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Mehr zum Thema / Katharina Dolesch / Dienstag 23.08.22

Über belastete Straßennamen und aussterbende Zeitzeugen

In der heutigen Zeit spielt Erinnerungskultur eine immer größere Rolle und rückt zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit. Besonders die Zeit des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus haben sich in das kollektive Gedächtnis unserer Gesellschaft eingebrannt. Großeltern und Urgroßeltern können noch vereinzelt über diese Zeit berichten, dennoch steht man vor dem Problem, dass Zeitzeugen allmählich “aussterben” - befinden sich diese geringstenfalls im hohen Alter von rund neunzig Jahren.
Foto: APA/dpa Rosen und Holzkreuze mit der Aufschrift "in Remembrance"

Die Zeithistorikerin Barbara Stelzl-Marx gibt zu bedenken, dass der Verlust der Zeitzeugenschaft nur schwer zu kompensieren sei. Im Gespräch mit APA-Science zeigt die Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung (BIK) und Professorin für europäische Zeitgeschichte an der Uni Graz Alternativen zu Zeitzeugeninterviews und die möglichen Auswirkungen und Veränderungen für Forschung und Gesellschaft auf.

Generell ist es so, dass der Verlust von Zeitzeugen schwer zu kompensieren ist. Das sind Berichte aus erster Hand; wenn diese Zeitzeugen nicht mehr zur Verfügung stehen, dann verliert die Erinnerung an Unmittelbarkeit. Barbara Stelzl-Marx über den Verlust von Zeitzeugen

Durch den größer werdenden Abstand zum Zweiten Weltkrieg und der damit verbundenen Tatsache, dass zunehmend weniger Zeitzeugen zur Verfügung stehen, sei die Wertschätzung von Zeitzeugen in den vergangenen Jahren enorm angestiegen. Galten diese vor noch wenigen Jahrzehnten vielfach als “wertlos” für die Wissenschaft, bildet heutzutage die Erfahrungsgeschichte neben der Faktengeschichte einen Schwerpunkt – so auch am Institut für Kriegsfolgenforschung. Dort werden zahlreiche Forschungsprojekte mit Zeitzeugeninterviews umgesetzt. 

Barbara Stelzl-Marx im Gespräch mit APA-Science (Foto: Katharina Dolesch)
Forschungsprojekte mit Zeitzeugeninterviews

Schon seit der Gründung des Instituts im Jahr 1993 werden hier Forschungsprojekte mit Zeitzeugeninterviews durchgeführt. Der erste am Institut behandelte Schwerpunkt war das Thema österreichische Kriegsgefangene in der Sowjetunion: “Bereits bei diesen ersten Projekten haben wir Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geführt, das heißt, wir haben am Institut von Anfang an versucht, einerseits schriftliche Quellen, insbesondere Archivdokumente, heranzuziehen und zu analysieren. Andererseits auch mit Zeitzeugen ins Gespräch zu kommen und ihre Erinnerungen zu erfahren”, erklärt Stelzl-Marx. 

Obwohl die Erinnerungen von Zeitzeugen oftmals in erster Linie mit dem Zweiten Weltkrieg in Verbindung gebracht werden, müssen diese nicht unweigerlich hohen Alters sein. Neben Projekten zum Zweiten Weltkrieg wurden am BIK etwa auch Forschungen mit Zeitzeugeninterviews zu zeitlich weniger weit zurückliegenden Bereichen durchgeführt, wie beispielsweise zum Wiener Gipfel 1961, zum Prager Frühling 1968 oder zum Zerfall der Sowjetunion 1991. 

