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Mehr zum Thema / Mario Wasserfaller / Freitag 29.10.21

Taumelnd die Welt erforschen

Seit 1. Oktober leiten Ruth Anderwald und Leonhard Grond das Doktoratsprogramm Künstlerische Forschung (PhD in Art) an der Universität für angewandte Kunst Wien. Angesiedelt ist die Professur am Zentrum Fokus Forschung, das von Alexander Damianisch geleitet wird. APA-Science hat mit den dreien über Methoden, Relevanz und Evidenz der künstlerischen Forschung gesprochen – und warum selbst ein Gefühl des Taumelns zu einem produktiven Element werden kann.
Foto: APA/Wasserfaller

Das Ambiente, in dem Anderwald/Grond künftig Doktoranden betreuen werden, wirkt allemal inspirierend. Das Zentrum Fokus Forschung ist in der Expositur Rustenschacherallee der Angewandten untergebracht. Inmitten einer verschlafenen Grünanlage mit Bäumen, Gartenmöbeln und sogar Bienenstöcken thront ein auffälliger, kantiger Ziegelbau, der einst dem österreichischen Bildhauer Fritz Wotruba (1907–1975) als Atelier diente.

In der meditativen Stille dieser Grünoase im Prater erläutern die beiden, gelegentlich untermalt von profanen Motorsägengeräuschen, ihre Philosophie für das Doktoratsprogramm: “Wir unterrichten gemeinsam und wir haben uns gefreut, dass das Konzept des Co-Teachings oder des gemeinschaftlichen Denkens auch angenommen wurde”, sagt Ruth Anderwald. Auch Leonhard Grond betont die Co-Kreation als wesentlichen Baustein, um „gemeinsam auf Augenhöhe etwas entstehen, entwickeln zu lassen, einen Prozess in Gang zu bringen.”

Das Doktoratsstudium Künstlerische Forschung ist ein postgraduales Studium, das mit dem akademischen Grad „PhD“ abschließt. Jährlich können bis zu acht Doktoranden am sechssemestrigen, englischsprachigen Programm teilnehmen. Laut Webseite liegt der Schwerpunkt auf der künstlerischen Arbeit, die als Basis von Wissensproduktion verstanden wird. Es ist bestimmt von Themen und Praktiken der künstlerischen Forschung.

Ursprünge

Während Anderwald ihre künstlerische Laufbahn mit Malerei und „einer großen Liebe zur Grafik” begonnen hat, war Grond schon auf dem Weg, Profimusiker zu werden – bis er sich doch für Fotografie entschied. Getroffen hat sich das Duo beim experimentellen Film, so Anderwald: „Dieses Denken, das der experimentelle Film mit sich bringt, ist sicher auch etwas, was wir produktiv machen für die künstlerische Forschung.”

Foto: APA/Wasserfaller
Über Anderwald/Grond

 

Künstlerische Praxis und Forschung gehen bei Anderwald und Grond Hand in Hand. Das Duo produziert seit 1999 gemeinsam Filme, Fotografien und Installationen. Ihre Arbeiten waren in namhaften Galerien und Museen von London, Paris, Wien über Tel Aviv bis Schanghai zu sehen.

 

Ins Zentrum ihrer Betrachtungen rücken sie oft Formen des Erinnerns (z.B. beim Umbau des Hauses für Geschichte Österreich) oder die menschliche Wahrnehmung. Seit längerem beschäftigen sie sich etwa intensiv mit dem Thema Taumel (siehe Überblick „On Dizziness” bzw. aktuelles FWF/PEEK-Projekt „Gemeinsam durch den Taumel“). Im Dezember 2020 erhielten sie für ihr künstlerisches Schaffen den Kunstpreis der Stadt Graz. „Aus der Fotografie und dem Experimentalfilm kommend, bearbeiten Ruth Anderwald und Leonhard Grond so konsequent wie kaum eine andere künstlerische Position in Österreich das Feld der künstlerischen Forschung in kreativen und kollaborativen Prozessen“, hieß es in der Jury-Begründung.

