert wurde, vermittelte eine kraftvolle Botschaft von Solidarität und Akzeptanz. Für Professorin Katharine Sarikakis vom Media Governance and Industries Research Lab der Universität Wien in Österreich sind genau das die Eigenschaften, die die Identität des europäischen Kinos ausmachen – und seine größten Stärken.
Stärken und Schwächen erkennen
Sarikakis leitet eine dreijährige, EU-finanzierte Forschungsinitiative namens REBOOT, die im Jänner 2026 endet. Das REBOOT-Team besteht aus Forschern von 11 Universitäten aus 9 EU-Mitgliedstaaten und der Türkei. Sie analysieren die Herausforderungen, vor denen die europäische Filmindustrie steht, und welche Unterstützung sie benötigt, um erfolgreich zu sein. Dazu gehört, die wichtigsten Stärken und Schwächen der europäischen Filmindustrie klar zu identifizieren und die Vorlieben des Publikums zu analysieren.
Mit einem Wert von über 120 Milliarden Euro laut dem „Key Trends 2025“-Bericht der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle ist die europäische Filmindustrie die drittgrößte der Welt – ein kulturelles Kraftzentrum und ein wichtiger Wirtschaftszweig.
Auf dem Papier dominiert Hollywood weiterhin die globale Filmindustrie, indem es mehr Filme produziert, das größte Publikum anzieht und die höchsten Einspielergebnisse erzielt. Doch nach Ansicht der REBOOT-Forscher zeigen diese Zahlen nicht das ganze Bild. Professor Antonios Vlassis, Politikwissenschaftler an der Universität Lüttich in Belgien, erklärte, finanzielle Erträge seien zwar wichtig, aber nicht das einzige Erfolgskriterium.
„Filmemacher in Europa sagen uns immer wieder, dass andere grundlegende Kriterien – kulturelle Vielfalt, Zusammenarbeit, öffentliche Unterstützung und künstlerische Freiheit – für die Identität und Stärke der europäischen Filmindustrie entscheidend sind.“ Vlassis warnte davor, das Hollywood-Modell kopieren zu wollen, da dies die kulturellen, politischen und sozialen Grundlagen untergraben könnte, die das europäische Kino so einzigartig machen.
Ein kulturelles und geopolitisches Gut
Die REBOOT-Forscher beschreiben die europäische Filmindustrie als ein geopolitisches und kulturelles Gut. Sie spielt eine entscheidende Rolle: Sie zeigt das Leben von Minderheiten, baut Verbindungen über Grenzen hinweg auf und beeinflusst die internationalen Beziehungen in Europa und darüber hinaus. Sarikakis betonte, dass die Filmindustrie mehr ist als nur Kunst oder Unterhaltung.
„Der europäische Film fördert die Identität, das Gefühl einer gemeinsamen Zukunft und die Solidarität zwischen Nationen und Kulturen, besonders in den politisch schwierigen Zeiten, in denen wir leben“, sagte sie. „Filme erzählen Geschichten, die Menschen über einander erzählen, und prägen so Kulturen und Werte. Sie sprechen von Toleranz, Zusammenleben, Menschenrechten und Demokratie.“
Die Verleihung der Europäischen Filmpreise am 18. November in Sevilla, Spanien, hat diese Tradition fortgesetzt, die Vielfalt und Identität des europäischen Kinos zu feiern und seine Stellung auf der Weltbühne zu stärken.
Eine Branche im Wandel
Laut der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle wurden im Jahr 2024 rekordverdächtige 2.514 Spielfilme in der EU produziert – etwa sieben neue Filme pro Tag. Europäische Werke machten etwa ein Drittel der Kinobesuche in der EU aus. Doch der Aufstieg globaler Streaming-Plattformen wie Netflix und Disney+ stellt traditionelle Modelle der Filmproduktion und des Filmvertriebs vor neue Herausforderungen.
