Wie ein Spionageverdacht dem IIASA zu globalem Stellenwert verhalf
Das Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg (NÖ) wurde 1972 als zentrale Drehscheibe zur wissenschaftlichen Kooperation im Dienste der Entspannungspolitik im Kalten Krieg gegründet. Von einer „Spionageaffäre“, die sich als „Nonsense“ entpuppte und dem Institut doch zu globaler Relevanz verhalf, sowie dem Spannungsverhältnis zwischen Politik, Wissenschaft und Diplomatie, berichtete Zeithistoriker Oliver Rathkolb gegenüber APA-Science.
„Die Idee war, einen Netzwerkknoten in Europa zu etablieren, wo es möglich ist, dass sich amerikanische und westliche Wissenschafterinnen und Wissenschafter mit sowjetischen treffen können“, sagte Rathkolb. Realisiert wurde sie von der österreichischen Regierung unter Bundeskanzler Bruno Kreisky, auf der Basis von älteren Planungen von Politikern der US-amerikanischen Kennedy-Administration im Verbund mit großen Forschungsinstitutionen wie dem MIT oder RAND und u. a. finanziert von Ford- und Rockefeller Foundation. Auch eine Reihe staatlicher Partner wie die USA, die Sowjetunion und Großbritannien waren federführend beteiligt.
Möglichen Atomkrieg verhindern
Das Ziel des Unternehmens war wissenschaftliche Kooperation, die auch zur Entspannungspolitik zwischen den Blöcken beitragen und einen möglichen Atomkrieg verhindern sollte. „Man muss sagen, dass das mit nachhaltigem Erfolg gelungen ist“, erklärte Rathkolb. Wie wissenschaftliche Interaktionen am IIASA und dem Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM) die Entspannungspolitik gestützt haben und auch nach Ende des Kalten Krieges aufgrund der vorhandenen Netzwerke eine Basis geschaffen haben, die Transformation im ökonomischen und politischen Bereich zu unterstützen, erforschen Rathkolb und sein Team aktuell im FWF-Projekt „Expert Clearing Houses’ in Vienna as Transfer Hubs of Ideas“.
Das IIASA sei zudem bemerkenswert, da schon in den 1970er Jahren Themen untersucht wurden, die immer noch höchst relevant sind – wie etwa Fragen zum Klima oder der Ernährung. Außerdem sei die Forschung immer mit Hochtechnologie verbunden gewesen. „Der Versuch hier Wissenschaftsdiplomatie zur Entspannungspolitik zu betreiben hat also neben einer Basis für globale Netzwerke Forschender auch ganz konkret die technische Basis für große Computermodelle gelegt“, sagte Rathkolb.
Interessanterweise waren Sicherheitsbedenken bei der Gründung des Instituts, auch wegen des politischen Klimas der 1970er Jahre, kein Thema gewesen, wie der Historiker erklärte. Erst später erschienen jene angesichts geopolitischer Veränderungen auf der Bildfläche: Die Reagan-Administration strebte in den 1980ern nicht mehr eine Entspannungspolitik an – vielmehr wurde der Kalte Krieg massiv verschärft. „Österreich wurde auch gezwungen für Technologien oder Produkte, die amerikanische Patente beinhaltet haben, Ausfuhrerlaubnisse aus Washington D.C. einzuholen“, sagte Rathkolb. Das habe die Souveränität der österreichischen Wirtschaft massiv eingeschränkt.
Beschaffung von Infos für Moskau
Am IIASA hat der Physiker Arkadi Belozerov, der dort schon seit Institutsgründung als Forscher gearbeitet hatte, 1979 die Zuständigkeit für die Außenbeziehungen übernommen. 1981 war er in die Beschaffung von Informationen für Moskau über die damals schon sehr wichtigen Erdölbohrungen vor der Küste Norwegens involviert. „Aber diese Spionagegeschichte hat das IIASA gar nicht betroffen – das war ja das Skurrile!“, so Rathkolb (links im Bild).
Belozerov wurde der „maßlos übertriebene“ Vorwurf gemacht, sich über die noch sehr einfachen Datenleitungen der IIASA Zugriff auf streng geheime Datenbanken der US-Amerikaner verschafft zu haben, wie der Historiker erklärte. 1984 habe sich dann auch in einem Kongressausschuss herausgestellt, dass die Vermutungen haltlos gewesen sind. „Trotzdem sind die USA offiziell deswegen ausgetreten – Zusammenarbeit auf wissenschaftlicher Ebene war für sie in der Zeit von Konfrontations- und Aufrüstungspolitik einfach nicht mehr vorstellbar“, sagte Rathkolb. Auch England stellte unter US-amerikanischen Druck die Förderungen ein.
