#CoronaAlltag: Osterhase statt Osterstau auf Autobahnen
Nein, es ist nicht still. Ein ungewohntes Rauschen erreicht die Ohren, überlagert vom munteren Zwitschern zahlreicher Vögel. Oft schon bin ich hier gestanden, hoch über der Sillschlucht südlich von Innsbruck mit Blick auf die Tiroler Landeshauptstadt im Hintergrund des berühmten Bergisels. Doch noch nie habe ich das Rauschen der Sill tief unten wahrgenommen. Denn der tiefe Einschnitt an der Einmündung des Wipptales in das Inntales wird durch ein Autobahnkreuz, Eisenbahnlinie sowie mehrere Landesstraßen durchzogen. Verkehrslärm dominiert üblicherweise die akustische Wahrnehmung. Nicht nur hier, sondern in vielen Siedlungsgebieten Tirols. Doch jetzt ist er weg. An einem Samstag. Vor Ostern. Keine Autobahnsperre durch lärmgeplagte Anrainer, kein Stau vor der Mautstelle, keine Baustelle, kein Unfall hat ihn zum Schweigen gebracht. Ein Virus wars.
Bereits in den ersten Tagen nach Bekanntwerden der sogenannten "verkehrsbeschränkenden Maßnahmen" Mitte März in einigen europäischen Ländern haben sich Verkehrswissenschaftler mit der Frage beschäftigt, welche Auswirkungen dieses zwangsweise veränderte Mobilitätsverhalten auf das Verkehrsgeschehen und die Umwelt haben könnte. Spannend ist hierbei vor allem die Frage, welche Verhaltensweisen auch nach einer schrittweisen Rücknahme der Maßnahmen von der Bevölkerung beibehalten werden. Sind physische Treffen wirklich unabdingbar, um wöchentliche Aufgaben im Team zu verteilen, Finanzberichte durchzugehen oder Dokumente Korrektur zu lesen? Muss ein Spaziergang unweigerlich mit einer Autofahrt beginnen oder gibt es nicht auch im näheren Wohnumfeld Gelegenheiten, um dem Bedürfnis nach Bewegung und Natur nachzukommen? Ist der Zwang nach dem immer spektakuläreren Urlaubs-Selfie vom möglichst abgelegensten Punkt der Erde wirklich unaufhaltbar? Dreimal nein. Es geht auch ohne. So die Vermutung. Aber stimmt das auch?
Verkehrswissenschaftler wie Raumplaner weisen seit Jahren verstärkt darauf hin, dass die durch Maschinen und Energieaufwand ständig beschleunigte Überwindung von Distanzen zu fatalen Auswirkungen auf Natur und Raum führen, gleichzeitig aber auch die Gesellschaft immer verwundbarer machen. Landschaften veröden, Meere verschmutzen, giftige Abgase und Menschenmassen prägen urbane Räume. Doch Mitte März 2020 wird weltweit plötzlich die Stopp-Taste gedrückt. An die 2,5-3 Milliarden Menschen sind von Ausgangssperren betroffen, in fast allen Ländern gelten massive Einschränkungen der Reisefreiheit insbesondere bei Grenzübertritten. Und nun? Hasen hoppeln an den üblicherweise stärksten Reisetagen des Osterverkehrs über Österreichs Autobahnen, Start- und Landebahnen auf Flughäfen dienen als Parkplätze für Flugzeugflotten, Satelliten registrieren Luftschadstoffverringerungen in noch nie bislang erkennbaren Ausmaßen. Ist die Corona-Pandemie somit die natürliche Antwort auf die maschinenbasierte Gesellschaft wie in einem Essay von Peter Weibel im Standard vom 5.4.2020 beschrieben?
Bereits wenige Tage nach In-Kraft-Treten der österreichweiten Ausgangsbeschränkungen war vom VCÖ ein langfristig verändertes Mobilitätsverhalten angekündigt worden (ORF, 22.3.2020). Virtuelle Mobilität wird physische Mobilität ersetzen, Skepsis in der Bevölkerung zu Fernreisen wird bleiben, auch über die Zeit der geltenden Maßnahmen hinaus. Der Optimismus mag zu einem gewissen Teil der berechtigten Hoffnung auf Verhaltensänderung geschuldet sein, muss umgekehrt aber auch aufgrund mehrere gegenteiliger Fakten kritisch hinterfragt werden.
Beispiel Tourismus: kaum eine andere Branche hat in den letzten Jahren gelernt, mit Terroranschlägen, Naturkatastrophen und auch früheren Pandemien wie SARS und MERS umzugehen. Die Transport- und Tourismuswirtschaft, aber auch Fahrgäste und Touristen selbst sind zunehmend resilient gegen Katastrophen geworden. Der Reisdrang wird auch weiterhin aufrecht bleiben und durch Unternehmen, die angesichts der momentanen finanziellen Situation auf rasche Umsätze drängen, auch befriedigt werden. Es ist somit realistischer, dass spätestens mit der weltweiten Einführung eines geeigneten Impfstoffes bzw. wirksamer Behandlungsmöglichkeiten Reisebeschränkungen gänzlich aufgehoben und die Reisetätigkeit explosionsartig zunehmen werden.
Ich blicke nochmals hinunter zur Brenner-Autobahn. Ein einsamer LKW fährt Richtung Brenner, vielleicht hat er Süßigkeiten für die nahenden Osterfeiertage geladen? 2020 heißt es jedenfalls im Verkehrsfunk: Osterhase statt Osterstauwochende auf Österreichs Autobahnen. Es wird jedoch nicht von Dauer sein.
Zur Person:
Stephan Tischler ist Verkehrswissenschaftler an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Ziviltechniker für Raumplanung und Raumordnung sowie Naturschutzbeauftragter des Landes Tirol. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Wechselwirkungen von Mobilität, Verkehr und Raumstrukturen insbesondere in Alpinen Regionen, dem Einsatz und Grenzen neuer digitaler Technologien im Verkehrswesen sowie Bewertungsmethoden und Beteiligungsverfahren bei verkehrsinfrastrukturbezogenen Standort- und Trassenauswahlprozessen.
Service: Dieser Gastkommentar ist Teil der Rubrik "Corona - Geschichten aus dem Krisen-Alltag" auf APA-Science: http://science.apa.at/CoronaAlltag. Die inhaltliche Verantwortung liegt beim Autor/der Autorin.
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