Grenzen und Übergänge

Die Grenzen und Übergänge zwischen künstlerischer Praxis und Forschung sind nicht immer trennscharf, sondern kristallisieren sich oft erst im Lauf eines Projekts heraus, weiß Leonhard Grond: „Es gab gewisse Projekte, wo wir gemerkt haben, das geht ganz stark in künstlerische Forschung, auch wenn wir es zu diesem Zeitpunkt noch nicht so benennen konnten.” So geschehen im Verlauf des Projekts „Notizen zu einer Küste“ („Notes on a Coast”) an, an dem sie von 2003 bis 2007 arbeiteten. Mittels einer Unterwasserkamera schossen die Künstler aus dem Wasser heraus Fotos von der bebauten Küste Israels. Auf den Bildern macht es den Anschein, als würden riesige Wellen diese Küste überfluten.

Die im Herzlyia Museum of Contemporary Art ausgestellten Bilder zogen die Aufmerksamkeit eines Verlegers auf sich, der zusätzlich zum Blick auf das Land einen „Blick vom Land“ anregte. Was daraus resultierte, war eine Kombination ihrer Fotos und der ersten Anthologie über hebräische Gegenwartslyrik in deutscher Sprache. Die Arbeit wurde im Jüdischen Museum Wien im Rahmen einer Konferenz und Ausstellung präsentiert. Für Ruth Anderwald ein Schlüsselmoment ihres künstlerischen Schaffens, wurden doch erstmals auch der Kontext und die Gedanken dahinter ausgestellt: „Für uns war das so ein Moment, wo wir das erste Mal gespürt haben: Künstlerische Forschung ist wirklich etwas, was für uns enorm produktiv ist.“

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Der Wissenschaft und Kunst gemein ist für Anderwald „die Neugier und Suche nach einem Inhalt, einem Konzept, einer Idee, ganz generell einem Verstehen von etwas, von Welt.“ Die Unterschiede offenbaren sich in der Art, wie das Verstehen ausgedrückt wird. „Für wen, auf welcher Ebene drücke ich als Wissenschafterin, als Künstlerin dieses Verstehen aus. Die künstlerische Forschung als Hybrid ist deshalb speziell, weil sie so viele Ausdrucksformen nutzen kann. Sie kann einerseits künstlerische, aber auch (…) reflexive, akademische Ausdrucksformen nutzen“, erläutert die Künstlerin. Künstlerische Forschung könne sich also sowohl in Form eines wissenschaftlichen Artikels als auch einer Ausstellungsbeteiligung manifestieren.

Expositur im Prater

Im ehemaligen Atelier von Fritz Wotruba befindet sich das "Zentrum Fokus Forschung" der Angewandten

Alexander Damianisch, Ruth Anderwald und Leonhard Grond draußen...

...und beim Interview

Zentrum Fokus Forschung

An der Angewandten hat künstlerische Forschung eine lange Tradition, weiß Alexander Damianisch, der sowohl den „Support Kunst und Forschung“ als auch das „Zentrum Fokus Forschung” leitet. Als seine Aufgabe sieht er es an, Kolleginnen und Kollegen, die an der Universität im künstlerischen und wissenschaftlichen Bereich arbeiten. bei den unterschiedlichen Projekten und Forschungsagenden Hilfeleistung zu geben. „Ein großes strategisches Anliegen an der Universität ist es, cross-disciplinary, trans- und interdisziplinäre Forschungsprojekte zu unterstützen“, so Damianisch. Dabei sei Flexibilität wichtig, auch im disziplinären, methodischen Zugang.

Für diesen Zugang hat er auch einen Schlüsselsatz parat: „Das, was an der Universität passiert, ist die Unterstützung der Transformation von Verstehen und das Verstehen von Transformation.“ Erkenntnis zu generieren könne in der künstlerischen Praxis bedeuten, zunächst „Irritationen zu evozieren, auf die man dann neu reagieren muss” und auch „den Blick dessen, was man gegenüber hat, anzupassen”. Das Verstehen der Transformation könne man auf die Seite der wissenschaftlichen Forschung setzen. „Was passiert da eigentlich, was sind die Instrumentarien, mit denen hier gearbeitet wird?“ Diese Reflexivität sei auch im künstlerischen Doktoratsprogramm entscheidend, also „explizit kommunizierbar, nachvollziehbar und dokumentierbar voranzubringen, was in den künstlerischen Forschungsprojekten bei den Doktorandinnen und Doktoranden stattfindet“.

