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Porträt

Gedanken machen mobil

Gernot Müller-Putz, Leiter des Instituts für Neurotechnologie der Technischen Universität Graz
Foto: Lunghammer/TU Graz

Menschen, die ihre Gliedmaßen nicht mehr bewegen können, sind in ihrer Lebensqualität schwerstens eingeschränkt. Am Institut für Neurotechnologie der TU Graz lässt Gernot Müller-Putz mithilfe von Gehirnströmen Computer und Armroboter arbeiten, um Personen mit schwerer körperlicher Beeinträchtigung wieder den „Zugriff“ auf die Außenwelt zu ermöglichen. Wichtig ist den Grazer Forschenden, dass die Steuerung der Neuroprothesen und Endgeräte ohne Operation am Gehirn möglich wird.

BCI weckt Hoffnungen

„Der Mensch denkt, die Maschine lenkt“: So lässt sich, stark vereinfacht, das Prinzip des „Brain Computer Interface“ (BCI) umschreiben. Die Vision begeistert Wissenschafterinnen und Wissenschafter seit den 1970er-Jahren und weckt etwa für Menschen mit motorischen Beeinträchtigungen Hoffnungen auf mehr Selbstständigkeit im täglichen Leben: BCI sollen motorische Funktionen ersetzen, wiederherstellen, verbessern und erweitern. Am Grazer Institut beschäftigt man sich seit 30 Jahren mit der Thematik.

Ahnengalerie zeigt Forschungserfolge

Wer Müller-Putz in der Stremayrgasse 16 besucht, wird in einem Besprechungszimmer mit „Ahnengalerie“ empfangen: Mehr als 30 Porträtfotos junger Forschender der TU mit Nennung der Forschungsarbeit hängen an der Wand hinter ihm: „Hier sind die Doktorandinnen und Doktoranden des Instituts verewigt. Da sieht man sehr schön, was wir in den vergangenen Jahrzehnten weitergebracht haben“, so der Institutsvorstand im Gespräch mit APA-Science.

Die BCI-Arbeitsgruppe der TU Graz rund um Gernot Müller-Putz genießt europaweit und international hohes Ansehen: Sein Team zählt zu den führenden europäischen Forschungsgruppen auf dem Gebiet der computergestützten Interpretation von Hirnströmen und ihrer „Übersetzung“ in elektronische Impulse für Prothesen, Roboterarme und Kommunikationsprogramme. Das Denken an die Bewegung soll in eine tatsächliche Bewegung umgesetzt werden. Weltweit zähle man zu den konstantesten und größten Gruppen, freut sich der Experte, der sich selbst seit mehr als 20 Jahren mit der Thematik auseinandersetzt. „In den vergangenen 20 Jahren haben wir acht große internationale BCI-Konferenzen organisiert“, führt der Forscher an.

Förderpreis für „Feel your Reach“

2015 hat Müller-Putz vom European Research Council (ERC) den Consolidator Förderpreis für das Projekt „Feel your Reach“ bekommen. Es soll die Steuerung von Neuroprothesen und robotischen Armen, die lediglich von Willensimpulsen aus dem Gehirn ihres Trägers angetrieben werden, verbessern. Für Personen mit Handicaps ergeben sich daraus neue Perspektiven für mehr Selbstständigkeit im täglichen Leben. Zuletzt ist es den Forschenden sogar gelungen, aus menschlichen Hirnsignalen die Absicht einer kontinuierlichen Bewegung auszulesen.

Die Imagination von Bewegungen könne laut dem Grazer Wissenschafter ausreichen, um Hirnaktivität messbar zu verändern: „Die bloße Vorstellung, einen Arm zu heben, ändert messbar die elektrische Hirnaktivität“, erklärt der Professor für Semantische Datenanalyse an der TU Graz. BCI beruhen auf der Idee, hirnelektrische Signale, die von der Schädeloberfläche aus gemessen werden, in technische Steuerungssignale umzuwandeln. So könnten künftig etwa Smartphones oder die Arbeitsumgebung gesteuert werden. Die BCI-Forschung entwickelt sich in den vergangenen Jahren rasant und erschließt immer neue Anwendungsfelder. „Der Fokus unserer Arbeit liegt im medizinischen Bereich“, betont Müller-Putz. Die Grazer Forschergruppe will damit die durch Querschnittslähmung eingeschränkten Funktionen der Hand – also etwa das Greifen – bis hin zur Bewegung eines ganzen Arms ersetzen.

Müller-Putz legt dazu ein wichtiges Tool auf den Tisch. Auf den ersten Blick würde man es für eine Badekappe halten. Es ist eine Elektroden-Haube, die dafür sorgt, dass die Hirn-Computer-Kommunikation unblutig – ohne direkten Eingriff ins Gehirn – verläuft. Sie misst mit ihren bis zu 64 Elektroden mittels EEG (Elektroenzephalogramm) Änderungen der Gehirnstrommuster.