Ein Projekt mit Zeitzeugen, das Stelzl-Marx bei ihrer bisherigen Arbeit besonders am Herzen liegt, ist jenes zu Besatzungskindern in Österreich, das heißt, zu Nachkommen österreichischer Frauen und alliierter Soldaten in der Zeit von 1945 bis 1955. Dieses entwickelte sich aus einem internationalen Forschungsprojekt zur Roten Armee in Österreich heraus, als sich sowjetische Besatzungskinder an das Institut wandten: “Mich hat das Thema sofort fasziniert, weswegen ich es gleich aufgegriffen habe”, erklärt sie das Zustandekommen des Forschungsschwerpunkts. Vor allem Interviews spielten bei der Erforschung eine zentrale Rolle: “Das ist ein Thema, bei dem schriftliche Quellen eher spärlich vorhanden sind und bei dem die Interviews eine wesentliche Quelle darstellen”, so Stelzl-Marx. 

In einem aktuellen Projekt, das vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank, dem Zukunftsfonds der Republik Österreich und dem Land Niederösterreich gefördert wird, widmet sich das BIK der Erforschung des ehemaligen Lebensbornheims Wienerwald, in dem zwischen 1938 und 1945 mehr als 1.200 “rassisch wertvolle” Kinder geboren wurden. Im Zuge dessen wurden auch Interviews mit den im Heim geborenen Lebensborn-”Kindern”, die heute zwischen 77 und 84 Jahren alt sind, geführt. Diese Lebensborn-”Kinder” werden am 20. September 2022 im Zuge einer Podiumsdiskussion im Haus der Geschichte Niederösterreich erstmals in der Öffentlichkeit auftreten und über ihre Erfahrungen sprechen.

Auschwitz-Überlebender mit Gürtel, den er im KZ bei sich hatte (Foto: APA)
Generierte Quellen

Die Zeitzeugeninterviews sind für die Forschung hauptsächlich aus zwei Gründen wertvoll. Einerseits dienen sie, so Stelzl-Marx, als Ergänzung zu anderen Informationen oder in manchen Fällen sogar als einzige Quelle. Andererseits sind sie besondere Quellen, da sie erst während des Forschungsprozesses generiert werden. 

 

Eine interessante Rolle spielen Zeitzeugeninterviews, wenn verschiedenen Erinnerungskulturen aufeinandertreffen, wie das beispielsweise in mehreren am BIK durchgeführten Projekten über die sowjetische Besatzung in Österreich der Fall war.

Die Zeithistorikerin erklärt, dass im kollektiven Gedächtnis der österreichischen Bevölkerung die Rote Armee mit vorwiegend negativen Assoziationen, wie “Plünderungen, Vergewaltigungen, Verschleppungen”, konnotiert sei, während rund 50 interviewte ehemalige Rotarmisten, die Besatzungssoldaten in Österreich gewesen waren, durchwegs positiv über die Besatzungszeit in Österreich sprachen:

 

“Für diese Gesprächspartner war das hingegen eine ganz positive Erfahrung in ihrem Leben, die sie etwa mit folgenden Topoi in Verbindung brachten: Kriegsende, Wien, Strauss, Walzer, junge Mädchen usw. Also eine sehr schöne, freie Zeit, in der sie zum ersten und zum Teil auch zum letzten Mal die Möglichkeit hatten, über den kommunistischen Tellerrand hinauszuschauen und in eine westliche, kapitalistische Welt einzutauchen. Für das österreichische Projektteam war dies gewissermaßen eine Überraschung, weil wir aus österreichischer Perspektive an dieses Projekt herangegangen waren und dann gesehen haben, dass die Besatzungszeit von der ehemals sowjetischen Seite her ganz anders eingeschätzt wird.” 

Aber das Schöne ist, dass die [Zeitzeugeninterviews] wirklich aus der Forschung heraus entstehen und dass der ganz persönliche und zum Teil schon fast private Kontakt zu den Zeitzeugen da ist. Das ist etwas, das mag ich persönlich sehr gerne. Barbara Stelzl-Marx über das Führen von Zeitzeugeninterviews

Der allmähliche Verlust der Zeitzeugenschaft führt gleichzeitig auch zum Verlust des “lebendigen, direkt kommunizierbaren Gedächtnisses”, was die Frage nach der Zukunft von Forschungsprojekten mit Zeitzeugeninterviews aufwirft. Die Zeithistorikerin geht davon aus, dass dies dazu führen wird, dass man zunehmend bereits vorhandene Interviews digitalisiert, archiviert und analysiert, falls dies nicht bereits erfolgt ist.