Große thematische Palette

Thematisch gibt es bei künstlerisch-wissenschaftlichen Projekten an der Angewandten keine Berührungsängste, wie etwa ein Blick auf die vom Wissenschaftsfonds (FWF) geförderten PEEK-Projekte zeigt: Die Palette reicht hier von „Chirurgische Gesten: Bewegungsforschung im Operationstheater“ (siehe auch „Gezeichnete Körper„) bis „Holzkunst mit Robotern in Architektur und Design“. Gleiches gilt für die künstlerischen Doktorate, ergänzt Damianisch: „Es geht von der Malerei bis zur Game Art, von der digitalen Kunst bis zur Sprachkunst. Alles haben wir darin vertreten.“ Einen Gesamtüberblick über die Aktivitäten der Angewandten im Feld von Kunst und Forschung erlaubt die Dokumentationsplattform „Kunst- und Forschungsdatenbank – Angewandte/basis wien“.

Beweggründe und Erwartungshaltungen

Bleibt die Frage, welche Motivation hinter künstlerischen Forschungsprojekten steht. Was treibt Künstler an, forschend tätig zu werden? Ruth Anderwald erklärt das so: „Wenn wir Wissenschafter/innen aus anderen Disziplinen anschreiben, dann wünschen wir uns ein tieferes Verständnis unseres Forschungsgegenstands – und aus vielen Perspektiven zu betrachten ist Teil einer künstlerischen Praxis, aber auch wiederum Teil einer wissenschaftlichen Praxis, es wird nur anders exerziert.“

Eine Kernaufgabe der Kunst ist für das Künstlerduo, ein Bewusstsein für wichtige Themen in der Öffentlichkeit zu schaffen, wie sie betonen. „Uns ist ganz wichtig (…), dass unsere Forschung immer ein institutionelles Standbein hat, aber dass wir auch hinausgehen“, erklärt Grond. Für das 2017 abgeschlossene Projekt „Der Taumel – eine Ressource“ arbeiteten die Künstler unter anderem mit einer Philosophin, einem Kreativitätsforscher, und einem Rausch- und Risikopädagogen zusammen. Das aktuelle Folgeprojekt „Gemeinsam durch den Taumel“ ist als „Artist’s Novel“ konzipiert, wobei Forschungsprozesse und -ergebnisse in einer Form dargestellt werden, die die Perspektiven der beteiligten Disziplinen und von Citizen Science beinhaltet.

„Bei unserem Projekt um den Taumel geht es darum, Prozesse der Desorientierung, der Verlorenheit, des sich verloren Fühlens als produktives Moment zu verstehen beziehungsweise die Dynamiken, die zu einem produktiven Ergebnis führen könnten, herauszuarbeiten, Methoden, Leitlinien dafür zu erarbeiten“, so Anderwald. „Das geht dann in die Praxis hinaus, und wir glauben, dass es auch die Stärke der künstlerischen Forschung ist, diese Felder zusammenzuführen – und zwar institutionelle und nicht-institutionelle Arbeitsbereiche“, erzählt Grond über die Absicht ihrer Forschungen.