„Wir messen an der Kopfhaut und nicht direkt im oder am Gehirn. Der Vorteil ist, dass wir Experimente jederzeit machen können. Das könnten wir nicht, wenn wir experimentell in die Neurochirurgie gehen würden“, betonte der Elektro- und Biomedizintechniker. Zugleich sei es eine große Herausforderung, denn die Signale sind sehr schwach und das Rauschen hoch, schildert der Wissenschafter. Die richtig detektierten Signale können in Steuersignale umgesetzt und gezielt verwendet werden, um damit beispielsweise einen Arm zu bewegen.

Wissenschafter „von Anfang an“

Wissenschafter wollte der gebürtige Oberösterreicher (48) „von Anfang an“ werden: „Eigentlich schon seit der Volksschule, auch wenn ich damals noch keine Vorstellung davon hatte, wie ich es angehen sollte“, blickte der Forscher, der nun auch das Amt des Vizedekans der Fakultät für Informatik und Biomedizinische Technik bekleidet, verschmitzt zurück.

 

Geboren wurde er 1973 – übrigens im selben Jahr, in dem der Computerwissenschafter Jacques Vidal, Professor an der University of California (UCLA), die grundlegenden Prinzipien und den Begriff „Brain-Computer-Interface“ prägte und die ersten Publikationen dazu veröffentlichte, wie Müller-Putz weiß.

An der HTL Steyr hatte er dann einen Lehrer, der für ihn im Bereich der Signalmessung und der biomedizinischen Anwendungen wegweisend war und ihn motivierte. „Es war damals klar, dass man dafür nach Graz zum Studieren geht“, sagt Müller-Putz. „Ich habe lange ohne Berufsbild studiert, ich habe auf meine Intuition gehört und das verfolgt, was mich interessiert hat“, erzählt er. Im vorletzten Studienjahr stand dann fest, dass es in Richtung Robotersteuerung mithilfe von Gedanken gehen wird. Mit eben diesem Thema hat er sein Studium der Elektro- und Biomedizinischen Technik im Jahr 2000 abgeschlossen. Der Abschluss des Doktoratsstudiums in Elektrotechnik folgte 2004 und seine Habilitation im Fach Medizinische Informatik 2008.

Seit 2011 leitet Müller-Putz das Institut für Neurotechnologie und seit 2014 ist er Universitätsprofessor für Semantische Datenanalyse. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich der Biosignalanalyse, EEG-basierter Neuroprothesensteuerung, Kommunikation mit BCI bei Menschen mit eingeschränktem Bewusstsein, hybride-BCI-Systeme, dem menschlichen somatosensorischen System und in der Neuro-Informationsystemsforschung.

Teilnahme am „Cybathlon“

2016 hat das von Müller-Putz ins Leben gerufene Grazer BCI-Studierendenteam „Mirage91“ am ersten „Cybathlon“ – dem von der ETH Zürich initiierten Assistenztechnologie-Weltcup – teilgenommen. In der Disziplin „BCI Race“ steuerte ein seit einem Schlaganfall motorisch schwer eingeschränkter Proband, der von den Studierenden trainiert wurde, in einem „virtuellen Rennen mit Gedankensteuerung“ am PC einen Avatar durch Gehirnsignale ins Ziel. Im Herbst 2019 hat Müller-Putz die „Cybathlon BCI Series” ins Leben gerufen und BCI-Teams aus aller Welt an der TU Graz gegeneinander antreten lassen.

Müller-Putz hat bereits mehrere internationale BCI-Projekte durchgeführt und geleitet. Für die von ihm koordinierte Forschung an einer gedankengesteuerten Neuroprothese für querschnittgelähmte Menschen im dreijährigen EU-Projekt „More Grasp“ erhielt er 2019 auch den „Steirischen Wissenschaftspreis des Landes Steiermark: Digitalisierung in der Wissenschaft“. Mithilfe des von seiner Gruppe mitentwickelten BCI können motorisch schwer Beeinträchtigte unter kontrollierten Laborbedingungen bereits wieder einfache Bewegungen mit der Hand ausführen.

2017 wurde der Grazer Forscher mit dem Ludwig-Guttmann-Preis der Deutschen Gesellschaft für Rückenmarksverletzungen ausgezeichnet. Ab 2015 leitete er das mit zwei Millionen Euro dotierte, jüngst abgeschlossene ERC-Projekt „Feel your Reach“ des Europäischen Forschungsrats. Müller-Putz ist zudem Gründungsmitglied der Internationalen BCI Society.

Bewegte Freizeit

Müller-Putz hat mehr als 180 Publikationen und noch einmal so viele Konferenzbeiträge verfasst, 2018 wurde er in den Vorstand der Internationalen BCI-Society gewählt. Dennoch bleibe genug Zeit für Freizeit. Diese verbringt er am liebsten bewegt: In den Bergen, am Wasser oder beim Segelfliegen. Bewegung steht auch am Anfang des Arbeitstages, den er mit einer Radfahrt zum Arbeitsplatz beginnt. Damit am Ende des Tages das Forscherhirn besser abschalten kann, greift er gerne zu nordischen Krimis. Gernot Müller-Putz ist mit der Autorin Eva Putz verheiratet. Die beiden haben zweimal Nachwuchs bekommen – dieser ist bereits im Jugendlichen-Alter.

"Feel your Reach"

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