Trotzdem zeigen Umfragen von REBOOT, dass europäische Filmemacher nicht versuchen, eine einzige paneuropäische Streaming-Plattform zu schaffen, um mit den US-Giganten zu konkurrieren. Stattdessen suchen sie nach Wegen, um die Vielfalt und kreative Unabhängigkeit Europas zu bewahren. „Globale Streaming-Plattformen sind zu direkten und einflussreichen Akteuren in der europäischen Filmindustrie geworden“, sagte Vlassis. „Sie nutzen Zuschauerzahlen, um zu entscheiden, was produziert und beworben wird, aber den meisten europäischen Produzenten fehlt der Zugang zu diesen Informationen. Das schwächt ihre Verhandlungsposition.“
Daher fordern Fachleute mehr Datentransparenz, europäische Inhaltsquoten und Investitionsverpflichtungen für globale Plattformen. Unterdessen bleiben traditionelle grenzüberschreitende Koproduktionen das Fundament des europäischen Filmschaffens. „Filmemacher betrachten Koproduktionen als wirtschaftliche Notwendigkeit, um finanzielle Ressourcen zu bündeln und kreativen Austausch zu fördern – aber auch als strategischen Vorteil, um Vertriebsmöglichkeiten und professionelle Netzwerke in Europa und darüber hinaus zu erweitern“, sagte Vlassis. Für die Forscher ist Film ein Bestandteil der strategischen Soft Power der EU und stärkt ihre kulturelle Diplomatie und weltweite Wirkung.
Die nächste Generation inspirieren
Um diesen Herausforderungen der Branche zu begegnen, ist es jedoch entscheidend zu verstehen, wie ein junges Publikum mit dem europäischen Kino interagiert – und was sie trotz der vielen anderen Unterhaltungsmöglichkeiten ins Kino lockt. Die REBOOT-Umfrage unter 4.000 jungen Menschen ergab, dass trotz der Verlockung des Streamings die große Leinwand ihre Magie nicht verloren hat.
„Das Kino hat eine einzigartige Anziehungskraft“, sagte eine 18-jährige befragte Person aus Italien. „Die riesige Leinwand und der Ton schaffen eine Atmosphäre, die zu Hause nicht nachgebildet werden kann.“ Auf den Filmfestspielen von Cannes 2025 präsentierten REBOOT-Forscher erste Erkenntnisse darüber, wie junge Zielgruppen mit dem europäischen Film in Kontakt kommen. Sie haben vorgeschlagen, die Qualität der Synchronisation zu verbessern, die Ticketpreise zu senken und europäische Filme für junge Leute zugänglicher zu machen. Sie betonten außerdem die Notwendigkeit, junge Kreative zu fördern.
Viele junge Europäer drehen und bearbeiten bereits Videos auf ihren Smartphones, haben aber Probleme, in professionelle Netzwerke zu kommen – ein Verlust an frischen Ideen, die die Branche wiederbeleben könnten. Sie warnten, dass bürokratische Fördersysteme es Neulingen oft schwer machen, Projekte in der Anfangsphase auf den Weg zu bringen. Das bedeutet, dass die Filmindustrie nicht regelmäßig mit neuen Ideen versorgt wird, die notwendig sind, um relevant zu bleiben und junge Zielgruppen anzusprechen.
Gleichzeitig bestätigen die Ergebnisse von REBOOT, dass globale Blockbuster zwar eine breite Anziehungskraft haben, aber Filme, die reich an Geschichten und in der sozialen Realität verankert sind – oft Schlüsselmerkmale europäischer Filme – am meisten Anklang finden. „Die durchdachte, langlebige Art des europäischen Kinos setzt sich durch“, sagte Sarikakis. Junge Leute bringen ein mehrsprachiges Leben, globale Perspektiven und kreative Ideen mit. Zusammen mit neuen Technologien ergibt sich daraus ein riesiges Potenzial für die Zukunft der europäischen Filmindustrie.“
Ein Neustart für die Zukunft des europäischen Films
Über die Koproduktion hinaus untersucht das REBOOT-Team auch, wie aufkommende Technologien, digitale Arbeitsabläufe und neue Formen unabhängiger sowie von jungen Menschen geführter Produktionen Europas kreatives Ökosystem verändern und neue Chancen für Zusammenarbeit und Innovation bieten. Entscheidend ist, dass das Team neu definiert, was Wettbewerbsfähigkeit für das europäische Kino bedeutet.
Anstatt Erfolg ausschließlich über Marktleistung zu messen, sieht REBOOT den kulturellen, künstlerischen und gesellschaftlichen Einfluss als zentral für die langfristige Filmstrategie Europas. Wie „Flow“ gezeigt hat, können Geschichten mit Herz und Bedeutung Grenzen überwinden und weltweit Publikum begeistern. Auf Zusammenarbeit, Kreativität und kulturelle Vielfalt gebaut, ist das europäische Kino möglicherweise eines der beständigsten Kunstwerke Europas.
Von Ali Jones
Weitere Informationen
Die in diesem Artikel beschriebene Forschung wurde vom Horizon-Programm der EU gefördert. Die Ansichten der Befragten spiegeln nicht unbedingt die Ansichten der Europäischen Kommission wider. Dieser Artikel wurde ursprünglich in Horizon, dem EU-Magazin für Forschung und Innovation, veröffentlicht.