Methoden…

Welche Methoden in einem künstlerischen Forschungsprojekt angewendet werden, hängt natürlich vom jeweiligen Gegenstand ab. Grundsätzlich gibt es verschiedene Herangehensweisen, erklärt Anderwald: „Eine Möglichkeit ist Practice Lead – oder Theory Lead. Also gehe ich von einer Theorie aus, möchte ich da etwas erreichen, oder gehe ich von einer Praxis aus und möchte mir die anschauen.“ Methodenentwicklung sei vielleicht sogar die Stärke von künstlerischer Forschung, „weil die Methoden natürlich ganz stark mit beeinflusst werden von den jeweiligen Disziplinen, die beteiligt sind“. Idealerweise würden sich wissenschaftliche Methoden durch künstlerisches Denken weiter entwickeln und selbiges durch wissenschaftliche Denkmuster beeinflussen: „Diese gegenseitige Beeinflussung (…) kreiert einen dynamischen und durchaus auch widersprüchlichen und konfliktreichen Prozess, der aber sehr produktiv werden kann.“ Der künstlerische Arbeitsprozess bedingt für Leonhard Grond auch, dass man nicht immer wisse, wohin es geht: „Man ist einem ständigen Methodenwechsel ausgesetzt.“

…und Evidenzen

Bei einem wissenschaftlichen Projekt lässt sich der Erfolg idealerweise als konkrete Evidenz bemessen. Wie verhält es sich damit in der künstlerischen Forschung? „Eine ganz konkrete und eigentlich die wichtigste Rolle spielt das Kunstwerk“, sagt Leonhard Grond. Während das Ziel in rein wissenschaftlichen Projekten oft klarer umrissen scheint – einen Wirkstoff gegen eine Krankheit finden, einen effizienteren Motor entwickeln –, zielen auch künstlerische Forschungsprojekte auf einen definierbaren Nutzen ab, auch wenn sich dieser oft erst im Entstehungsprozess oder danach offenbaren mag. „Auch in der Grundlagenforschung haben wir nicht immer unmittelbare Antworten auf diese sehr fokussierten Herausforderungen, wie sie sich im wissenschaftlichen Feld zeigen“, wirft Damianisch ein. Relevanz und Evidenz von Forschung könne sich oft erst nach Jahrzehnten offenbaren.

„Eine ganz konkrete und eigentlich die wichtigste Rolle spielt das Kunstwerk." Leonhard Grond

Themen als Spiegel der Zeit

Seit im Universitätsgesetz (UG) 2002 die „Entwicklung und Erschließung der Künste“ sowie die „Verbindung von Wissenschaft und Kunst“ Teil der leitenden Grundsätze wurden, hat sich die künstlerische Forschung mit zahllosen Motiven befasst, die immer auch ein Spiegel der Zeit sind. „Es ist definitiv so, dass es hier Trends gibt“, sagt Damianisch. Momentan sei im künstlerischen Bereich ein großes Interesse zum Thema Nachhaltigkeit erkennbar, aber auch in Richtung Achtsamkeit, Wahrnehmung und individuelle Reflexion: „Der Körper als performative Kraft – wie bin ich, wer bin ich – diese Positionierung ist gerade auch sehr wichtig.“ Aus Gesprächen mit Künstlerinnen und Künstlern leitet Damianisch im Kontext des Social Design vier Strömungen ab, die sich mit Materialität, Instrumentalität, Performativität und Interaktivität umreißen ließen.

Wiewohl sich mit diesen Punkten viel zuordnen lasse, sei es wichtig, methodenoffen zu bleiben „und nicht zu stark auf irgendwelche Clusternarrative im Sinne der Grand Challenges zu gehen“, die zwar ein gesellschaftliches Bedürfnis ausdrücken, aber auch politisch vorgegeben werden. Diese großen Herausforderungen seien zwar gute Ansatzpunkte, um weitere Schritte zu setzen, aber mit einer Einschränkung: „Gleichzeitig muss man die Freiheit der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung ganz offen und breit halten.“

„Unsere Sicht der Dinge wäre, dass das auch den weltpolitischen Entwicklungen folgt“, ergänzt Anderwald zu den thematischen Auseinandersetzungen der Gegenwart– von Klimakrise über (Öko-)Feminismus bis Migration. Am Ende könnten drei zentrale Bereiche als Kristallisationspunkte zeitgenössischer künstlerischer Forschung stehenbleiben: „Was bedeutet Gemeinschaft – unter Menschen, Gemeinschaft mit belebten und nicht belebten Lebensformen.“

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