Ende der Ostalpen-Gletscher als große Herausforderung für Forschung
Das beispiellose Tempo der Gletscherschmelze in den Ostalpen hat in den vergangenen drei bis vier Jahren dazu geführt, dass die einst massiven Eiskörper nahezu vor den Augen der Forscher zerbröseln. Dementsprechend braucht es neue Messmethoden, um Modelle zu erstellen, die diese völlig neue Entwicklung abbilden können. Die Gletscherforschung in Österreich steht vor vielen Herausforderungen, die mit dem aktuellen Personalstand schwer zu bewältigen sind.
Die Gletscher schmelzen mittlerweile "von allen Seiten", erklärte die Glaziologin Andrea Fischer vom Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Innsbruck bei einer Begehung des Jamtalferners mit der APA. Letzterer wird in rund zehn Jahren größtenteils nicht mehr vorhanden sein.
Eisreste gibt es in den Ostalpen gegen 2050 voraussichtlich nur noch in Schattenlagen in sehr hoch gelegen Gebieten. Damit ist das prognostizierte Ende der Gletscher um rund 50 Jahre nach vorne gerückt.
Das macht die Arbeit auch ein Stück weit zu einem Kampf gegen die Zeit. Und das bei steigenden Anforderungen, denn alleine die Zeit für die notwendigen Messungen habe sich vervielfacht. "Wir haben die dreifache Abflussmenge und den entsprechenden Aufwand", so Fischer.
Längenänderungen seit 1891 systematisch dokumentiert
Die grundsätzlichen Messmethoden der Gletscherforschung gehen noch auf das ausgehende 18. Jahrhundert zurück. Seit 1891 werden die Längenänderungen in Österreich systematisch dokumentiert, seit 1952 die Oberflächenmassebilanzen - also die Veränderungen der Eismassen, die an den Gletscheroberflächen gemessen werden. "Beide Methoden sind mittlerweile unzureichend", betonte Fischer.
Die Gesamtschmelze wird damit nicht mehr abgebildet, weil eben der Zerfall von allen Seiten um sich greift. So bleiben aktuell Fragezeichen zu den echten Abgängen. Dazu kommt die Frage, wie sich die rasch frei werdenden Flächen entwickeln. Wie sie von der Vegetation in Beschlag genommen werden sowie wie und ob sie dadurch stabilisiert werden.
Auch die Fragen zu dem wenigen zurückbleibenden Eis sind vielfältig. So weiß man nicht, welche Rolle Eisreste, die unsichtbar unter Schutt verborgen sind, bei Hangrutschungen spielen können. Auch zur Bildung unterirdischer Blasen aus Schmelzwasser, die rasch ausbrechen und zu Überschwemmungen im Unterlauf und Muren führen können, gibt es noch viele Fragen. Ebenso gebe es zur Kombination der durch den Gletscherschwund freigelegten Sedimente und die durch den Klimawandel zunehmenden Starkregenereignissen noch vieles zu erforschen, erklärte Fischer.
All das hilft letztlich, die Naturgefahrensituation besser einschätzen zu können. Fischer: "Wir sind mit Prozessen konfrontiert, die noch nie jemand beobachtet hat." Hier müssen auch die Messmethoden in internationalem Verbund entsprechend neu aufgesetzt und angepasst werden.
Forscher erarbeiten grundlegend neues Wissen
Die Alpen sind hier leider "an vorderster Front, weil sie besonders niedrig liegen". Die Expertise, die man sich hier nun erarbeitet, würde später vielerorts gebraucht. Ebenso gilt es jetzt hierzulande besonders altes Gletschereis zu bergen, um es als Klimaarchiv der letzten Jahrtausende und als Zeugen des menschlichen Einflusses über die Zeit hinweg weiter erforschen zu können, auch wenn es nur noch im Labor existiert.
Die Chance, all das zu erfassen, zu verstehen und dann Warnsysteme zu verbessern, bietet sich nur im aktuellen engen Zeitfenster. "Wir wollen die Menschen in den Talräumen rechtzeitig warnen können", betonte Fischer. Dazu brauche es aber Ressourcen abseits der üblichen Forschungsförderschienen, die aufgrund langwieriger Peer-Review-Abläufe nur bedingt für die Arbeit an so schnell fortschreitenden Prozessen ausgerichtet sind.
Es gehe darum, grundlegend neues Wissen zu erarbeiten, um es den Behörden zur Verfügung zu stellen. Angesichts der österreichweit etwa rund 20 Personen, die sich hauptamtlich mit Glaziologie und angrenzenden Themen beschäftigen, sei das eine große Herausforderung. Denn eine der wichtigsten Aufgaben ist auch noch: der Öffentlichkeit ohne Alarmismus bewusst zu machen, wie rasch sich die Gebiete hoch oben verändern.
"Diese Prozesse werden uns in den Tälern betreffen", so Fischer, die im Klimawandel durchaus auch Chancen sieht, "wenn wir es richtig angehen". Angesichts des "großen Gletscherzerfalls" dürfe man nicht die Nerven verlieren und solide an Herangehensweisen für die nächsten Jahrzehnte arbeiten. Angst sollte nicht zum treibenden Faktor in Bevölkerung, Politik und Wissenschaft werden, so die Glaziologin: "Wir haben jetzt die Chance, die Dinge zu erkennen und zum Besseren zu verändern."