Chemie-Nobelpreisträger Martin Karplus 94-jährig gestorben
Der in Österreich geborene, von den Nazis in die USA vertriebene Chemie-Nobelpreisträger Martin Karplus ist tot. Er starb am 28. Dezember im Alter von 94 Jahren "friedlich in seinem Haus in Cambridge" (US-Bundesstaat Massachusetts), teilte seine Familie in einem Nachruf mit. Karplus erhielt 2013 gemeinsam mit Michael Levitt und Arieh Würstel den Nobelpreis für bahnbrechende Arbeiten zur Entwicklung universeller Computermodelle für die Voraussage chemischer Prozesse.
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Seine reservierte Haltung zu Österreich hat der Spross einer jüdischen Medizinerfamilie, der 1938 als Kind aus seiner Heimat fliehen musste, nie aufgegeben. Die Annäherungsversuche des Landes und seiner Repräsentanten nach der Zuerkennung des Nobelpreises hatte der an der Harvard University tätige Professor für theoretische Chemie stets als "ein wenig spät" empfunden. Dennoch empfand er Österreichs Einladungen und Ehrungen des US-Chemikers "gut für die Versöhnung".
Spross einer jüdischen Medizinerfamilie
Karplus wurde am 15. März 1930 in Wien geboren und wuchs in Grinzing auf. Sein Großvater Johann Paul Karplus war Professor an der Medizin-Fakultät der Uni Wien und an der Entdeckung der Funktion des Hypothalamus beteiligt. Sein Großvater mütterlicherseits, Samuel Goldstern, betrieb eine auf Rheuma-Behandlungen spezialisierte Privatklinik. Auch er sollte Arzt werden, doch die Nationalsozialisten und der Antisemitismus im Land machten alle Pläne zunichte.
Bereits wenige Tage nach dem "Anschluss" musste Karplus zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder Robert Österreich in Richtung Schweiz verlassen. Die Flucht ging dann weiter nach Frankreich. Sein Vater wurde in Wien inhaftiert, konnte aber einige Monate später ausreisen und mit der gesamten Familie in die USA emigrieren.
PhD bei Linus Pauling
In den USA hatten sich Karplus' Interessen geändert: Statt Medizin studierte er Chemie, zunächst ab 1947 an der Harvard University und später am California Institute of Technology (Caltech), wo er beim zweifachen Nobelpreisträger Linus Pauling seinen PhD machte. Anschließend forschte er als Postdoc zwei Jahre in Oxford (Großbritannien), bevor er in die USA zurückging und zunächst an der University of Illinois und dann an der Columbia University arbeitete.
1966 kehrte Karplus als Professor an die Harvard University zurück, wo er bis ins hohe Alter wissenschaftlich tätig war. So veröffentlichte er kurz vor seinem 90. Geburtstag Arbeiten über die Entwicklung von Computer-Modellen für mögliche HIV-Impfstoffe oder die Erforschung sogenannter Motorproteine und arbeitete mit Unterstützung der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung an einem dauerhaften universellen Impfstoff gegen Grippe. Der frankophile Wissenschafter erfüllte sich 1992 seinen Lebenstraum und begann in Frankreich zu arbeiten: Er wurde Dozent und später Professor an der Universität Straßburg und lebte abwechselnd in Cambridge und Straßburg.
"Wissenschafter mit Zug zum Tor"
2013 wurde Karplus mit seinen US-Kollegen Levitt und Würstel mit dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnet. Die Preisträger hätten das "Chemie-Experiment in den Cyberspace gebracht", so das Nobelpreiskomitee. Schüler beschreiben ihn als "immens intellektuellen Menschen" und "Wissenschafter mit dem richtigen Zug zum Tor". Seine Arbeiten hätten zu wichtigen Forschungswerkzeugen geführt, die überall auf der Welt verwendet werden.
Karplus selbst bezeichnete die offizielle Begründung des Nobelpreiskomitees ("für die Entwicklung von Multiskalenmodellen für komplexe chemische Systeme") nicht als wichtigsten Teil seiner Arbeit. Vielmehr sei die von ihm und seinen Kollegen entwickelte Simulation molekularer Dynamik zentral für Biologie und Chemie und "hat uns wirklich das Gefühl gegeben, wichtig zu sein, das andere ist nur ein kleiner Aspekt".
"Ich bin Amerikaner"
Die Reaktionen in Österreich auf die Zuerkennung des Nobelpreises stießen Karplus sauer auf: "Es sieht so aus, als würde ich erst seit drei Tagen existieren", sagte er wenige Tage nach der Preis-Bekanntgabe zur APA. Er hatte das Gefühl, dass das Land "ein Drittel meines Nobelpreises für sich reklamiert, indem es mich als Österreicher darstellt". Der Chemiker, der irgendwann darauf kam, dass er noch immer die österreichische Staatsbürgerschaft hatte, fühlte sich dagegen nicht einmal als Austro-Amerikaner, "ich bin Amerikaner".
