#CoronaAlltag: Die Selbstverständlichkeit aufgeben
In meinem Forschungsbereich, der Intensivmedizin, beschäftige ich mich mit Blutgerinnungsstörungen, sowie der Entstehung von Infektionen auf der Intensivstation. Gerade jetzt ist das öffentliche Interesse an dem Fachgebiet groß. Noch nie zuvor war einer breiten Bevölkerung bewusster, welche Rolle dieser aufwendigste, existenzielle Bereich der modernen Medizin in der gesundheitspolitischen Versorgungslandschaft einnimmt.
Gerade jetzt bin sehr stolz auf die wissenschaftliche Community, die nicht nur als BeraterInnenstab der Bundesregierung fungiert, sondern auch aktiv daran mitwirkt, intensivmedizinische Maßnahmen einer großen Zahl an Menschen zugänglich zu machen. Im Speziellen fallen mir hier das MIT in Boston ein, das relativ früh die Baupläne für ein einfaches Beatmungsgerät online stellte, das man aus einfachen Mitteln für unter 100 Euro fertigen konnte. Oder auch die "Maker"-Community in Österreich, die mit ihren 3D-Druckern begann Beatmungsfilter und Adapter zu drucken, um möglichen Lieferengpässen vorzubeugen.
Für uns alle stellt die derzeitige Situation auf vielen Ebenen einen Ausnahmezustand dar. Im Normalfall bestehen große Teile des Arbeitsalltages eines Wissenschaftlers daraus Fachliteratur zu lesen, Förderanträge zu schreiben, Experimente durchzuführen, diese auszuwerten und deren Ergebnisse in Artikeln zusammenzufassen oder auf Tagungen zu präsentieren. Natürlich im ständigen Austausch mit ArbeitskollegInnen und Kollaborationspartnern. Und genau da wird es schwierig. Alle Konferenzen wurden abgesagt, Experimente auf unbestimmte Zeit verschoben und Meetings finden nur mehr online statt. Somit widmet man sich ganz seinen Anträgen, den bereits vorliegenden Ergebnissen oder schreibt endlich den Fachartikel, der schon seit einem Jahr auf dem Schreibtisch liegt. Dann, um 10 Uhr online Meeting. Hier ergeben sich oft skurrile Situationen. Mittlerweile kenne ich nicht nur die Behausungen, sondern auch die Haustiere meiner Arbeitskollegen persönlich. Angefangen hat alles, als in einer besonders kritischen Phase des Meetings plötzlich eine der Katzen der Kollegin ihrem Geltungsdrang Luft verschaffte und die Online-Sitzung an sich riss. Das konnte der Rest der Runde nicht so stehen lassen und schon wurden alle Haustiere einzeln vorgestellt.
Was andere Aspekte des derzeitigen Arbeitslebens angeht, so wurden die meisten Forschungslabors auf einen Notbetrieb heruntergefahren. Viele Arbeiten müssen dennoch durchgeführt werden, die Kommunikation erfolgt hier über Telefon, Videokonferenz und Textnachrichten.
In mitten der Nachrichtenflut erhielt ich zwischendurch auch eine Nachricht von Giacomo, einem ehemaligen Arbeitskollegen aus Mailand, im Herzen der Lombardei. Giacomo arbeitete als Intensivmediziner in einem der dortigen Krankenhäuser. Jede einzelne seiner Nachrichten war immens wertvoll. Wusste ich doch, dass es hieß, er hatte eine seiner wenigen Pausen, in denen er seine Schutzausrüstung ausziehen konnte, dafür genutzt, unserer Gruppe über die Arbeitsbedingungen, bzw. auch das klinische Bild seiner COVID-19 PatientInnen zu berichten. Seine Schilderungen flossen auch in die Vorbereitungen und den Umgang heimischer Häuser mit der Logistik und die Arbeitsabläufe in der Krisenzeit ein. In den letzten Wochen konnte man vieles über unsere Gesellschaft und den Umgang jedes einzelnen mit dieser Ausnahmesituation lernen. Ein ähnliches Verständnis dafür, dass einfach nichts mehr selbstverständlich ist, habe ich bislang noch nicht erlebt und ich wünsche uns natürlich sehr, schrittweise in eine Normalität zurückkehren zu können. Auch wenn es mittlerweile schon abgedroschen klingt, am Ende sitzen wir alle im selben Boot.
Zur Person: Johannes Zipperle ist Molekularbiologe mit dem Forschungsgebiet Intensivmedizin und am Ludwig Boltzmann Institut für Experimentelle und Klinische Traumatologie tätig. Er war lange im Rettungsdienst tätig und ist darüber hinaus er Experte für Public Health und das österreichische Gesundheitswesen.
Service: Dieser Gastkommentar ist Teil der Rubrik "Corona - Geschichten aus dem Krisen-Alltag" auf APA-Science: http://science.apa.at/CoronaAlltag. Die inhaltliche Verantwortung liegt beim Autor/der Autorin.