Eine weitere Alternative sei der Einsatz von neuen Technologien: “In Amerika zum Beispiel verwendet man in der Vermittlung vermehrt moderne Technik, wie etwa Hologramme im Holocaust-Museum, bei denen Survivor-Stories von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen über Hologramme gezeigt werden und fast der Eindruck entsteht, dass man live mit dieser Person spricht”, informiert Stelzl-Marx und ergänzt, dass man insbesondere durch den Einsatz von modernen Technologien “neue Wege” finden werde, um das Wegfallen der Zeitzeugen zu gewissen Epochen zu kompensieren. 

Journalist Hugo Portisch während einer Aufzeichnung der Dokumentation "Österreich II" (Foto: APA)
Alte und neue Wege

Auf die Beforschung von gewissen Aspekten des Zweiten Weltkriegs müsse demnach in Zukunft nicht verzichtet werden. Am BIK werde beispielsweise ein Projekt in Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und gefördert vom Zukunftsfonds und dem Land Niederösterreich zur Erschließung des Interviewbestandes von Hugo Portisch durchgeführt: “Diese vielen, vielen Zeitzeugeninterviews, die von Hugo Portisch für seine Dokumentationen Österreich I und II geführt, und nur auszugsweise für die TV-Dokumentation verwendet worden sind, sollen für die Forschung und Öffentlichkeit erschlossen werden”, erklärt die Wissenschaftlerin des Jahres 2019. 

 

Durch die Erforschung verschiedener zeithistorischer Themen werden laufend neue Erkenntnisse – zum Teil auch durch Gespräche mit Zeitzeugen – gewonnen. Die Forschung prägt daher Erinnerungskulturen und ganze Gesellschaften: “Manche Themen werden erst durch die Forschung sichtbar gemacht, zum Teil gemeinsam mit den Medien oder zivilgesellschaftlichen Initiativen. Ein Beispiel ist das Lager Liebenau in Graz, das nun einen fixen Bestandteil in der Erinnerungskultur der Landeshauptstadt hat.

Andere Themen werden durch die Forschung enttabuisiert und führen zu einem neuen Umgang, Stichwort: Besatzungskinder in Österreich”, wie Stelzl-Marx ausführt. Das Lager Liebenau war während des Zweiten Weltkriegs das größte NS-Zwangsarbeiterlager in Graz und eine Zwischenstation ungarischer Juden auf ihren ‘Todesmärschen’ ins KZ Mauthausen. Nach Beendigung des Liebenauer Prozesses durch ein britisches Militärgerichts 1947 geriet das ehemalige Lager in Vergessenheit und gelangte erst in den vergangenen Jahren wieder in den Fokus der Öffentlichkeit. 

Aufstellung von Zusatztafeln in Graz (Foto: Stadt Graz)
Erinnerungskultur in der Öffentlichkeit

Gewisse Themen, die von der Forschung sichtbar gemacht werden, fließen auch in den öffentlichen Diskurs ein, wie aktuell die Debatte über die Umbenennung belasteter Straßennamen in einigen Städten Österreichs. Die Benennungen, Rückbenennungen oder Umbenennungen geben laut Stelzl-Marx Aufschluss über den Umgang einer Gesellschaft mit ihrer jeweiligen Geschichte.

 

In Graz wurde beispielsweise eine Expertenkommission an der Uni Graz unter der Leitung von Stefan Karner und Karin Schmidlechner ins Leben gerufen, die die rund 750 personenbezogenen Straßennamen prüfte, wovon sich rund 80 als belastet und davon wiederum rund 20 als schwer belastet herauskristallisierten. 

