Einwendung und Aufklärung: "Lauter Lügen" von Konrad Paul Liessmann
Die Probleme und Aufregungen unserer Zeit verlangen immer wieder nach Überbau und philosophischer Einordnung. Besser gesagt: Der mediale Diskurs verlangt danach. Konrad Paul Liessmann liefert gerne Orientierung. Der emeritierte Philosophieprofessor der Uni Wien hat sich immer auch als Aufklärer und Einwender verstanden, der vermitteln möchte, was sine ira et studio von diesem oder jenem zu halten ist. Oder was Nietzsche, Kierkegaard oder Plato vermutlich davon halten würden.
In einem Sammelband tischt er nun "Lauter Lügen" auf: über 80 Essays, Kolumnen und Glossen, die zwischen 2016 meist in der "Neuen Zürcher Zeitung" oder der "Kleinen Zeitung" erschienen sind. Die Wahrheit ist dabei nicht immer eine Tochter der Zeit, denn manches sollte Bestand haben, woher der Wind auch weht - Fake News hin, Verschwörungstheorien her. Und doch sei Zeitgenossenschaft kein einfaches Unterfangen und oft nur ein Annäherungsversuch, schreibt Liessmann in seinem Vorwort. "Manchmal erfasst man ja tatsächlich Entscheidendes, manchmal liegt man damit einfach nur daneben. Wer das je aktuelle Geschehen zur Sprache bringen will, ist vor solchen Fehlschüssen nie gefeit."
Parcours durch Fridays for Future, Wokeness, Cancel Culture
Wo der Professor nach seiner heutigen Einschätzung ins Schwarze getroffen und wo er daneben gelegen hat, lässt sich nur raten. Vielleicht würde sein Kommentar über die Sorgen der Jugend ("Besser, als sich auf die Jugend als Gewissen der Welt zu verlassen, ist es jedoch, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen."), vielleicht sein Urteil über die "Fridays for Future"-Demonstranten ("Wer freitags fröhlich demonstriert, anstatt die Schule zu besuchen, betreibt Zukunftsverachtung als Zukunftsrettung.") heute etwas anders lauten?
Jedenfalls absolviert man bei der Lektüre einen kleinen Parcours über wesentliche Stolpersteine der gesellschaftlichen Auseinandersetzung der vergangenen Jahre: Wokeness und Cancel Culture, Vereinfachung der Sprache und Infantilisierung der Politik, Hass im Netz und Gefahren des Digitalen. Liessmann plädiert aus einem gut abgesicherten Kulturkonservativismus heraus für eigenes Denken, aber nicht für Originalität um jeden Preis. Er möchte der Stimme der Vernunft Gehör verschaffen, aber sich auf kein Schreiduell einlassen. Und manchmal verschlägt es ihm fast die Sprache, etwa wenn er von einer Fakultätsmitarbeiterin, die er seit 20 Jahren kennt, ein Schreiben erhält, das mit der Anrede "Sehr geehrt* Liessmann" beginnt - eine Stelle, über die man Tränen lachen kann.
Fazit: Eher Stirnrunzeln als Schmunzeln
Im großen Rest des Buches ist freilich weniger Schmunzeln als Stirnrunzeln angesagt. Liessmann zerpflückt populäre Phrasen ("Erst wenn man sich die Beteuerung, man bewege sich auf Augenhöhe, sparen kann, bewegt man sich auf dieser.") und hinterfragt den Wertewandel: "Die in Zeiten der Klimaveränderung und Umweltzerstörung spürbar gewordene Hinwendung zur Natur korrespondiert so auf paradoxe Art mit dem Willen, am Menschen selbst nichts mehr der Natur zu überlassen."
Liessmann liebt geschliffene Formulierungen. Aber am meisten liebt er Alliterationen. Seine Beiträge heißen "Arme Arbeit" oder "Allerlei Angst", "Billige Bildung" oder "Morsche Metaphern", "Digitale Drogen" oder "Mächtige Moral". Oder eben: "Lauter Lügen". Am Lügner ist übrigens nicht alles schlecht: "Der Lügner hat immer einen Vorsprung: Er kennt auch die Wahrheit."
(S E R V I C E - Konrad Paul Liessmann: "Lauter Lügen", Zsolnay Verlag, 256 Seiten, 26,80 Euro)