Bildung bremst weniger - Forscher heben Weltbevölkerungsprognose an
Unter dem "realistischsten" Szenario für die gesellschaftliche, wirtschaftliche und Klima-Entwicklung der Erde würde um das Jahr 2065 die Zehn-Milliarden-Menschen-Grenze überschritten. Das ist ein Ergebnis neuer, umfassender Prognosen von österreichischen Demographen. Bis zum Jahr 2100 gebe es demnach nur einen leichten Rückgang. Das liege vor allem daran, dass ein insgesamt höheres Bildungsniveau die Geburtenzahlen in einigen Weltregionen weniger drückt als erwartet.
In ihrem Arbeitspapier haben die Wissenschafterinnen und Wissenschafter des Internationalen Instituts für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien und vom Wiener Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital (WIC) ihre bereits im Jahr 2013 erstellte Prognose zur Entwicklung der Weltbevölkerung nach 2018 zum zweiten Mal überarbeitet. In der kürzlich erschienenen, kurz "WIC2023" betitelten Arbeit wurden neue Bevölkerungs-, Bildungs- oder Migrationsdaten sowie auch Effekte der Covid-19-Pandemie oder des Ukraine-Krieges eingearbeitet.
Bei den Berechnungen orientiert sich das Team an den sogenannten "Shared Socioeconomic Pathways" (SSPs) in denen der Weltklimarat (IPCC) verschiedene Entwicklungswege bis zum Jahr 2100 beschreibt, die dann zu unterschiedlichen Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre führen. In der Arbeit geht man von dem aus heutiger Sicht wahrscheinlichsten Szenario - genannt "Mittelweg", "Fortführung der bisherigen Entwicklung" oder "SSP2" - aus, bei dem sich die Einkommensverteilung weltweit weiter auseinander entwickelt, die internationale Kooperation sich nur geringfügig verbessert, sich die Umweltsituation entsprechend weiter verschlechtert und die Weltbevölkerung moderat wächst. Allerdings: Es gibt auch andere Szenarien, in denen die Welt etwa auf dem "fossilen Weg" bleibt, was eine deutlich stärkere Erderhitzung und eine entsprechend markante Abnahme der Weltbevölkerung bedeuten würde.
Abgeschwächte, aber lange anhaltenden Zunahme der Bevölkerung
Laut den Demographen würde es unter der SSP2-Annahme ausgehend von den aktuell geschätzten etwas über acht Milliarden Menschen weltweit zu einer sich zwar abschwächenden, aber lange anhaltenden Zunahme der Bevölkerung kommen. Im Zeitraum 2065 bis 2070 würden der Prognose zufolge erstmals knapp mehr als zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben. Seinen Höhepunkt erreicht die Entwicklung demnach zwischen 2080 und 2085 mit rund 10,13 Mrd. Erdenbürgern. Bis zum Ende des Jahrhunderts sei dann mit einer Abnahme auf rund 9,88 Mrd. Menschen zu rechnen. Asien hätte dann knapp 4,5 Mrd. Einwohner, Afrika über 3,5, Europa läge bei 671 Millionen, Latein- und Nordamerika bei 669 bzw. 450 Mio und Ozeanien bei 62 Millionen.
Damit liegen die Werte ein gutes Stück über der Prognose aus dem Jahr 2013 ("WIC2013") als man von einem weltweiten Allzeithoch um 9,4 Mrd. um das Jahr 2070 und rund 8,9 Mrd. Menschen um 2100 ausging. In der Überarbeitung "WIC2018" lag man mit einem Höhepunkt von 9,7 Mrd. um 2070 und rund 9,3 Mrd. Menschen am Jahrhundertende schon etwas höher.
Die Analyse von vor zehn Jahren basierte vielfach noch auf Statistiken aus dem Jahr 2010. Es war also durchaus an der Zeit für eine grundlegende Überarbeitung, so die Leiterin des "Population and Just Societies"-Programmes (POPJUS) des IIASA, Anne Goujon, im Gespräch mit der APA. Seither habe etwa der Klimawandel deutlich Fahrt aufgenommen, dazu kamen neue Kriege und Unruhen, die die Migrationsströme veränderten, und nicht zuletzt die Covid-19-Pandemie, die eine weltweit spürbare Übersterblichkeit mit sich brachte. In den neuen Langzeit-Berechnungen ist aber selbst Covid nur eine kleinere Delle in der nach oben zeigenden Gesamtentwicklung. Die Lebenserwartung nimmt seitdem wieder zu, betone Goujon.
Deutlicher Unterschied zu früheren Prognosen
Die relativ großen Unterschiede zu den früheren Prognosen erklären sich vor allem darin, dass in vielen Ländern des Südens die Kindersterblichkeit glücklicherweise stärker als erwartet reduziert werden konnte. Zum Beispiel im südlichen Afrika ist dies "das Resultat von Impfkampagnen, internationaler Hilfe und verbesserter Hygiene", so die Demographin. Dazu komme, dass man eigentlich davon ausging, dass die Geburtenraten mit dem tendenziell steigenden Bildungsniveau in vielen dieser Staaten stärker zurückgehen würden als zuletzt beobachtet. In manchen Ländern habe sich hier wenig verändert: "Das haben wir nicht vorhergesehen." So wurde etwa in Pakistan 2017 zum ersten Mal seit den 1990ern eine Volkszählung durchgeführt - mit dem Ergebnis, dass man die Annahmen zur dortigen Bevölkerung bis 2100 gleich um ganze 150 Millionen anheben musste, auch weil die Geburtenraten dort kurz sogar hinaufgingen.
Die Mechanismen dahinter sind vielfach noch unklar: So könnte es sein, dass sich der Effekt erst verzögert einstellt. Wenn etwa viele Frauen zwar im Schnitt mehr Bildung erfahren, dann aber keine adäquaten Arbeitsstellen finden, führt das vielleicht wieder dazu, dass sie in traditionellen Strukturen mit vielen Kindern landen, so Goujon. Spekuliert würde auch über kulturelle Faktoren, wie sich persistent haltende Vorstellungen zur idealen Kinder-Anzahl - "ich bezweifle das aber", sagte die Forscherin, die mittelfristig auch mit einer Abnahme der Fertilitätsrate im globalen Süden rechnet, von der man aber noch nicht sagen könne, wie schnell sie vonstatten geht.
Vorausgesetzt die Erderhitzung macht viele Gegenden nicht mehr oder weniger unbewohnbar, stehen die Zeichen nun darauf, dass die Erde zumindest einige Zeit mehr als zehn Milliarden Leute beherbergt. Das alleine sei kein Anlass zur Panik, erklärte die Forscherin: "Ich fürchte mich nicht vor der Anzahl an Menschen sondern davor was sie tun." Wenn es die Welt bis dahin hinbekomme, nachhaltiger, innovativer, gemeinschaftsorientierter und umweltbewusster zu leben, sei das machbar. "Ich glaube an die Intelligenz des Menschen", so Goujon.
Service: Arbeitspapier online: https://pure.iiasa.ac.at/id/eprint/19487/1/WP-24-003.pdf; Online-Datenset: https://zenodo.org/records/10618931; Daten- und Visualisierungstool: https://dataexplorer.wittgensteincentre.org/wcde-v3/)