 

Wie man mit belasteten Straßennamen umgeht, ist eine politische Entscheidung, so Stelzl-Marx. Der Gemeinderat wählte in Graz letztendlich den Zugang der Anbringung von Zusatztafeln bei sämtlichen personenbezogenen Straßennamen, nicht nur den belasteten. Es geht bei den Zusatztafeln um eine Schärfung des Bewusstseins der Bevölkerung und das Informieren über die jeweilige Person, nach der eine Straße benannt ist. Zusätzlich zu den Zusatztafeln entschloss man sich auf Initiative der Grünen, zwei Straßen und eine Verkehrsfläche mit Diskussionsbedarf umzubenennen. 

Stelzl-Marx führt aus, warum in den vergangenen Jahren verhältnismäßig wenige Straßennamen in Österreich oder auch in Deutschland eine Umbenennung erhielten: “Meist werden funktionalistische Argumente vorgebracht, das heißt, praktische Gründe wie Kosten oder der Mehraufwand der Anrainer, die gegen eine Umbenennung sprechen. Oder auch das didaktische Argument, das besagt, wenn etwa eine Straße umbenannt oder ein Denkmal entsorgt wird, dann wird damit gewissermaßen auch die Geschichte entsorgt. Deswegen entscheiden sich viele öffentliche Stellen primär für eine Kontextualisierung.” 

Der Historiker Peter Pirker weist in diesem Kontext auf die Problematik dieser Argumentation hin: “Ich bin dagegen, dass man sagt, Umbenennungen sind nicht angebracht, weil es eine Auslöschung der Erinnerung wäre, eine Art Cancel Culture. Ich finde, der Vorwurf der Cancel Culture wird mittlerweile dazu verwendet, die Reflexion auf solche Erinnerungspraktiken der Namensgebung irgendwie beiseitezuschieben. Das wird mittlerweile auch als Scheinargument verwendet.” Er selbst beschäftigte sich im Zuge eines Forschungsprojekts mit der sichtbaren Erinnerungskultur in Wien. Pirker untersuchte hierfür errichtete Erinnerungszeichen zur politischen Gewalt des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus, die dann in einer digitalen Karte der Erinnerung für Wien gesammelt wurden. Mehr dazu im Beitrag Baustellen des Erinnerns. 

Neben Straßennamen wird Erinnerungskultur im öffentlichen Raum durch viele andere Zeichen sichtbar. Stelzl-Marx verweist dabei auf Denkmäler, Museen, Gedenkstätten, Gräber, Erinnerungstafeln, Auszeichnungen, Jubiläen, Feste, Sonderbriefmarken etc. und fügt hinzu, dass all dies “geschichtskulturelle Produkte von Erinnerungskulturen” seien. 

Der 24. Februar 2022 geht sicherlich als Zäsur in die Geschichte ein. Es wird wahrscheinlich einer von diesen Tagen sein, wenn man in 30 Jahren gefragt wird, was hast du an diesem Tag gemacht, dann wird man das noch wissen. Das ist auch etwas, das die Gesellschaft in Österreich gesamt prägt. Barbara Stelzl-Marx über den Ukraine-Krieg

Schließlich würde auch der momentan in der Ukraine stattfindende Krieg unsere Gesellschaft prägen und in unsere Erinnerungskultur einfließen. Dies geschieht laut der Zeithistorikerin einerseits aufgrund der vielen Medienberichte und andererseits, weil eine subjektiv gefühlte Bedrohung vorhanden ist: “Da sieht man jetzt in Österreich, wie viele Menschen durch diesen Krieg und die Folgen des Krieges – da sind wir wieder bei der Kriegsfolgenforschung – betroffen sind und was das mit den Menschen macht”, resümiert die Leiterin des BIK und erklärt, mit der Forschung zur Zwangsmigration als Kriegsfolge auf dieses aktuelle Thema reagieren zu wollen – auch mit Zeitzeugeninterviews. 

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