Seine Reaktion war nicht weiter verwunderlich. Selbst als er längst Weltgeltung als Chemiker hatte, fand es keine österreichische Uni oder Einrichtung wert, ihn irgendwie zu würdigen. Erst nachdem er den Nobelpreis bekommen hatte, bemühte man sich in Österreich um eine Annäherung. Das gipfelte 2015 in der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der Akademie der Wissenschaften (ÖAW), eines Ehrendoktorats der Uni Wien sowie des Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst, der höchsten Auszeichnung des Staates auf dem Gebiet Wissenschaft und Kunst. All das sei "sehr nett, vielleicht ein wenig spät. Es wäre besser gewesen, all das wäre vor meinem Nobelpreis passiert", meinte er damals.
Leidenschaft für Wissenschaft, Fotografie und Kochen
Die Forschung bestimmte das Leben des Vaters von drei Kindern nicht alleine: "Wissenschaft, Fotografie und Kochen sind meine drei Leidenschaften", sagte Chemie-Nobelpreisträger Martin Karplus anlässlich seines 90. Geburtstags zur APA. So zeigen seine Fotografien eine völlig andere Seite des Wissenschafters, zu sehen waren sie auch schon an zahlreichen Orten. Karplus erhielt 1953 zu seiner Promotion von seinen Eltern eine Leica-Kamera geschenkt. Dies war der Beginn seiner Leidenschaft für das Fotografieren.
Den Chemiker begleitete auch ein lebenslanges Interesse am Kochen und er arbeitete sogar in einigen der besten Restaurants in Spanien und Frankreich wie El Bulli, Arzak, Les Freres Troisgros, Taillevent oder Robuchon. Diesen jeweils zwei bis drei Wochen in der Küche, in denen er als Urlaubsersatz von Köchen tätig war, widmet er auch das Kapitel "My Life as a Chef" (Mein Leben als Koch) seiner Autobiografie, die 2020 unter dem Titel "Spinach on the Ceiling: The Multifaceted Life of a Theoretical Chemist" erschien.
Widerwillen gegenüber Spinat
Bereits 2006 war unter dem Titel "Spinach on the Ceiling" - eine Erinnerung an Karplus Kindheit in Wien, als er seinen Widerwillen gegenüber Spinat eindrucksvoll, nämlich bis zur Decke schleudernd, unter Beweis stellte - eine 50-seitige Publikation im Fachjournal "Annual Review of Biophysics and Biomolecular Structure" erschienen, damals noch mit dem Untertitel "A Theoretical Chemist's Return to Biology". In der Autobiographie schilderte er umfassender sein privates und sein wissenschaftliches Leben.
2022 erschien dieses Buch im Verlag der ÖAW in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Facetten meines Lebens". Zu diesen Facetten, mit denen er nach eigenem Bekunden Schwierigkeiten auf seinem Lebensweg überwinden konnte, zählte er "Optimismus, Selbstvertrauen und manchmal Glück".
In dem Buch fragte er sich auch, wie sein Leben wohl ausgesehen hätte, wenn er in Wien geblieben wäre. Vielleicht hätte er auch Forschung betrieben, "aber vermutlich hätte ich nicht den gleichen Antrieb gehabt, etwas Besonderes zu erreichen, wie ich ihn als Ausländer in den Vereinigten Staaten verspürte. Dass ich ein Flüchtling war und nicht ganz dazugehörte, spielte für meinen Blick auf die Welt und meine Herangehensweise an die Wissenschaft eine zentrale Rolle. Es trug zu der Erkenntnis bei, dass ich die Arbeit in Fachgebieten, die ich nach meinem eigenen Gefühl verstand, getrost einstellen konnte, um mich stattdessen auf andere Forschungsgebiete zu konzentrieren und Fragen zu stellen, durch die ich und andere etwas Neues lernen konnten."
Bundespräsident und ÖAW-Chef trauern
Bundespräsident Van der Bellen bezeichnete Karplus in einer ersten Reaktion als "prägende Gestalt der theoretischen Chemie", er sei aber auch "ein wichtiger Zeitzeuge österreichischer Zeitgeschichte gewesen". Dass er bereits als Kind mit seiner Familie unter schrecklichen Bedingungen vor den Nationalsozialisten aus Wien fliehen musste, sei eine Erfahrung gewesen, die ihn sein Leben lang prägte. "Seine nicht unversöhnliche aber kritische Haltung gegenüber Österreich, diese kluge und erfahrene Stimme - all dies wird uns fehlen", so das Staatsoberhaupt.
Für ÖAW-Präsident Heinz Faßmann ist der Tod von Martin Karplus "ein großer Verlust für die Akademie, für die Wissenschaft und für unser Land". Er bezeichnete Karplus als "exzellenten Wissenschafter", der mit vielen vertriebenen Forschern "das Schicksal teilt, dass man sich erst wieder an ihn erinnerte, als sich der Erfolg einstellte. Dennoch blieb Karplus in Verbindung zu Österreich und stellte sich etwa auch für das Zeitzeugenprogramm an österreichischen Schulen zur Verfügung. Diese versöhnliche Haltung kann nicht hoch genug wertgeschätzt werden".
Service - Nachruf der Familie: https://go.apa.at/UHNwcjLm
Mitteilung der Harvard-University: https://go.apa.at/x9UrTgRh