„Als das Institut rasch expandierte, diskutierten viele von uns jungen Kolleginnen und Kollegen oft darüber und fragten uns, wer am IIASA für sein Heimatland spionieren könnte“, erinnerte sich Nebojsa Nakicenovic, der 1973 als junger Wissenschafter dem IIASA beigetreten ist und später als stellvertretender und amtierender Generaldirektor tätig war. Die Spionagevorwürfe der Reagan-Administration hatten wie eine Bombe eingeschlagen: „Viele Wissenschafterinnen und Wissenschafter mussten gehen, das Institut hätte fast nicht überlebt. Ich persönlich hatte das Glück, dass meine Forschung von der Bundesrepublik Deutschland finanziert wurde“, so Nakicenovic.
Stärkerer Fokus auf private Mittel
„Rückblickend müsste das IIASA eigentlich bald eine große Gedenktafel für Ronald Reagan enthüllen“, scherzte Rathkolb. Denn erst durch den Austritt der USA (hier findet sich ein diesbezügliches Schreiben von Ronald Reagan) war das Institut gezwungen, viel mehr private Mittel internationaler Forschungsfonds und Stiftungen zu gewinnen. Und noch wichtiger: Das Institut habe sich von der Ost-Westausrichtung wegbewegt und sei globaler geworden. So hat man begonnen, Partner aus dem sogenannten globalen Süden wie beispielsweise Brasilien aufzunehmen. „Provokant gesagt: Das IIASA verdankt seinen globalen Stellenwert Ronald Reagan, obwohl an dem Spionageskandal, was die Institutsarbeit betrifft, absolut nichts dran war“, so der Historiker. Im Jahr 1994 hatte Bundeskanzler Vranitzky dann eine Ministerkonferenz einberufen, um die Zukunft des IIASA in einer nun unipolaren Welt zu besprechen, wie Nakicenovic erklärte. Das Ergebnis war die Bestätigung eines erneuerten, weltweit tätigen Instituts, dem Mitglieder aus China, Korea, Indien, Ägypten und vielen anderen Ländern, sowie seit kurzem auch Iran und Israel, angehören. Russland und die Ukraine sind nach wie vor aktive Mitglieder.
Klimamodelle ohne russische Daten sinnlos
Im Hinblick auf aktuelle geopolitische Entwicklungen und Sicherheitsbedenken rät Rathkolb zur Differenzierung: „Es zahlt sich aus, auch in Zeiten ideologischer Konfrontation oder von Sanktionen gewisse Kooperationsbeziehungen zu erhalten. Genau das arbeiten wir im Forschungsprojekt historisch auf.“ Das betreffe das IIASA aktuell auch im Hinblick auf den Angriffskrieg, den Russland seit 2022 in der Ukraine führt. Zwar könne es zu sozialen und emotionalen Schwierigkeiten kommen, wenn Forschende aus den beiden Ländern aufeinandertreffen – „aber man sitzt ja nicht mit den Ländern am Tisch, sondern mit Individuen. Außerdem machen etwa die Klimamodelle des IIASA ohne russische Daten nicht viel Sinn“, sagte Rathkolb.
Die schwierigste Frage sei vielmehr der Umgang mit China, einem technologisch wesentlich weiter entwickelten totalitären Regime, das im Bereich von Forschung und Lehre gigantische Mittel umsetzt. Gerade in heiklen Technologiebereichen wie der Quantenphysik und damit einhergehenden Ver- und Entschlüsselungstechnologien mahnte Rathkolb zur Vorsicht: „Es ist eine Gratwanderung, wo Forschende und Institutionen wohl von Fall zu Fall entscheiden müssen – holzschnittartige Verfahren und schwarze Listen sind da meiner Ansicht nach nicht so geeignet.“
„Ich bin davon überzeugt, dass die junge Generation von Forschenden die wissenschaftlichen Grundlagen schafft, um die vielfältigen Herausforderungen zu bewältigen, mit denen die Welt konfrontiert ist: Polykrisen, Konflikte und Kriege“, sagte Nakicenovic (links im Bild). „Trotz aller Unterschiede ist die Sprache der Wissenschaft universell. Die IIASA-Gemeinschaft und ihre Netzwerke können in diesen schwierigen Zeiten einen entscheidenden Beitrag leisten, und zwar auf dem Weg vom Silo-Denken zu einem integrativen, interdisziplinären, systemischen und ganzheitlichen Ansatz.“