"Debatte um Anthropozän macht ökologische Krisensituation sichtbarer"
Der Begriff "Anthropozän" gehört den Naturwissenschaften, so scheint es. Ursprünglich vom Atmosphärenchemiker Paul Crutzen in die Debatte geworfen, sitzt gegenwärtig eine illustre Gruppe von Geologen in der Anthropocene Working Group daran, ihn als stratigraphischen Term zu formalisieren. Umso erstaunlicher ist die Konjunktur des Anthropozäns in Kultur, Kunst und Geisteswissenschaften. In Berlin, Karlsruhe und München haben erfolgreiche Ausstellungen und Kulturveranstaltungen stattgefunden. Am Naturhistorischen Museum in Wien sprengte jüngst die Diskussionsrunde "Das Ende der Natur? Leben im Anthropozän" fast die Kapazitäten des Hauses.
Es scheint also, als wäre "Natur" nicht mehr nur das Thema der Naturwissenschaftler oder des Umweltbundesamts. Vielmehr gewinnt die ökologische Krisensituation, in der sich die Welt befindet, zunehmend an gesellschaftlicher Sichtbarkeit und Dringlichkeit. Das ist mehr, als der gute alte Umwelt-Diskurs je geschafft hat. Während Nachhaltigkeit und Naturschutz lange als Nebenaspekt von Politik gesehen wurden - erst kommen die Arbeitsplätze, dann die Umwelt! - drängen sie jetzt in den Vordergrund nicht nur der öffentlichen Diskussion, sondern auch des individuellen Lebensgefühls. Wir haben das Gefühl, dass wir auf eine schleichende, aber katastrophische Umwälzung des gesamten Lebenssystems der Erde zulaufen.
Mit dem Begriff des Anthropozäns bekommt das Nachdenken über das Verhältnis von Menschen und Natur eine völlig neue Richtung. Der Begriff bringt die Einsicht auf den Punkt, dass der Mensch die gesamte Natur tiefgreifend verändert und damit selbst wie eine Naturgewalt operiert. Damit wird es nötig, grundlegende Kategorien unseres Denkens neu zu fassen: den Menschen selbst, die Natur und nicht zuletzt die Frage des Zusammenlebens - mit anderen Worten: Politik.
Fangen wir beim Menschen an. Lange war er als Wesen gefasst worden, das - im Gegensatz zu Tieren, die an ihre biologische Nische gebunden sind - weitgehend unabhängig von spezifischen natürlichen Umwelten ist. Der Mensch baut sich seine eigene Umwelt durch Veränderung von Landschaften, Städtebau, Technologie, neuerdings auch durch die Digitalisierung. Lange wurde diese Geschichte von der weltverändernden Kraft des Menschen als heroischer Sieg über die Natur, aber auch als Selbstverwirklichung des menschlichen Geists erzählt. Dieses Narrativ ist nicht mehr aufrecht zu erhalten - und das verändert alle Wissenschaften, die etwas mit dem Menschen zu tun haben. Heute muss nicht nur die Geschichte aller Kulturen als Umweltgeschichte neu geschrieben werden, das heißt als dauernde Auseinandersetzung mit der Natur - mit Landschaften, mit Tieren und Pflanzen, mit bestimmten Energieträgern wie Holz, Kohle und Öl. Der Mensch muss auch als Spezies neu in den Blick genommen werden - nämlich als invasive und dominante Art, die die Existenz vieler anderer Lebewesen auf dem Planeten massiv verändert, wenn nicht bedroht. Was ihn von anderen Lebewesen unterscheidet, ist immerhin: Der Mensch hat die Fähigkeit zu wissen, was er tut.
Aber auch der Blick auf Natur ändert sich grundlegend. Lange als "anderes der Kultur" verstanden, als gewaltiger Gegner des menschlichen Überlebenskampfs oder auch als unberührte Wildnis, wissen wir heute, dass die Natur eigentlich nie in einem "natürlichen Gleichgewicht" war, sondern massiven erdgeschichtlichen Umbrüchen unterworfen war und sein wird. Einer dieser Umbrüche, so scheint es, geht nun nicht mehr von Cyanobakterien, Meteoriteneinschlägen oder Plattentektonik aus (um nur einige massive geologische Kräfte zu nennen), sondern eben vom Menschen. Das heißt nicht - wie einige sogenannte Klimawandel-Skeptiker behaupten - dass uns der menschengemachte Klimawandel egal sein kann, weil "die Natur sich halt immer geändert hat". In menschlichen Begriffen gibt es für solche massiven Änderungen des Lebenssystems der Erde nur ein Wort: Katastrophe. Der Erde mag es egal sein, wenn es irgendwann keine Eiskappen an den Polen mehr gibt - uns nicht.
Und so kommen wir zum letzten Punkt: der Politik im Zeichen des Anthropozäns. Die Frage nach einem schonenden Umgang mit der Natur - also mit Landschaften, Wasservorräten, Klima, Artenvielfalt, wichtigen Stoffkreisläufen usw. - muss endlich als existenzielle Grundlage menschlichen Zusammenlebens begriffen werden. Politik kann sich nicht mehr allein darum drehen, wie man vor Ort Emissionen spart, Müll vermeidet, Biotope schont und Ressourcen einspart. Eine sinnvolle Politik der Natur muss immer auch global sein, das heißt sie muss fragen, welche Effekte westlicher Konsum an anderen Enden der Welt hat. Und sie muss darüber nachdenken, welche Folgen die politischen Entscheidungen der Gegenwart für eine Zukunft haben wird, die nicht nur unsere Kinder betrifft, sondern Generationen in hundert Jahren. Man kann sich fragen, ob nicht nur Menschen ein Recht auf Unversehrtheit haben, sondern vielleicht auch Flüsse, Meere und die Atmosphäre. Nicht weil das irgendwie poetisch klingt, sondern weil uns das vor der Katastrophe schützen könnte, die sich unter so harmlosen Begriffen wie "Klimawandel" verbirgt.
Der Begriff des Anthropozäns, das dürfte klar sein, ist nicht, wie manche seiner Gegner behaupten, einfach ein "Pop-Phänomen". Vielmehr ist es Ausdruck für einen dringend nötigen Bewusstseinswandel - in den Wissenschaften, aber auch bei etlichen Menschen, die mit Wissenschaft nichts am Hut haben. So wichtig und verdienstvoll die Arbeit der Anthropocene Working Group ist - eigentlich ist es egal, ob der Begriff in der Geologie formalisiert wird oder nicht. So oder so ist er in der Welt und wird weiter diskutiert werden. Das Gute an ihm ist weniger die These, die er enthält, als die etlichen neue Fragen, die er stellt.